Ambiguitätskompetenz und Selbstreflexion nach dem 7. Oktober: Lehren aus dem Schulalltag für eine polarisierte Gesellschaft
29. September 2025 | Demokratie und Partizipation, Diversität und Diskriminierung, Geschichte, Biografien und Erinnerung

Symbolische Illustration zu Ambiguitätstoleranz / KI-generiertes Bild mit Midjourney

Nach den Terroranschlägen vom 7. Oktober und der eskalierenden Gewalt und Zerstörung in Gaza wird der öffentliche Diskurs von einfachen und eindeutigen Antworten geprägt – doch sie greifen zu kurz. Umso wichtiger wird die Bereitschaft, die eigenen Wahrnehmungen zu hinterfragen und auch mit Mehrdeutigkeiten und Widersprüchen umzugehen, wie Tobias Nolte in seinem Beitrag auch vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen als Lehrer einer sogenannten Brennpunktschule in Berlin-Neukölln deutlich macht.

Wahrscheinlich hat mich nichts mehr gelehrt, als zehn Jahre als Lehrer an einer sogenannten Brennpunktschule zu arbeiten. Ich wuchs in einem Dorf im Thüringer Eichsfeld auf, besuchte ein katholisches Gymnasium, studierte danach Lehramt für Gymnasien und machte mein Referendariat an einem bürgerlichen Gymnasium. Weißes Mittelschichtsgymnasium, soweit mein Horizont reichte. 2013 landete ich durch viele Zufälle als Lehrer in Berlin-Neukölln. Nichts aus meiner Ausbildung oder meiner bisherigen Welt bereitete mich darauf vor, hier ein guter Lehrer zu sein. Meine Normvorstellungen davon, nach welchen Regeln Schule funktioniert und welche Rolle ich darin als Lehrer spiele, wurden vom ersten Tag an aus den Angeln gehoben.

Als Lehrkraft in Berlin-Neukölln: lehren, lernen, neu verstehen

In meinen ersten zwei Jahren erinnere ich mich an meine oftmals verzweifelten Versuche, Fuß zu fassen und mein Verständnis von Schule mit hilfloser Autorität durchzusetzen. Das klappte selten. Das Problem waren nicht die Schüler:innen, sondern ich, der lehren, aber nicht lernen wollte.

Ich hatte das Glück, in engem Austausch mit Kolleg:innen zu sein, von denen ich andere Perspektiven auf unsere Arbeit und unsere Schüler:innen erhielt. Vor allem wurde ich Klassenlehrer und musste mich auf eine für mich neue Art pädagogischer Beziehung und Verantwortung einlassen. Ich verstand, der Ponyhof liegt nicht am Hermannplatz: Die Jugendlichen fordern heraus, weil sie selbst früh herausgefordert werden. Dabei füllen sie oft die Rollen aus, die ihnen zugeschrieben werden. In einer Gesellschaft, die sie immer wieder unter Verdacht stellt, ihnen Nicht-Zugehörigkeit vermittelt und sie zu einem kollektiven Problem erklärt, übernehmen sie ihren Part. Zugleich treffen sie auf Pädagog:innen, die oft aus einem privilegierten, gegensätzlichen Erfahrungsraum kommen. Lehrkräfte, die mit klaren Vorstellungen von gut und schlecht, richtig und falsch, sehr gut oder unbefriedigend an sie herantreten. Und die in einem System arbeiten, das ihrer Sicht auf die Welt Geltung verleiht.

Parallelen zwischen Schule und Gesellschaft

Der Soziologe Aladin El-Mafaalani beschreibt die plurale Gesellschaft und ihre Konflikte in seinem Buch „Das Integrationsparadox“ mit dem Bild eines Tisches, an dem entschieden wird, wie die Dinge laufen. Früher hatten viele gesellschaftliche Gruppen nur Plätze am Boden, während Privilegierte am Tisch saßen und Macht ausübten. Heute steht die Sitzplatzverteilung und damit die Deutungshoheit über unsere Gesellschaft zur Disposition. Genau hierin scheint mir die Parallele zwischen meiner Erfahrung als Lehrkraft an einer sogenannten Brennpunktschule und den Konflikten zu bestehen, die wir aktuell gesellschaftlich verhandeln.

