Die letzten fünf Jahre waren turbulent, für unser Modellprojekt kiez:story, aber auch für die Welt: globaler Rechtsruck, Klimakrise, Corona, anhaltende Kriege. Für uns Erwachsene waren diese Zeiten oft sehr verunsichernd. Doch gerade die Arbeit mit den Jugendlichen hat uns Zuversicht gegeben. Was wir aus dieser intensiven Zeit mitnehmen? Hier sind unsere 10 zentralen Erkenntnisse und Forderungen.
1. Unser Credo bleibt: The kids are alright!
Jugendliche haben ein Recht auf politische Bildung. Modellprojekte wie kiez:story sollten keine Ausnahme, sondern das Regelangebot sein. Es benötigt Räume in Schulen und Jugendclubs, um sich mit den eigenen Anliegen auseinandersetzen zu können. Dabei sollten nicht die problematischen Einstellungen der Jugendlichen im Fokus stehen, sondern die eigenen Bedürfnisse und Belange – im Sinne einer empowermentorientierten Bildung.
2. Der Kiez als Ausgangspunkt für politische Bildung
Der eigene Kiez eignet sich wunderbar, um eine Bandbreite an gesellschaftlichen Themen möglichst lebensweltnah zu behandeln. Themen wie Chancengerechtigkeit, Teilhabe oder gesellschaftlicher Wandel, die zunächst abstrakt erscheinen, werden so erlebbar. Dies wurde bei kiez:story im Rahmen von Kieztouren oder auch einer „Shawarma-Jagd“ auf der Sonnenallee sehr erfolgreich erprobt. Also: raus aus dem Klassenzimmer, rein in den Kiez!
3. Essen mit Migrationsgeschichte
Über Geschmack lässt sich zwar streiten, aber über das Lieblingsessen kommt mensch immer ins Gespräch. Gerade bei Themen rund um die Einwanderungsgesellschaft können Esskultur- und gewohnheiten als niedrigschwelliger Einstieg dienen. Schließlich hat selbst die Kartoffel eine Migrationsgeschichte, während der Döner schon vor Generationen eingebürgert wurde. Über das Essen kommen wir auch auf schwierigere Themen zu sprechen: Wieso arbeiten gerade migrierte Menschen in oftmals prekären Verhältnissen, wie z.B. in der Gastronomie oder im Lieferservice?
4. Ich, Krieg, Krise! Multidirektionale politische Bildung
Nur unter Einbezug der Perspektiven der Jugendlichen kann eine inklusive Erinnerungskultur gelingen. Diese schaut nicht nur in die Vergangenheit, sondern ermöglicht auch einen solidarischen Blick in die Zukunft und eine mutige Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Krisen. In Zeiten von Flucht, Terror und Krieg, sowie angesichts der spezifischen deutschen Geschichte, ist das alles andere als einfach. Doch mit ein wenig Zeit, Mut und Vertrauen ist es im Projekt gelungen, einen respektvollen Austausch zwischen unterschiedlich positionierten Jugendlichen zu ermöglichen. Davon können auch einige Politiker*innen lernen.
5. Dokumentationsarbeit: Ran an die Fotokiste!
Auf dem Weg zu einer inklusiven Geschichtserzählung müssen auch marginalisierte Biografien sichtbarer werden. Jugendliche können einen wichtigen Beitrag dazu leisten: Indem sie beispielsweise selbst, mit niedrigschwelligen Methoden der Oral History, in Kiez und Familie dokumentieren und forschen oder sich mit Einwegkameras auf Spurensuche begeben. So entstehen neue Geschichtszeugnisse, die das Fundament einer zeitgemäßen Geschichtserzählung Deutschlands werden können, die Anerkennung und Zugehörigkeit für alle Jugendlichen ermöglicht.
6. Jugendliche sind Expert*innen ihres eigenen Lebens!
Bei kiez:story waren Jugendliche nicht einfach nur Teilnehmende eines Projekts. Ein zentraler Ansatz von kiez:story war es, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen und ihre Perspektiven und Expertisen ernst zu nehmen. Anstatt über sie zu sprechen, sollten sie selbst zu Wort kommen. Gerade für außerschulische Projekte von kiez:story wurde die Mitarbeit der jugendlichen Expert*innen auch in Form von Aufwandsentschädigungen wertgeschätzt.
