Ein Boxclub, die Weltzeituhr, ein Raucherlokal. Vom Islam erzählen viele Orte in Berlin. Doch nur wenig davon wird in Berliner Schulen behandelt. Der Stadtführer „111 Orte in Berlin, die vom Islam erzählen“ öffnet den Blick und stellt die historischen und gegenwärtigen Verflechtungen der Hauptstadt mit dem Islam dar. Kundig und kurzweilig schildern die Autorinnen Bettina Gräf und Julia Tieke, wo und wie muslimisches Leben in Berlin stattfindet. Dabei weisen sie auch auf so manche blinde Flecken hin. ufuq.de hat sie zum Gespräch getroffen.
Judith De Santis:
Liebe Bettina, liebe Julia – ihr habt den Stadtführer „111 Orte in Berlin, die vom Islam erzählen“ verfasst. Worum geht es?
Bettina Gräf:
Es geht darum, die vielfältigen Verbindungen unserer Stadt mit dem Islam sowie das Berliner muslimische Leben in Geschichte und Gegenwart zu thematisieren. Wir begeben uns dazu in verschiedene historische Phasen, betrachten sowohl Alltagsleben als auch politische Ereignisse und vergessen auch die Teilung Berlins im Kalten Krieg nicht. Dabei schreiben wir in einem dichten und gleichzeitig saloppen Ton.
Judith De Santis:
Wie habt ihr die Orte ausgewählt, die im Buch vorgestellt werden und wie habt ihr euch das Wissen über die Orte angeeignet?
Julia Tieke:
Wir haben auf unterschiedlichen Ebenen recherchiert: Architektur und Ästhetik, Kolonialgeschichte, Rassismus, Forschung und Wissenschaft, jüdisch-muslimische Beziehungen, innermuslimische Vielfalt, um nur einige zu nennen. In Bezug auf den letzten Punkt wollten wir eine Auswahl an Moscheen und Vereinen zeigen, die die konfessionelle, regionale und sprachliche Pluralität von Muslimen in Berlin abbilden: von Indonesien bis Togo, arabisch bis usbekisch, sunnitisch und schiitisch. Aber auch andere Orte des täglichen Lebens, wie Restaurants, Läden, Barbershops, Verlage, Krankenhäuser, Museen, Botschaften, Gärten und Friedhöfe sind für uns Orte, die vom Islam erzählen. Manchmal war das Ganze und manchmal nur ein Detail für uns von Bedeutung, um einen Ort auszuwählen.
Judith De Santis:
Wenn man das Buch liest, merkt man, dass der Islam schon viel länger in Deutschland präsent ist, als man denkt.
Bettina Gräf:
Das stimmt! Insgesamt war es uns wichtig, die tiefe muslimisch-deutsche Verflechtungsgeschichte aufzuzeigen, um der Idee etwas entgegenzusetzen, in Deutschland hätten wir erst seit den 1970er Jahren etwas mit dem Islam zu tun. Dabei haben wir mit vielen Menschen gesprochen, die selbst muslimischen Glaubens sind und/oder sich wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigen. Nach jedem Gespräch, das wir führten, hatten wir neue Orte, die für das Buch in Frage kamen. Schließlich haben es nicht alle Orte ins Buch geschafft, weil wir eine Balance herstellen wollten zwischen verschiedenen geschichtlichen Zeiten und den unterschiedlichen Stadtteilen von Berlin bzw. dem Berliner Umland. Das Buch sollte ja als Stadtführer funktionieren.
Judith De Santis:
Einige Kapitel geben Einblicke in bewegende Lebensgeschichten. Waren die Menschen, die ihr während eurer Recherchen aufgesucht habt, offen gegenüber eurem Buchprojekt und haben ihre Geschichten geteilt? Oder habt ihr auch Zurückhaltung oder Unsicherheit erfahren?
Julia Tieke:
Das war sehr verschieden, es gab Begeisterung und ebenso haben wir Skepsis erfahren. Nach vielen Jahren negativer Schlagzeilen und schlechter Erfahrungen mit der medialen Öffentlichkeit waren einige Menschen, die wir ansprachen, nicht offen dafür, in unserem Buch vorzukommen. Manchmal kam die Frage auf, wer uns finanziert (die Antwort war und ist: Niemand). Es gab auch viele entspannte Reaktionen, nach dem Motto „egal, was ihr schreibt, ich habe meinen Platz in dieser Gesellschaft gefunden.“ Viele Moscheen haben mittlerweile eine professionelle PR mit entsprechenden Strategien, sich öffentlich zu präsentieren. Wir interessierten uns aber tatsächlich mehr für die alltäglichen Geschichten als für Pressetexte. Insbesondere suchten wir das Gespräch mit jungen, aktiven Leuten oder Menschen, die selbstständig arbeiten.
Judith De Santis:
Könnt ihr ein Beispiel nennen?
Bettina Gräf:
Die ostfriesische Friseurmeisterin Achlas Nabha mit eigenem Salon in Alt-Treptow etwa strahlte, als wir fragten, ob sie sich porträtieren lassen würde, und sagte sofort zu (Nr. 27). Die Palästinenserin Wafa Abou-Shewarib, die kurz nach dem Mauerfall als junge Frau nach Berlin gekommen war, zögerte zunächst, ihr unabhängiges Reisebüro vorstellen zu lassen (Nr. 80 / Beitragsbild). Nachdem wir zusicherten, dass sie den Text gegenlesen könne und wir ihn gegebenenfalls ändern würden, willigte sie ein – und hatte letztlich nichts zu beanstanden, im Gegenteil. Wir haben einige Texte in diesem Sinne kollaborativ gestaltet und Anregungen sowie Kritik im Schreibprozess eingebaut. Uns war es wichtig, mit dem Buchprojekt transparent zu sein, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen und ihre Zustimmung.
