Was ist eigentlich „unerträglich“?
10. September 2024 | Demokratie und Partizipation, Diversität und Diskriminierung, Religion und Religiosität

Symboldbild; Bild: Efrem Efre/pexels

In ihrer äußerst polarisiert geführten Form steht die deutsche Debatte um den Nahostkonflikt und Antisemitismus der von ihr geforderten Verständigung selbst im Weg. Der Blick auf die unterschiedlichen Perspektiven und unterschiedlichen Wahrheiten der Akteure ermöglicht es im Weiteren, einen Schritt zurückzutreten und – über den konkreten Anlass hinaus – Überlegungen anzustellen, wie eine andere Konfliktkultur aussehen kann und wie wir sie erlernen könnten.

In Medien und Alltagssprache werden derzeit alle möglichen Ereignisse als „unfassbar“ tituliert. Im politischen Duktus findet der Begriff eine Entsprechung in der meist mit viel Emphase vorgetragenen Erklärung, diese Position oder jene Verhaltensweise sei „unerträglich“. Diese Tendenz in politischen Auseinandersetzungen zu Skandal und Empörung trägt, meist in Verbindung mit der Abwertung anderer, wesentlich zu allseits beklagten Polarisierungen bei. Daran beteiligt sind gerade auch solche politischen Akteure, die anderen gerne Populismus und Polarisierungen vorwerfen. Das funktioniert etwa so: Die Erklärung, eine bestimmte Position oder Verhaltensform sei „unerträglich“, verzichtet erstens darauf, zu begründen, was genau denn nun so „unerträglich“ sei; zweitens behauptet sie die Höherwertigkeit und Allgemeingültigkeit der eigenen Position; und würdigt drittens Vertreter*innen anderer Positionen in einer Weise herab, die diese aus dem Diskurs und der jeweiligen Wir-Gruppe ausschließt – etwa aus der Gruppe der Zivilisierten, der Deutschen, der Demokratinnen oder der Vernünftigen.

Im Folgenden sollen im Kontext der deutschen Debatte um Nahostkonflikt und Antisemitismus Dynamiken und Muster von Polarisierung skizziert werden. Und es soll nach Formen einer pädagogischen, aber auch politischen Auseinandersetzung gesucht werden, in der die Ambiguität von Wahrnehmungen, Perspektiven und Wahrheiten konstatiert wird – um auf dieser Grundlage Sprechräume schaffen zu können, die Polarisierung und Radikalisierung bis hin zu Extremismus und Gewalt vorbeugen. Am Ende reicht das weit über das hier gewählte Beispiel des israelbezogenen Antisemitismus hinaus: Es geht um die Frage nach Bedingungen und Möglichkeiten diskriminierungssensibler, gemeinsinnorientierter, inklusiver Kommunikation und Auseinandersetzung auch in Konflikt- und Krisenzeiten.

Polarisierung „von oben“

Mit der Sprache fängt es an. So wäre viel schon damit gewonnen, wenn – um nur ein Beispiel aus der Debatte herauszugreifen – Bildungsministerin Stark-Watzinger auf die Frage nach „anti-israelischen und judenfeindlichen Aktionen an deutschen Hochschulen“ nicht gesagt hätte: „Sie sind unerträglich“, sondern formuliert hätte: „Ich finde diese Aktionen unerträglich.“ Schon auf den ersten Blick erkennbar wäre das ein Unterschied ums Ganze. Die Subjektivität der Aussage würde deutlich und die Angesprochenen wären damit nicht gänzlich und vermeintlich objektiv zu Parias gestempelt und ausgegrenzt. Zugegeben: Politik geht anders. Aber so genannte Ich-Botschaften zu formulieren, ist eine fundamentale Regel aus dem Komplex der gewaltfreien Kommunikation, die wir in Pädagogik, politischer Bildung und Präventionsarbeit versuchen, Jugendlichen nahe zu bringen – und von der gelegentlich auch Politik und Medien lernen könnten, wenn sie Polarisierungen tatsächlich entgegensteuern möchten, statt sie „von oben“ selbst zu betreiben oder anzufeuern.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie in den Debatten um den Nahostkonflikt die gewählte Sprache zu Polarisierungen beiträgt, wäre die Hetzjagd, die etwa die BILD auf die weit über 1.000 Professor*innen und Hochschuldozent*innen eröffnet hat („Unitäter“), die anlässlich eines massiven Poizeieinsatzes einen offenen Brief unterzeichneten, der sich gegen eben solche Einsätze auf dem Campus wendete. [1] Vermutlich hatten die Unterzeichnenden die Besetzungen weder für per se „antisemitisch“ noch als bedrohlich für die Universität und jüdische Studierende wahrgenommen. Darüber ließe sich streiten, denn viele jüdische und israelische Studierende sehen sich durch die Wucht vieler propalästinensischer Aktionen und Parolen ausgegrenzt und akut bedroht. Aus Angst meiden viele seit dem 7. Oktober die Universität und Symbole, die auf ihre jüdischen bzw. israelische Herkunft schließen ließen. Nachdenklich stimmt auch, wie Jüdinnen und Juden in Israel, Deutschland und weltweit beschreiben, dass die bei ihnen wach gerufene Erinnerung an Jahrhunderte der Verfolgung nur wenig gewürdigt wurde und wie erschrocken sie darüber waren, dass sich die gezeigte Empathie mit den Opfern des 7. Oktober, ihren Familien und dem angegriffenen Staat nicht nur in überschaubaren Grenzen hielt, sondern vielfach schnell zu einer kontextualisierenden „Ja, aber“-Haltung übergegangen wurde.