Wie ich in meiner Anfangszeit als Lehrkraft hält die Mehrheitsgesellschaft krampfhaft an alten Hierarchien fest, obwohl die weiße Mittelschichtsrealität längst passé ist. Dieses Verharren auf Deutungshoheit führt unweigerlich zu Konflikten, wie wir sie in vielen sogenannten Brennpunktschulen, aber auch in unserer Gesellschaft beobachten. In beiden Fällen stellt sich die Frage, ob diese Auseinandersetzungen produktiv sind oder sich zu einer immer tiefer gehenden Polarisierung ausweiten, in der ein Miteinander unmöglich wird.

Polarisierung in Zeiten von Gaza

Der 7. Oktober jährt sich bald zum zweiten Mal. Pankaj Mishra stellt in seinem Buch „Die Welt nach Gaza“ die These auf, dass in unserer Zeit der Krisen keine von ihnen an die emotionale Wucht aus Verzweiflung, Trauer und Wut heranreicht, die der 7. Oktober und seine Folgen in der Welt hinterlassen haben. Zum einen wurde jüdische Identität in ihren Grundfesten erschüttert und ein kollektives Trauma neu befeuert. Zum anderen scheitern Worte an dem Versuch, das Ausmaß an Leid zu beschreiben, das der Zivilbevölkerung in Gaza in den letzten zwei Jahren angetan wurde.

Die Positionierung zu diesem Leid zieht heute einen scheinbar unüberwindbaren Graben durch die Migrationsgesellschaft. Die Rollen in diesem Gegeneinander wirken festgeschrieben:

Hier Staatsräson, dort Menschenrechte. Hier der Kampf gegen Antisemitismus, dort der gegen antipalästinensischen und antimuslimischen Rassismus. Hier eine deutsche Erinnerungskultur aus Schuld und Verantwortung für die Shoah, dort eine universalistische Erinnerungskultur mit dem Schwerpunkt auf Kolonialismus. Hier die bedingungslose Solidarität mit Israel, dort das Völkerrecht. Hier das Existenzrecht Israels, dort from the river to the sea. Hier importierter Antisemitismus, dort Silencing palästinensischer Stimmen. Hier das „Nie wieder dürfen jüdische Menschen in ihrer Existenz bedroht werden“, dort „Nie wieder dürfen Menschen in ihrer Existenz bedroht werden“. Hier Zionismus als Befreiung von Unterdrückung, dort als Kolonialverbrechen. Hier Hamas, dort IDF. Hier einzige Demokratie im Nahen Osten, dort Apartheidsstaat. Hier Holocaust, dort Nakba. Hier die Geiseln, dort die getöteten Zivilist:innen. Hier legitime Selbstverteidigung, dort Genozid. Hier Eindeutigkeit, dort Eindeutigkeit.

Und dazwischen kein Raum, keine Graustufen, keine Gleichzeitigkeit.

Ein Kurs zum Nahostkonflikt versucht, Perspektiven zu erweitern

Ich möchte an dieser Stelle nicht vertieft auf all das eingehen, was in Schule, Politik, Medien und Gesellschaft seit zwei Jahren schiefläuft und Menschen ihr Gefühl von Zugehörigkeit zu eben dieser Gesellschaft raubt – das lässt sich sehr gut in Omar El Akkads Buch „One Day, Everyone Will Have Always Been Against This“ nachlesen und auf die deutsche Situation übertragen. Stattdessen will ich über meine eigene Suche nach einer Position sprechen.

Die für mich berührendste pädagogische Erfahrung in zehn Jahren als Lehrer in Neukölln fand 3.600 Kilometer entfernt statt: Ende November 2019 war ich acht Tage mit einer Gruppe von Nord-Neuköllner Schüler:innen in Israel und Palästina unterwegs, vier Tage in Israel, vier Tage im Westjordanland. Der emotionale Höhepunkt ereignete sich in Beit Jala, als über die Hälfte der Gruppe in Tränen ausbrach, als sie die Geschichte des israelischen Vaters Rami Ellanan hörten, der bei einem Terroranschlag seine Tochter verloren hatte. In diesem Moment lösten sich stereotype Vorstellungen über Neuköllner Jugendliche und starre Spektren von Identität und Zugehörigkeit auf. Was den Raum beherrschte, war das reine Mitgefühl junger Menschen.

