„Wenn dabei mehr Fragen aufkommen, als beantwortet werden, ist das ein großer Erfolg“ – Schulreise nach Israel und Palästina
12. Mai 2021 | Geschichte, Biografien und Erinnerung, Religion und Religiosität

Schüler*innen der Berliner Gemeinschaftsschule auf dem Campus-Rütli fanden sich im Rahmen einer Politik-AG und eines Wahlpflichtkurses zusammen, um mehr zu Antisemitismus und dem Nahostkonflikt zu erfahren. Die zwei Wissensreisen führten sie 2019 buchstäblich nach Israel und Palästina, wo sie verschiedene Perspektiven kennenlernen durften. Die bewegenden Eindrücke dazu wurden in zwei Handreichungen festgehalten. Für die Berliner Bildungszeitschrift bbz der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat Juliane Zacher zwei Lehrer interviewt, die die Reise mitorganisiert haben.

 

Juliane Zacher: Mehmet und Simon, ihr habt beide innerhalb eines Jahres eine Reise nach Israel mit Schüler*innen unternommen. Wie kam es zu den Reisen?

Simon Klippert: Die Schüler*innen sind vor einiger Zeit an mich herangetreten und haben mich gebeten „Mal was zu dem Thema Nahostkonflikt und den Beziehungen zwischen Israel und Palästina zu machen“. Also haben wir den Impuls aufgenommen und andere Akteur*innen mit ins Boot geholt. Im Rahmen eines über zwei Jahre laufenden Wahlpflichtkurses, dem Projektkurs Naher Osten, für die 9. und 10. Klasse haben wir uns schließlich unser eigenes Curriculum erarbeitet und die Reise geplant, durchgeführt und nachbereitet.

Mehmet Can: Ich bin vor drei Jahren gezielt an die Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli gekommen, weil ich an projektorientiertem Unterricht interessiert bin. Ich verfolge den Nahostkonflikt sehr aufmerksam und engagiere mich seit Jahren gegen Antisemitismus. Dazu kommt das unglaublich große Interesse unserer Schüler*innen an der Region. So kam im Rahmen meiner Politik-AG die Idee auf, mit 10. und 11. Klässler*innen eine Reise nach Jerusalem zu organisieren und einen Einblick in den Konflikt zwischen Israel und Palästina zu bekommen.

Juliane Zacher: Warum war und ist das Interesse so groß?

Mehmet Can: Wer mitfahren wollte, musste sich mit einem Motivationsschreiben bewerben. In diesen Schreiben wurde oft betont, dass die Schüler*innen sich ein eigenes Bild von der Situation vor Ort machen oder dass sie religiöse Stätten besuchen möchten, die sie sonst nicht besuchen könnten. Viele betonten ihre Verbundenheit zur Region über ihren familiären Hintergrund.

Juliane Zacher: Was war das Ziel der Reisen?

Handbuch „Mehr als eine Perspektive – Erfahrungen aus zwei Jahren Arbeit zum Nahostkonfilkt an einer Neuköllner Gemeinschaftsschule.« (pdf). Zu beziehen über s.klippert@campusruetli.de

Mehmet Can: Ziel der Reise war es, Begegnungen zu erleben, und dadurch auch bestimmte mediale Darstellungen als verkürzt zu erkennen. Die Gemengelage vor Ort ist sehr kompliziert und lässt sich nicht durch einfache, einseitige Schuldzuschreibungen begreifen. Wenn dabei mehr Fragen aufkommen, als beantwortet werden, ist das ein großer Erfolg.

Simon Klippert: Ziel der Reise war es, verschiedene Geschichten kennenzulernen und zu lernen, diese anzuerkennen. Die Idee der Multiperspektivität hat sich nicht nur durch den Kurs, sondern auch durch die Reise wie ein roter Faden gezogen. Dieses Konzept ist auch aufgegangen. Ich hatte nie eine bessere Begegnungsfahrt, ich war selten stolzer auf meine Schüler*innen, weil sie sich darauf eingelassen haben, auch ihre eigenen Perspektiven zu hinterfragen und neue Ergänzungen zuzulassen.

Juliane Zacher: Wie verlief die Reise?

Mehmet Can: Schwerpunkt unserer Reise war der Großraum Jerusalem, deswegen sind wir hauptsächlich dort geblieben und haben viele verschiedene Friedensakteur*innen getroffen. Meine Kollegin Juliana Kohl und ich wollten, dass unsere Schüler*innen Land und Leute nicht nur aus dem Reisebus heraus kennenlernen. Unter anderem haben wir Vertreter*innen des Parents Circle getroffen, eine Vereinigung von israelischen und palästinensischen Eltern, die ihre Kinder im Konflikt verloren haben, oder sind ins Gespräch mit arabischen Israelis gekommen, die Zivildienst leisten. Gespräche mit arabischen Israelis sind sehr bedeutsam gewesen, weil sie Israelis und Araber*innen zu gleich sind, etwas, was auf den ersten Blick viele irritiert. Wir haben auch eine jüdische Schule besucht. Wenn Jugendliche ins Gespräch kommen, braucht es uns Erwachsene nicht mehr. Bis heute stehen die Jugendlichen zum Beispiel über Instagram im Austausch miteinander.

Simon Klippert: Wir haben vier Nächte auf der israelischen und vier Nächte auf der palästinensischen Seite geschlafen. Kern des Programms war es, Begegnungen zu schaffen, Orte und Menschen kennen zu lernen und auch selbstständige Erkundungen zu unternehmen, um ganz unterschiedliche Blicke auf die Situation vor Ort zu bekommen. Ein Höhepunkt war der Besuch im Begegnungszentrum Giv’at Haviva. Als wir ankamen, sind wir in ein Fest gestolpert und haben direkt zusammen gefeiert. Das war ein toller Start für einen Austausch.