Die Unterzeichner*innen eines offenen Briefes gegen Polizeieinsätze auf dem Campus aber, wie in der BILD und andernorts geschehen, mit moralisch aufgeladen und ohne jeden Respekt vor Personen und Perspektiven als „Judenhasser“ und Hamas-Sympathisant*innen an den Pranger zu stellen, ist Ausdruck von Hybris, Ausgrenzung und eines Geistes der Denunziation. In vergleichbarer Weise tragen auch viele der pauschalen Etikettierungen Beschimpfungen und Herabwürdigungen der vor allem von jungen Menschen getragenen Proteste durch Politik und Medien als „unerträglich“ weil „antisemitisch“ nicht zum viel und zurecht geforderten Dialog, zu Selbstreflektion und zur Empathie mit allen Opfern des Konflikts bei, sondern verhindern diese. Pädagogisch gesprochen fördern solche Formen einer „Kommunikation von oben herab“ Ohnmachtsgefühle, Reaktanz und Kampfbeziehungen.

Schon einmal in der Geschichte der Bundesrepublik stand die BILD (zusammen mit anderen) an der Wiege einer Polarisierung, die in Extremismus und Terrorismus mündete. Dies festzustellen, impliziert weder eine Rechtfertigung oder Relativierung von aktuellem Antisemitismus an Universitäten noch der RAF-Morde, sondern ist der Versuch, aus pädagogischer, politisch bildnerischer und präventiver Perspektive medial und politisch betriebene und angefeuerte Eskalationsdynamiken zu beschreiben. [2]

Israelbezogener Antisemitismus oder: Wie wir die Welt sehen

Sprache ist aber längst nicht alles. Denn hinter der Sprache, der wir uns in dieser und anderen Auseinandersetzungen bedienen, stehen Emotionen und die Überzeugung, mittels unserer Sprache die jeweils bessere und richtige Position zu vertreten. Dabei könnten wir eigentlich wissen, dass wir alle die Welt durch sehr unterschiedliche Brillen und aus sehr unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Vor dem Hintergrund unserer Lebenswelten und den darin gemachten Erfahrungen kommen wir zu unterschiedlichen Bewertungen, entwickeln und vertreten unterschiedliche Meinungen und Überzeugungen. Meist ohne dass wir uns dessen bewusst sind, prägen sich Denkmuster, Glaubenssätze oder Weltbilder und Ideologien aus, die uns wiederum die Dinge, die wir sehen, in bestimmter Weise erscheinen lassen. Insbesondere in Transformations- und Krisenzeiten, in denen das Alte nicht mehr funktioniert, das Neue aber noch nicht erkennbar ist (A. Gramsci), führt das beinahe zwangsläufig zu Konflikten und Polarisierungen. In aller Grundsätzlichkeit gelten die Bedingtheiten unseres Denkens und unserer Überzeugungen selbstverständlich auch für Positionen, die wir in den Auseinandersetzungen um den Nahostkonflikt einnehmen. Dass wir das im Zuge der Debatte oft vergessen, trägt wesentlich zur polarisierten Form bei, in der diese meistens ausgetragen wird.