Dass dieser Moment entstand, ermöglichte ein zweijähriger Kurs, den ich in Zusammenarbeit mit einem Kollegen entwickelt hatte. Er reagierte auf das tiefe Bedürfnis von Neuköllner Jugendlichen, sich mit dem Nahost-Konflikt und mit ihren Emotionen, Fragen und ihrer Betroffenheit auseinanderzusetzen. Dieses Bedürfnis war schon vor dem 7. Oktober 2023 offenkundig. Der Kurs versucht, Perspektiven zu erweitern und der Komplexität des Themas und seiner identitären Bedeutung im Ansatz gerecht zu werden. Er versucht aber auch aufzuzeigen, dass es mehr als zwei Positionen in diesem Konflikt gibt und die Rollen Gut und Böse nicht eindeutig verteilt sind.

Am 8. Oktober 2023 schrieb mir ein Schüler aus dem Kurs um 0:42 Uhr, ob die Israelis durch ihre Besatzungspolitik nicht selbst verantwortlich seien für das, was vor einigen Stunden passiert war. Ich antwortete: „Ich verstehe natürlich den Wunsch der Palästinenser, dass es eine Befreiung von der Besatzung geben soll. Aber hier geht es um Hamas – und ich glaube nicht, dass die ein Interesse an einem  Frieden haben. Was da gerade passiert, besonders mit dieser israelischen Regierung, ist wirklich brandgefährlich, besonders für die Menschen in Gaza und im Westjordanland – und ich hoffe sehr, dass es nicht so schlimm wird, wie ich befürchte.“ Leider ist es noch viel schlimmer gekommen, als ich mir hätte vorstellen können. Den Begriff Genozid habe ich dennoch sehr lange – vielleicht zu lange? – für problematisch und unzutreffend gehalten.

Wer wegsehen kann – und was das bedeutet

Ob das, was in Gaza passiert, ein Genozid ist, entscheiden zum Glück nicht Begriffssetzungen auf Social Media, sondern Gerichte und Wissenschaftler:innen. Ein rechtssicheres Urteil ist wohl frühestens 2026 zu erwarten, die „International Association of Genocide Scholars“ (IAGS), die weltweit größte Vereinigung von Genozid-Forschern, kommt aber schon jetzt zu einem ziemlich eindeutigen Urteil. Ist es in Anbetracht dieses Votums noch an der Zeit, über Begriffe zu diskutieren? Oder sollten wir nicht endlich die Augen öffnen und die Geschichte unseres Schweigens und Wegschauens erzählen?

Die Flut an Bildern und Videos, die das Grauen in Gaza sichtbar machen, muss jeden Menschen zerreißen, der sich ihr aussetzt. Sie hinterlässt das Gefühl, einem immer schlimmer werdenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuzusehen und erzeugt die Dringlichkeit, das Sterben zu beenden. Dieses Anliegen scheint mir ein wichtiges Element der Debatten, die um die Positionierung zum Begriff Genozid analog und online geführt werden.

Doch in welchem Maße setzt man sich diesen Eindrücken aus, wieviel Leid, Schmerz, Grausamkeit und Tod lässt man an sich heran? Das Privileg der Nicht-Betroffenheit erlaubt es oft, Distanz zu wahren. Bis heute schaue ich vor allem dann hin, wenn Bilder durch einen journalistischen Filter gelaufen sind und schon diese Eindrücke zerreißen mich. Wie muss es sich erst anfühlen, wenn die Bilder des Grauens permanent auf einen einprasseln und zu einem fast zwei Jahre andauernden medialen Grundrauschen werden – und man dann diejenigen, die die Augen vor dieser Eindeutigkeit der Grausamkeit verschließen können, von Differenzierung in einer komplexen Situation reden hört?