Juliane Zacher: Welche Besonderheiten gab es bei der Reisevorbereitung?

Comic „Mehr als Zwei Seiten (Webseite) – Comics über eine Studienreise von Schüler*innen der Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli nach Israel und in die palästinensischen Gebiete. Zu beziehen über m.can@campusruetli.de

Mehmet Can: Es organisieren nur sehr wenig deutsche Schulen Fahrten nach Israel, noch seltener sind es Schulen wie unsere. Die Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli ist eine Neuköllner Schule und wird auch von all den sozio-ökonomische Herausforderungen geprägt, die unseren Kiez kennzeichnen. Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung verfügen wir über keine zusätzlichen Ressourcen. Deshalb war zum einen die Finanzierung sehr aufwendig und zum anderen die Organisation der Visa. Im Falle einer syrischen Schülerin, deren Land sich in schwierigen Beziehungen mit Israel befindet, haben wir erst einen Abend vor dem Abflug grünes Licht für ihre Reise bekommen. Das israelische Konsulat in Berlin hat uns bei diesen Fällen sehr unterstützt. So öffneten sie extra an einem Sonntag, dem Tag vor der Abreise, das Konsulat, um das Visum auszugeben.

Simon Klippert: Das ist natürlich eine schwierige Situation, denn die Schüler*innen fragen sich ja dann auch, warum darf sie oder er, ich aber nicht.

Mehmet Can: Sie dachten teilweise, dass das nicht klappen wird. Wenn man sich über einen längeren Zeitraum vorbereitet und sich sehr auf diese Gelegenheit freut, wird das Warten auch frustrierend.

Juliane Zacher: Wie ging es nach den Reisen weiter?

Mehmet Can: Es haben weitere Begegnungen in Berlin stattgefunden. Unter anderem haben uns Vertreter­*innen des Parents Circle, ein arabischer Christ, der aus dem Libanon nach Israel geflohen ist, sowie drusische und jüdische Jugendliche besucht. Vor allem der Besuch der Drus­*innen ist ein schönes Beispiel dafür, wie wertvoll Begegnungen sind: Die Jugendlichen waren Teil einer ausgewählten Bildungsreise und haben sich sozio-ökonomisch stark von unseren Schüler*innen unterschieden. Aber als sie anfingen zu tanzen, war sofort eine Gemeinsamkeit da, denn drusische und arabische Tänze sind sich ähnlich.

Simon Klippert: Direkt im Anschluss der Reise haben die Schüler*innen in allen Klassen der Schule selbstständig berichtet. Aus der dafür vorgesehenen einzelnen Unterrichtsstunde wurden zum Teil zwei, weil das Interesse so groß war. Nach unserer Reise haben sich die Schüler*innen einen eigenen Schwerpunkt gewählt. Ein Schüler hat zum Beispiel die jüdische Schule in Berlin Mitte besucht, um etwas über jüdisches Leben in Berlin heute zu erfahren. Diese Arbeiten sollten im Rahmen von 48h Neukölln gezeigt werden, aber leider fiel das dieses Jahr aus. Der Kurs wird dieses Jahr unter ‚Corona-Bedingungen‘ wieder neu angeboten, das Interesse ist weiterhin groß.

Juliane Zacher: Was sind Gelingensbedingungen für ein solches Projekt?

Simon Klippert: Es war wichtig, alles gemeinsam mit den Schüler*innen zu planen und nicht an ihnen vorbei. Außerdem ist es wichtig, dass ein solches Angebot im Schulalltag verankert ist und nicht ein zusätzliches Angebot für wenige außerhalb der Unterrichtszeit bleibt und eine Zusatzbelastung für alle darstellt.

Juliane Zacher: Die Aktualität von Antisemitismus in unserer Gesellschaft wird immer wieder von Studien und antisemitischen Vorfällen bestätigt. Welche Aufgabe kommt der Schule dabei zu?

Mehmet Can: Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches, nicht nur ein Neuköllner Problem und auch nicht eine Gefahr, die vor allem von Jugendlichen ausgeht. Aber wir als Schule können und müssen gezielt zu dem Thema arbeiten, schließlich sind wir an den Jugendlichen dran. Wir sollten dabei alle Erscheinungsformen des Antisemitismus im Blick haben: Antisemitismus, der sich aus Erinnerungsabwehr speist, sich in Verschwörungsmythen ausdrückt oder sich als israelbezogener Antisemitismus artikuliert. Wir Lehrkräfte müssen uns über diese Aspekte austauschen und auch eigene Positionierungen reflektieren.

Simon Klippert: Antisemitische Vorfälle müssen genauso ernst genommen werden, wie andere Vorfälle von Diskriminierungen beziehungsweise Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Allerdings ist es wichtig, nicht nur einfach ‚drauf zu hauen‘, sondern problematische Äußerungen ernst zu nehmen und auf sie einzugehen, um zu einer wirklichen Auseinandersetzung zu kommen. Viele Kolleg*innen haben Berührungsängste, die aus eigener Unsicherheit resultieren. Aber durch Unterstützung von außerschulischen Akteur*innen und eigener Auseinandersetzung ist es möglich, Sicherheit für sich zu gewinnen.

Anm. d. Red.: Es handelt sich um zwei verschiedene Reisen, bei denen zwei unterschiedliche Publikationen entstanden sind.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Seite der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Berlin. Wir danken der GEW und der Autorin, diesen Beitrag hier wiederveröffentlichen zu dürfen.

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