Dies lässt sich anhand der Diskussionen um den so genannten „israelbezogenen Antisemitismus“ nachzeichnen – also der Frage, wann Kritik am Staat und an der Politik von Israel in Antisemitismus kippt, also von einem allgemeinen, weltanschaulich motivierten Hass auf Jüdinnen und Juden geprägt ist: Zwar ist den meisten Beteiligten eigentlich klar, dass es sich hier um eine schwere, nur am jeweils konkreten Beispiel und oft nicht eindeutig zu beantwortende Frage handelt. Weit gehender Konsens besteht auch darüber, dass die Sichtbarkeit von israelbezogenem Antisemitismus zunimmt und dass dieser von vielen Israelis und Jüdinnen und Juden als existenziell wahrgenommenen Bedrohung begegnet werden sollte. Im Eifer der Debatte droht dieser Konsens allerdings gerade unterzugehen. Dazu trägt auch bei, dass sich im öffentlichen Diskurs (neben einer anti-israelischen Stimmung und anti-semitischen Positionen) eine entgrenzte und inflationäre Verwendung des Begriffs vom (israelbezogenen) Antisemitismus konstatieren lässt. Dies stärkt wiederum Ohnmachtsgefühle, Abwehrhaltungen und Verhärtungen derjenigen Menschen, die sich zu Unrecht des Antisemitismus bezichtigt sehen. Im Rahmen dieser Dynamik in der Debatte um (israelbezogenen) Antisemitismus in Deutschland entstehen zwei Lager, die sich scheinbar unvereinbar gegenüberstehen, obwohl doch beide auf einen wahren Kern verweisen können: auf die wachsende Bedrohung durch Antisemitismus einerseits, und auf die Kritik an einer Debatte, die vom Kriegs- und Konfliktgeschehen in Gaza ablenkt, andererseits.

Tatsächlich wird es in der Frage, welche Positionen und Überzeugungen zum Staat Israel und zur israelischen Politik nun antisemitisch sind und welche nicht, auch in Zukunft keinen Konsens geben. Zumindest aus einer pädagogischen und präventiven Perspektive braucht es den aber auch nicht. Viel wichtiger wäre wohl ein Bewusstsein davon, dass auch in Bezug auf den Nahostkonflikt die Erfahrungen, Perspektiven, Positionen und Forderungen der direkt oder indirekt an ihm beteiligten und von ihm betroffenen Menschen sehr unterschiedlich sind; und dass die meisten von ihnen – auch wenn sie sich diametral gegenüberstehen mögen – in der einen oder anderen Weise Anspruch auf Gültigkeit und Wahrheit erheben können. Die vollständige Akzeptanz solcher Widersprüchlichkeit – und nicht der Wahrheitsanspruch einer Seite, einer Partei, eines Lagers oder einer Parole – wäre die zu schaffende Voraussetzung für offene, produktive und inklusiv geführte Auseinandersetzungen. Die dazu erforderliche Denkbewegung soll im Folgenden (s. Box) aus der Sicht eines nicht oder nur indirekt Betroffenen anhand aktueller Beispiele aus der Debatte um Erscheinungsformen von israelbezogenem Antisemitismus skizziert werden.

 

Zusammenfassend und zumindest für Außenstehende sind demnach in der Betrachtung der Debatten und Parolen um den Nahostkonflikt sehr unterschiedliche Perspektiven und Empfindungen sowie die damit verbundenen gegenseitigen Zuschreibungen prinzipiell gut nachvollziehbar. Das ist möglich, wenn sie vor dem Hintergrund der individuell wie kollektiv erfahrenen Geschichte sowie den darauf basierenden identitätsstiftenden Narrativen interpretiert werden: dem Antisemitismus und der Shoah, die als fortwirkendes Trauma am Anfang des Staates Israel stehen; und der Naqba, die den Anfang des fortwirkenden palästinensischen Traumas von Flucht und Vertreibung und auch hier den Anspruch auf einen eigenen Staat markiert. Beide sollen und können nicht oder nur bedingt verglichen werden. Beide Wahrheiten und Narrative sollten und könnten aber zunächst verstanden, anerkannt und respektiert werden. Zu diesem Wunsch nach Verstehen und zur empathischen Anerkennung von Leid und Opfern muss niemand sich für ein Lager, eine Partei oder eine Seite entscheiden und die jeweilig andere diskriminieren, delegitimieren oder dämonisieren. Problematisch ist indes, dass es offenbar allen direkt und indirekt beteiligten Akteuren so schwerfällt, gleichzeitig zwei (oder mehr) Wahrheiten zu sehen, zu ertragen und anzuerkennen. Es ist wie bei den berühmten „Kippbildern“, auf denen Betrachter*innen je nach selbst gewähltem Fokus zum Beispiel einen Hasen oder auch eine Ente erkennen können – aber nie beide gleichzeitig. [6]