Judith De Santis:
Bei vielen der 111 Orte ist der Bezug zum Islam klar, wie Moscheen oder muslimische Vereine/Kulturzentren in Berlin. Bei anderen sind die Bezüge überraschend, teils kurios. Welche Geschichten haben euch bei der Recherche überrascht?
Julia Tieke:
Vielleicht waren wir selbst nicht so sehr überrascht, als dass wir vielmehr unsere Leserinnen und Leser überraschen und ermuntern wollten, beispielsweise über bestimmte zeitliche, regionale oder konfessionelle Einteilungen und damit verbundene Klischees nachzudenken. Dies ist beim Text über die Weltzeituhr (Nr. 98) oder beim Abdruck einer Textpassage des Schriftstellers und Journalisten Joseph Roth aus dem Jahr 1920 (Nr. 46) oder dem Text über das Marx-Engels-Forum (Nr. 56) der Fall.
Berührt waren wir von der Arbeit Mohammad Imran Sagirs, der Menschen in Berliner Gefängnissen seelsorgerisch betreut (Nr. 69). Überraschend war dabei, dass der Berliner Beirat für die religiöse Betreuung muslimischer Inhaftierter erst 2015 gegründet wurde. Auch die kreative Arbeit gegen viele Widerstände von Juanita Villamor ist bewundernswert. Sie arbeitet in Neukölln für die Dar-Assalam-Moschee (Nr. 22) und verantwortet u.a. die vom Berliner Senat geförderten „Muslimischen DiaLogen“. Wir lernten sie bei der „Denkfabrik für junge Muslime“ in der albanischen Moschee Xhamia Isa Beu (Nr. 100) kennen, und sie machte uns von da an mit vielen Leuten und Projekten in Berlin vertraut, die wir vorher nur vom Hörensagen kannten.
Die historischen Verflechtungen Berlins als Hauptstadt während verschiedener Epochen mit der Politik des Osmanischen Reichs war uns bekannt, und dennoch gab es immer wieder spannende und überraschende Details. Beispielsweise, dass am Rande der Gewerbeausstellung im Treptower Park 1896 die aus heutiger Sicht problematische Sonderausstellung „Kairo“ stattfand, für die ein kondensiertes Kairo als Sammelsurium von großer Pyramide, Palmen, Moscheen und Basaren aufgebaut und von über 400 Menschen, überwiegend aus Ägypten geholt, belebt wurde. Im Viertel südlich des Parks ist keine Spur davon zu sehen, keine Tafel gedenkt dem politisch fragwürdigen Ereignis.
Judith De Santis:
Vorurteile gegenüber dem Islam sind gesellschaftlich immer noch fest verankert. In Kapiteln wie „Der Breitscheidplatz“ oder jenem über das Kabarett-Theater „Die Wühlmäuse“ kommt ihr darauf zu sprechen. Der Stadtführer wirkt daher stellenweise auch wie eine Aufforderung, sich mit der Ausgrenzung von muslimischem Leben auseinanderzusetzen. Wieviel Haltung steckt in diesem Buch?
Bettina Gräf:
Wir wollten mit diesem Buch in erster Linie Wissen vermitteln. Kaum etwas, von dem wir berichten, wird in Berliner Schulen behandelt. Unter anderem erzählen wir von der Moschee- und islamischen Vereinsstruktur in Berlin und Deutschland (z.B. Nr. 61 u. 101). Und ja, wir wollten auch Vorurteile und Ausgrenzungsmechanismen thematisieren. Allerdings ist das gar nicht so einfach, wie es zunächst scheint, weil die Tatsache, ausgeschlossenen zu sein oder auch das Gefühl, nicht dazuzugehören, viele Ursachen haben kann. Es ist aber auch kein Geheimnis, dass wir es in Deutschland mit Islamfeindlichkeit und antimuslimischem Rassismus zu tun haben.
Unsere Antwort auf diese Komplexität ist es, von Verbindungen und Kontexten zu erzählen oder auf blinde Flecken hinzuweisen. Wir zitieren im Text über die Sonnenallee (Nr. 88) einen scharfen, aber aus unserer Sicht treffenden Zeitungskommentar von Behzad Karim Khani, der das Gerede vom „Migrationshintergrund“ kritisiert, wobei als Antwort auf das Label seit einiger Zeit die Bezeichnung „Deutsche mit Nazihintergrund“ kursiert. Einer der vielen roten Fäden im Buch ist deshalb, die deutsche Politik im Hinblick auf den Islam zu betrachten. Sie ist tatsächlich schillernd, changiert zwischen islamophil und islamophob.
Judith De Santis:
Noch zum Schluss: Was ist euer absoluter Lieblingsort und warum?
Julia Tieke:
Es gibt viele interessante Orte im Buch, die Fotografien von Mirka Pflüger zeigen das auch auf eine eigene Weise. Schwer zu sagen, wir nennen zwei, für jede Autorin einen: die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße (Nr. 70), wo wir unter anderem von einer jüdisch-muslimischen Nähe in Berlin vor 1933 erzählen und Bilkiss Creation Multi-Kulture (Nr. 85), eine Schneiderei im Wedding, deren Besitzerin aus Togo stammt, das bis 1916 eine deutsche Kolonie war. Sie näht tolle Kleidung und wir wünschen ihr viele neue Kundinnen und Kunden.
Bildnachweis © Mirka Pflüger/ Schaufenster des Reisebüros El-Bashair
Portraitfoto Bettina Gräf: © Ken Yamamoto
Portraitfoto Julia Tieke: © Mirka Pflüger
Bettina Gräf, Julia Tieke | Mit Fotografien von Mirka Pflüger Erscheinungsdatum: 23. November 2023 | Emons Verlag GmbH