7. Von „großen“ und „kleinen Pashas“
Was viele Jugendliche beschäftigt, sind die rassistischen Zuschreibungen, mit denen sie konfrontiert sind. Gerade in Neukölln war das in den letzten Jahren deutlich spürbar. Auch hier benötigt es Räume, damit junge Menschen in einem möglichst geschützten Rahmen über ihre Erfahrungen sprechen können. Für pädagogische Fachkräfte ist es wichtig zu verstehen, wie solche Diskurse auf Jugendliche wirken und dass eine weitere Stigmatisierung nicht hilfreich ist, um tatsächlichen Problemen zu begegnen. Ganz im Gegenteil: Ein paar Jugendliche antworten auf die Beleidung „kleiner Pasha“ mit einem demonstrativen „großen Pasha“.
8. Alle Jugendliche haben Migrationsgeschichte
Um weiteren Stigmatisierungen vorzubeugen, war es unser Anspruch, möglichst alle Jugendlichen mitzunehmen, auch wenn es um Themen rund um die Einwanderungsgesellschaft ging. Denn in dieser einen Gesellschaft leben wir alle. Und bei genauerem Hinsehen, gerade wenn wir auch Einwanderungsformen wie Binnenmigration mitdenken, ergibt sich schnell das Bild: Alle Jugendlichen haben eine Migrationsgeschichte.
9. Politische Medienbildung und Social Media
Social Media entfaltet seine eigene Wirklichkeit. Politische Bildung sollte daher versuchen, auch in dieser Sphäre interessante Angebote an Jugendliche zu machen. Wenn es dabei über eine bloße Projektdarstellung für die Öffentlichkeitsarbeit hinausgehen soll, geht das nicht „nebenbei“ und nicht ohne intensiven Einbezug der Zielgruppe. Für zukünftige Projekte haben wir daraus gelernt: ganz oder gar nicht. Ein anderer großer Bedarf, den wir sehen, ist die Förderung einer kritischen Medienkompetenz. Auch das geht nicht nebenbei und muss in nachhaltigen medienpädagogischen Angeboten in den Bildungseinrichtungen verankert werden. Dabei sollte sich politische Medienbildung nicht nur auf „Fake News“ und das problematische Medienkonsumverhalten von Jugendlichen beschränken, sondern auch eine kritisch-differenzierte Auseinandersetzung mit Medien im Allgemeinen fördern.
10. Mitbestimmung, Vertrauen und Freiwilligkeit
Es gibt viele gute Gründe, politische Bildung an Schulen durchzuführen. Zunächst gibt es wohl keinen anderen Ort, an dem die Zielgruppe der Jugendlichen so gut erreicht werden kann. Dass wir auch außerhalb der Schule aktiv wurden, hatte den Grund, dass es gerade bei sensiblen Themen wie der eigenen Familiengeschichte geschützte, bewertungsfreie Räume benötigt. Jugendliche sollten dabei sein, weil sie es möchten, nicht weil sie es müssen. Um diese Motivation herzustellen, konnten die Jugendlichen im Projekt selbst entscheiden, um was es eigentlich gehen sollte. So ein Ansatz lässt sich nicht in einem mehrstündigen Workshop verwirklichen. Oft schlug uns beim ersten Treffen auch großes Misstrauen entgegen. Es braucht auch hier Zeit, um die nötige Vertrauensbasis zu schaffen und mehr langfristige Regelangebote in Schulen und offenen Jugendeinrichtungen aufzubauen.
Das Projekt kiez:story arbeitet zurzeit daran, an Berliner Schulen weiterhin Angebote in Form von Workshops umzusetzen. Zugleich mangelt es in Zeiten des Rotstifts an nachhaltigen Fördermöglichkeiten, um die genannten Learnings und Forderungen adäquat zu realisieren. Unabhängig davon stiften die im Projekt entstandene Handreichung „Multidirektionale politische Bildung in Zeiten von Flucht und Krieg“ sowie unser Fotokatalog „5 Jahre kiez:story“ hoffentlich Inspiration, um einige der entwickelten Methoden und Ansätze gemeinsam mit Jugendlichen zu verwirklichen.
Bildnachweis: © Foto eines jugendlichen Fotografen, das im Projekt kiez:story entstanden ist.