Radikaler Respekt: Ambiguitätskompetenz, Inklusion und ethische Reflexe trainieren

Wie also kann bei aller Unterschiedlichkeit von Perspektiven, Überzeugungen und Emotionen, die mit Themen wie dem Nahostkonflikt verbunden sind, in Gesellschaft, in Politik, Medien, auf dem Campus und vor allem in Klassenzimmern ein Gespräch geführt werden? Zunächst ganz einfach: Indem wir – ganz im Gegenteil zum kämpferischen Duktus, den uns politische Strateg*innen etwa auch gegen rechte Positionen immer wieder nahe legen – eben diese unterschiedlichen Perspektiven, Überzeugungen und Emotionen als solche sichtbar machen, indem wir ihnen Raum geben, uns und allen anderen zuhören und uns dabei um möglichst große Offenheit, Respekt und Verständnis für die jeweils anderen Personen, Perspektiven und Positionen sowie ihrem individuellen und kollektiven Gewordensein bemühen. Dabei stehen nicht Lösungen im Vordergrund. Ziel ist es zunächst „nur“, in einer solchen Art und Weise über Nahostkonflikt, Antisemitismus sowie andere Konflikte und Krisen sprechen zu lernen, die erst die Voraussetzungen dafür schafft, dass sie überhaupt lösbar erscheinen. Nur so können auch Pädagogik, politische Bildung und Prävention gelingen und ihren Beitrag leisten.

Was genau wären also – pädagogisch gedacht – die Methoden und Gelingensbedingungen eines Prozesses, der zunächst „nur“ auf das Gespräch an sich zielt?

Ein Ausgangspunkt wäre zunächst die universelle Einsicht, dass jenseits akuter Krisen, Konflikte und Kriege moderne Spielarten unterschiedlicher Diskriminierungsformen strukturelle sind. Antisemitismus, Rassismus, Sexismus und Klassismus (ebenso wie Rechtsextremismus oder Islamismus, um nur einige zu nennen) werden von global und gesellschaftlich wirkenden Macht- und Ohnmachtsverhältnissen hervorgebracht, in denen Menschen leben. Es wird Diskriminierungen und Ideologien der Ungleichheit also geben, mindestens so lange wir in solchen ungleichen Verhältnissen leben. In der Politik, in Medien, in der Pädagogik, der politischen Bildung und der Präventionsarbeit ist es daher unsere Aufgabe, sowohl ungleichen Machtverhältnissen und Ohnmachtserfahrungen als auch den auf diesen basierenden Diskriminierungsformen so weit wie eben möglich vorzubeugen, ihnen zu begegnen sowie Resilienzen im alltäglichen Umgang mit ihnen zu entwickeln und zu fördern.

Dabei ginge es in der pädagogischen Arbeit vielleicht weniger um Formate, die sich direkt gegen einzelne Diskriminierungsformen wie Antisemitismus wenden – solche Formate fördern erfahrungsgemäß häufig Abwehrhaltungen gerade bei denjenigen, die es zu erreichen gälte. So zeigen Erfahrungen aus der pädagogischen Praxis, dass abstraktes Etikettieren einzelner Positionen und Handlungen als „antisemitisch“, „islamistisch“, „extremistisch“ oder „verfassungsfeindlich“ wenig hilfreich ist. Vielmehr geht es darum zu vermitteln, was genau denn etwa an Antisemitismus, Rassismus, Klassismus oder Sexismus eigentlich „problematisch“ ist – nämlich das Konstruieren, Abwerten und Ausgrenzen von Gruppen anderer Menschen. [7] Darüber lässt sich dann mit Jugendlichen  „diskriminierungsformenübergreifend“ gut sprechen, weil die meisten von ihnen sehr gut wissen, oder sich hineinversetzen können, wie es sich anfühlt, beleidigt, nicht anerkannt, abgewertet, diskriminiert oder gemobbt zu werden – und sie auf dieser Grundlage verstehen, dass auch Solidarität niemals einseitig, sondern nur universell sein kann.