Beim Lesen von Omar El Akkad wurde mir klar, welchen Eindruck Menschen wie ich auf diejenigen machen müssen, die nicht weiterwischen können oder wollen. El Akkad beschreibt zahlreiche Szenen aus Gaza, die sein Bild davon geformt haben, was dort passiert. Und die in gleichem Maße sein Bild von denjenigen gefärbt haben, die selbst nicht hinschauen, aber relativieren, kontextualisieren, differenzieren. In dieser Logik werde ich als Lehrer, als Teil der Mehrheitsgesellschaft, zur Chiffre für ein Deutschland, das sich die Würde des Menschen in den ersten Artikel seines Grundgesetzes schreibt, aber schweigt, wenn diese genommen wird. Ich werde zur Chiffre für den Westen, der Menschen- und Völkerrecht proklamiert, aber schweigt, wenn genau diese angegriffen werden. Ich werde zur Chiffre für die Deutschen, die sich ihrer Erinnerungskultur rühmen, aber nichts aus ihr gelernt haben. Ich werde zur Chiffre für Heuchelei und Doppelmoral. Nun stellt sich die Frage, wie ich mit diesen Zuschreibungen umgehe: Weise ich sie brüskiert von mir, oder frage ich mich, inwieweit sie einen Punkt treffen?

Räume schaffen, Komplexität zulassen

Wenn wir Verständnis füreinander entwickeln und uns annähern statt entfernen wollen, ist kritische Selbstreflexion Voraussetzung. Eine Reflexion eigener Privilegien und damit einhergehenden Verzerrungen und blinden Flecken in unserem Blick. Als Lehrkräfte wollen wir diese Fähigkeit auch unseren Schüler:innen vermitteln. Das Zauberwort hierfür ist Ambiguitätskompetenz: also die Fähigkeit, Eindeutigkeit infrage zu stellen, Mehrdeutigkeit auszuhalten und nicht das Eine gegen das Andere auszuspielen, sondern Graustufen statt nur Schwarz-Weiß zu sehen. Diese Fähigkeit wünschen wir uns von unseren Schüler*innen.

Wie steht es aber um unser eigenes Bewusstsein für Ambiguität – als Lehrkräfte, als Teil der Mehrheitsgesellschaft, als Nicht-Betroffene, als staatliche Institutionen? Allzu oft nehmen wir einseitige Positionierungen oder problematische Äußerungen wahr. Erkennen wir aber die Verletzungen und den Schmerz dahinter oder gestehen unsere eigenen einseitigen Perspektiven ein? Für wen findet eine Schweigeminute statt und für wen nicht? Wessen Geschichte wird erzählt und wessen nicht? Ohne Antworten auf diese unbequemen Fragen entfernen wir uns weiter voneinander; mit ihnen haben wir die Chance, einen gemeinsamen Blick zu entwickeln, der uns in Anbetracht des Schreckens verbindet.

Die sozialen Medien verhindern diese Annäherung, Rollenkarten sind hier klar verteilt und der Kampf um Deutungs- und Moralhoheit tobt unentwegt. Die Gesellschaft außerhalb des Bildschirms aber braucht Entpolarisierung dringender denn je. Denn auch nach Antworten bleiben Fragen: Lehnen wir antipalästinenschen Rassismus und Antisemitismus im gleichen Atemzug ab? Verurteilen wir Fanatiker:innen auf beiden Seiten – Netanyahu, Smotrich, Ben-Gvir, die Hamas und das iranische Regime? Können wir zugleich solidarisch mit den israelischen Geiseln und der Zivilbevölkerung in Gaza sein? Und was treibt unsere Solidarität an: Identität oder Menschlichkeit?

In diesen Aushandlungsprozessen steckt Sprengkraft – aber auch Potential. Wir müssen aufrichtig und selbstreflexiv diskutieren und gemeinsam aushandeln, wer wir sind. Jedoch verlieren wir gerade das Vertrauen vieler junger Menschen, weil wir Ambiguität nicht aushalten – und tragen so Mitverantwortung, wenn sie sich von uns ab- und den falschen Leuten zuwenden. Islamistische Prediger und andere Polarisierungsunternehmer nutzen den Raum, den wir offenlassen und machen diesen jungen Menschen attraktive Zugehörigkeitsangebote.

Es ist unser Job als Lehrkräfte, Räume für Gespräche über Angst, Trauer, Verzweiflung und Wut zu schaffen. Räume, in denen wir zuhören, in denen auch wir mit unseren Positionierungen hinterfragbar werden und ein Nachdenken darüber anregen, wie eine gemeinsame Welt aussehen könnte. Das braucht es nicht nur in Schulen, sondern auch in unserer Gesellschaft: Räume, in denen nicht vereindeutigt wird, was komplex ist. Und in denen nicht verkompliziert wird, was eindeutig ist.

© Bildnachweis: KI-generiertes Bild mit Midjourney

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