Überhaupt spielen Emotionen die zentrale Rolle, wenn es darum geht, andere zu verstehen und zu erreichen. Jedem Gedanken liegt ein Gefühl zugrunde und entgegen unserer über die letzten Jahrhunderte eingeübten Glaubenssätze sind Emotionen wichtiger als Verstand und Argumente – zumindest was die Kommunikation betrifft. Gerade bei unterschiedlichen Positionen und den ihnen zugrunde liegenden Wertevorstellungen, gilt es, das zeigen Kommunikations- und Neurowissenschaften, zunächst eine „kommunikativ-emotionale Brücke“ zu schaffen, denn erst dann „bin ich überhaupt bereit, mich auf etwas Neues einzulassen und zuzuhören“. [8]

Didaktisch wären zu dieser Sensibilisierung für unterschiedliche Emotionen, Meinungen, Perspektiven, Glaubenssätze und Diskriminierungsformen (sowie den Umgang mit ihnen) Methoden und Formate zu entwickeln, in denen etwa Perspektivwechsel, gewaltfreie Kommunikation, der Umgang mit Dilemmas und Widersprüchen, Gemeinsinn, Solidarität, Inklusion und Empathie trainiert werden. Vielleicht auch, um zu verlernen, dass der Menschen dem Menschen ein Wolf ist, wir vielmehr „im Grunde gut“ sind. [9]

Aber wie kann das gehen? Denn – um noch einmal beim Nahostkonflikt zu bleiben – ich persönlich verstehe zum Beispiel zunächst weder die Einstellungen orthodoxer Siedler*innen und rechtsextremer Minister*innen noch die der islamistischen Hamas und von Menschen, die sich mit dieser Bewegung und ihrer Ideologie solidarisch zeigen. Als Lehrer, Journalist, auf dem Campus und vielleicht sogar als Politiker könnte ich mich aber bereit erklären, mich (wie ein guter Dokumentarfilm) mit solchen Positionen und mit Menschen, die sie vertreten, auseinanderzusetzen, mich einzulassen und zu ergründen, was sie bewegen mag, in der Annahme, dass auch hinter Härte und Hass ernst zu nehmende und nachvollziehbare Erfahrungen, Emotionen, Argumente, Wünsche und Bedarfe stehen können. „Radikaler Respekt“ wäre das Motto eines solchen Unterfangens, das Widersprüche aushält ebenso wie unterschiedlichste Emotionen, Perspektiven und „Wahrheiten“.

Dazu gehört Selbstreflektion – das heißt die Erkenntnis eigener und kollektiver Beteiligung und Verstrickung. Wir kennen das eigentlich schon – seit den 70er Jahren zum Beispiel aus so genannter Vergangenheitsbewältigung und aus Männergruppen oder in jüngerer Zeit unter dem Stichwort der Rassismuskritik. Welche Anteile von traditionellem und modernem Antisemitismus oder von Rassismus, Sexismus oder Klassismus stecken also in mir selbst und meinem alltäglichen Denken? Welche Stereotype von „Anderen“ sind so fest verankert, dass auch Menschen, die das vielleicht weit von sich weisen würden, von ihnen geprägt sind?  Wie müssen Räume gestaltet sein, in denen eine Auseinandersetzung stattfinden kann: Können Plenarsäle, Kolumnenspalten und Klassenräume zu safer spaces werden?  Können wir diskriminierungssensible Räume schaffen, in denen Menschen miteinander arbeiten und streiten können, die um unser aller Verletzbarkeit wissen, die empathisch sein können mit allen „Opfern“ – aber auch mit „Tätern“, in dem Wissen, dass diese meist selbst einmal „Opfer“ waren und dass „Gut“ und „Böse“ meist nicht so weit voneinander liegen, wie wir es uns selbst gern glauben machen?

Rote Linien?

In solchen (Klassen)räumen (und in pädagogischen Formaten) sollte aber nicht nur das Werden und Gewordensein unterschiedlicher Perspektiven, Emotionen und Positionen sicht- und erkennbar gemacht werden, sondern auch die individuelle Verantwortung für das eigene Denken und Handeln. Daher bedeutet „Radikaler Respekt“ keineswegs Beliebigkeit. Vielmehr bedingt das Plädoyer für Offenheit auch eine Verständigung über deren Grenzen. Unter dem Schlagwort von den „roten Linien“, wird hier die Frage verhandelt, welche Grenzen in der Auseinandersetzung einzuhalten sind, damit die Würde aller Beteiligten (und Abwesender) unangetastet bleibt. Aber Achtung: Solche „rote Linien“ verlaufen entgegen den Erwartungen, die viele an sie knüpfen, niemals gerade und sie sind immer durchlässig – darüber befindet je nach Kontext und Situation die Gruppe und die jeweilige Moderation.

Vielleicht bedarf es für die Auseinandersetzung zudem einer anderen Sprache, neuer Begriffe und Parolen, falls solche dann überhaupt noch zeitgemäß wären: Wie etwa formuliere ich meine deutliche Ablehnung von Positionen und Handlungsformen, ohne die jeweiligen Akteure mit Begriffen wie „unfassbar“, „unerträglich“ oder „barbarisch“ verbal zu eliminieren? [10] Denn je autoritärer die eine Seite auf der Objektivität, Wahrheit und Allgemeingültigkeit ihrer Perspektive und ihrer Position besteht, desto mehr provoziert sie die Konstituierung und Polarisierung eines gegenüber stehenden Lagers. Gerade deshalb braucht es – auch im Sprechen über den Nahostkonflikt – Tugenden wie Demut, Geduld, Großzügigkeit und das Bewusstsein darüber, welche Zumutungen, das jeweilig für diejenigen bedeutet, die direkt betroffen sind. [11] In dieser Sprache und mit dieser Haltung kann nach einem gemeinsamen zukunftsfähigen Dritten erst gesucht werden: Wie wollen wir leben?

All das mag banal, naiv und utopisch erscheinen. Und klar: Visionen allein schaffen keine Realitäten. Aber so wie die Verhältnisse das Denken prägen, so wirken auch das Denken und Sprechen auf die Verhältnisse und ohne Visionen gibt es keine Hoffnung – auf eine andere Schule zum Beispiel und eine andere Welt. Oder konkreter und um noch einmal beim Nahostkonflikt zu bleiben: Sich zum Beispiel Palästinenser*innen als Beschützer*innen von Jüdinnen und Juden und Israelis vorzustellen, könnte eine von vielen solcher Visionen sein. Bei aller angebrachter Skepsis ist aus solchen oder anderen Fantasien womöglich mehr Kraft zu schlagen als aus dem dürren Boden realpolitischer Fakten.

Vielleicht ist also Ambiguitätskompetenz, das heißt, Fähigkeiten zu erlernen, im Sprechen über und im Leben mit Widersprüchen, Konflikten und Unterschiedlichkeiten, ein Ausweg aus so mancher polarisiert geführten Debatte und ein Schritt auf dem langen Weg zu Formen von Dialog, Auseinandersetzung und Entscheidungsfindung, in denen alle gleichwürdig (J. Juul) leben und möglichst gleichmächtig streiten können. [12] Ohnehin werden Fähigkeiten im Umgang mit Ambiguitäten ganz unterschiedlicher Art angesichts fortschreitender Globalisierung – das heißt einer rasant zunehmenden Sichtbarkeit und Wirksamkeit heterogener, sich widersprechender und auseinanderfallender Perspektiven, Lebenslagen und Überzeugungen von Menschen, die gleichzeitig immer näher zusammenrücken – noch bedeutsamer werden. Denn diese Entwicklungen bringen Veränderungen, Krisen und Verteilungskämpfe mit sich. Es gilt also mehr denn je, Räume für Auseinandersetzungen zu kreieren, unsere „ethischen Reflexe zu trainieren“ (G. Spivak) [13] und zu lernen, auch solche Positionen, Perspektiven und Lebensformen anzuerkennen, die nicht meine sind – vielleicht sogar mit solchen meinen Frieden zu machen, die ich auf den ersten Blick als „unerträglich“ empfunden habe. Politische wie juristische Formen der Repression sowie „rote Linien“ schließt das nicht aus. Die werden aber erst gezogen, wenn ich auch die eigenen Lebensformen, Perspektiven, Positionen und Glaubenssätze hinterfragt habe. Denn wir sehen die Welt nicht so, wie sie ist, sondern so, wie wir sind.

Fußnoten

[1] siehe dazu: Funke, Hajo im Interview: „Autoritäre Tendenz wird stärker. Die propalästinensischen Proteste an Universitäten dürfen nicht pauschal als antisemitisch bezeichnet werden“, in Taz 6.8.2024.

[2] In ähnlicher Weise trafen solche Kampagnen zuletzt etwa auch die „Letzte Generation“.

[3] Genauso beschreiben im Übrigen deutsche Palästinenser*innen (oder palästinensische Deutsche) – etwa Jugendliche in der Schule – ihre Wahrnehmungen und Gefühle angesichts der Reaktionen und Nicht-Reaktionen auf den Gaza-Krieg. Sie haben damit – wenn sich das so sagen lässt – genauso recht. So formuliert die frühere Berliner Staatssekretärin und stellvertretende Sprecherin im Auswärtigen Amt, Sawsan Chebli, aus einer deutsch-palästinensischen Perspektive: „Von der deutschen Öffentlichkeit erfahren wir kaum Empathie und Solidarität, sondern Ausgrenzung, Misstrauen und immer öfter Hass“. (https://taz.de/Sawsan-Chebli-ueber-den-Gaza-Krieg/!6017664/)

[4] Ursprünglich geht die Parole wohl auf Ideen im frühen Zionismus zurück, einen Staat zwischen Jordan und Mittelmeer zu errichten – und wurde später von der PLO aufgegriffen. In ganz ähnlicher Formulierung taucht er auch in der Charta des Likud von 1977 auf.  Ein Text in der FAZ vom 13.6.2024 fasst die Entscheidungsbegründung des Landgerichts Mannheim zur Strafbarkeit der Parole „From the River to the Sea“ zusammen, die das Innenministerium verhängt hatte. (s. Literaturverzeichnis)

[5] Ähnliches ließe sich über umstrittene Schlagworte und Begriffe wie Apartheid oder  Siedlerkolonialismus sagen: Abgesehen von der wegen polarisierender Wirkung grundsätzlich zweifelhaften Sinnhaftigkeit ihrer Verwendung als Kampfbegriffe in der Auseinandersetzung, lassen sich die Ungleichbehandlung von Palästinenser*innen und die ungebrochen anhaltende illegale Besiedelung und Annektion der besetzten Gebieten ja nicht bestreiten. Ob aber hinter dem Schlagwort jeweils antisemitische Motive stehen, einseitige Propaganda oder kritische Argumente, lässt sich erst im Kontext und im Rahmen einer miteinander geführten Auseinandersetzung erkennen. In vergleichbarer Weise trifft auch derjenige einen Punkt, der den Zionismus als nationalistisch-kolonialistische Bewegung angreift. Ist das antisemitisch? Muss nicht, kann aber sein. So reproduzieren viele Positionen, die sich als „antizionistisch“ verstehen, antisemitische Stereotype. Auf jeden Fall wird dabei vergessen, dass der Zionismus auch und gleichzeitig eine emanzipatorische Befreiungsbewegung diskriminierter und verfolgter Jüdinnen und Juden war und ist.

[6] Den Hinweis auf die „Kippbilder“ verdanke ich einem Text von Maximilian Probst in der ZEIT, in dem dieser unter Bezug auf Wittgensteins Sprachphilosophie versucht, dem Reden über Antisemitismus und Nahostkonflikt näher zu kommen. (s. Literaturverzeichnis).

[7] In den Konzepten von „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (GMF) und „Pauschalisierenden Abwertungskonstruktionen“ (PAKOS) finden sich dazu Anhaltspunkte sowie pädagogische Schlussfolgerungen.

[8] Das führt die Neurowissenschaftlerin Maren Urner im SRF aus: www.srf.ch/play/tv/sternstunde-philosophie/video/wie-politisch-sind-gefuehle-maren-urner?urn=urn:srf:video:1d49143f-aed1-44fd-86cd-1f0924706d56; vgl. auch: Müller, Jochen (2024): Politik und Pädagogik – Ein Zwischenruf in eigener Sache (s. Literaturverzeichnis).

[9] Von „Wertetraining“ in der pädagogischen Arbeit sprechen Erpenbeck/Sauter (2022). In Bayern wurde zuletzt in der Schule eine „Verfassungsviertelstunde“ eingeführt. (https://www.politischebildung.schule.bayern.de/verfassungsviertelstunde/). Zu bedenken ist dabei, dass im Grundgesetz oder der Menschenrechtscharta sehr unterschiedliche Werte festgehalten sind, diese unterschiedlich priorisiert werden können und nicht „von oben“ gelehrt, sondern lebensweltlich erfahrbar sein müssen.

[10] In seinem Buch „LTI. Lingua Tertiae Imperii“ beschreibt Victor Klemperer (1947), wie die Sprache des Antisemitismus und Autoritarismus vor der Zeit und während des Nationalsozialismus sukzessive in den Alltag sickerte und entscheidend dazu beitrug, die Massenvernichtung zu ermöglichen. (Dazu ein DLF-Feature vom 21.7.2024: https://www.deutschlandfunk.de/victor-klemperer-lti-ist-nie-wieder-wirklich-jetzt-dlf-85deff8d-100.html). Aus Klemperers Diskursanalyse ließen sich Schlüsse für einen antiautoritären und diskriminierungssensiblen Umgang mit Sprache ziehen.

[11] Das führt im Rahmen der Debatte um den Nahostkonflikt Eva Menasse (2024) in bemerkenswerter Weise aus (s. Literaturverzeichnis).

[12] Vgl.: Müller, Jochen (2021): Recht behalten ist auch keine Lösung.

[13] s. dazu: do Mar Castro Varela, Maria (2019): Ambivalente Botschaften und Doppelbindung.

 

Literaturverzeichnis

Bregman, Rutger (2021): Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit

Chebli, Sawsan: „Ich war eine stolze Deutsche“, Interview in TAZ vom 29.6.2024.

do Mar Castro Varela, Maria (2019):  Ambivalente Botschaften und Doppelbindung. Warum Kulturelle Bildung das Verlernen vermitteln sollte.

Erpenbeck/Sauter (2022): Wertetraining: Praxis, Coaching, Übung und Bildung für die gezielte Werteentwicklung von Persönlichkeiten.

Funke, Hajo: „Autoritäre Tendenz wird stärker. Die propalästinensischen Proteste an Universitäten dürfen nicht pauschal als antisemitisch bezeichnet werden“, in: Taz, 6.8.2024.

Grunert, Marlene: Terrorparole oder Slogan der Freiheit? Neue Entscheidung zur Strafbarkeit des Spruchs „Vom Fluss bis zum Meer“, in: FAZ, 13.6.2024.

Hammer, Benjamin: Auch die deutsche Debatte zerreibt den Frieden, in: DLF, 1.6.2024.

Harari, Yuval Noah:  The World’s Job During the War on Hamas: Save the Space For Peace, in: Time Magazin, 16.10.2023.

Klemperer, Victor (1947): LTI. Lingua Tertiae Imperii. Notizbuch eines Philologen.

Menasse, Eva: Es kostet uns den Verstand! Die Gesellschaft zerbricht. Was tun? Ein Plädoyer für Großzügigkeit, Gelassenheit und Verzeihen, in: Die Zeit 23/2024, 22.5.2024.

Müller, Jochen (2021): Recht behalten ist auch keine Lösung. Ambiguitätstoleranz in der Islamismusprävention, in: KN:IX-Report 2021.

Müller, Jochen & Kautz, Christian (2023): Radikalisierung als Bewältigungsstrategie? Einordnung aus Sicht der Präventionspraxis, in: Müller/Fetz/Uca/Klose/Kleffmann/Talmatzky: Determinanten radikalisierungsbezogener Resilienz im Jugendalter.

ders. (2024): Politik und Pädagogik – Ein Zwischenruf in eigener Sache.

ders. (2024): Warum ist es so schwer, „und“ zu sagen“? Öffentlicher Diskurs und pädagogische Praxis zum  Nahostkonflikt.

Probst, Maximilian: Was bringt uns endlich auf neue Gedanken? Aus den erbitterten Debatten um den Krieg in Gaza könnte uns ausgerechnet Ludwig Wittgensteins Sprachphilosophie befreien, in: Die Zeit, 29.5.2024.

Urner, Maren (2024):  Radikal Emotional. Wie Gefühle Politik machen. Droemer Verlag.

 

Bildnachweis: © blaurot-weiß gestreiftes Textil/ Marcel Strauß/ unsplash.com

 

Wiederveröffentlichung des Beitrags

Dieser Beitrag erscheint als Vorabveröffentlichung des KN:IX Reports 2024. Den Report können Sie Ende 2024 auf der KN:IX Webseite herunterladen.

Logo des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX)
Die Beiträge im Portal dieser Webseite erscheinen als Angebot von ufuq.de im Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX).
Skip to content