Angesichts der Spannungen, die auch in Deutschland durch den Terror der Hamas und den Krieg in Gaza ausgelöst wurden, gibt es immer wieder Stimmen, die die Bildungs-, Jugend- und Präventionsarbeit in Frage stellen. Alles gehöre auf den Prüfstand, um Antisemitismus und Gewalt wirkungsvoll „zu bekämpfen“. Jochen Müller, Co-Geschäftsführer von ufuq.de, warnt davor, diese Kampfrhetorik in die Bildungsarbeit zu übernehmen.
In aufgeladenen Zeiten wie diesen geraten Träger wie ufuq.de mitunter in die Kritik. Der Vorwurf lautet, sie würden Ideologien wie Islamismus und Antisemitismus verharmlosen oder mit dem Hinweis auf diskriminierende Strukturen und Rassismus relativieren. Gefordert seien vielmehr, so heißt es dann, ein „offenes Visier“ oder „klare Kante“, um Islamismus oder Antisemitismus zu „bekämpfen“. Und tatsächlich: Diese Kampfrhetorik spielt in unserem Denken, Sprechen und Handeln keine Rolle. Es ist Sache von Politik und Sicherheitsbehörden, Einstellungen und Verhaltensformen solcher Menschen zu „bekämpfen“, die die Freiheiten anderer Menschen infrage stellen. Pädagogik und politische Bildung hingegen hätten versagt, wenn sie ihrem Klientel – und das sind hier in erster Linie Jugendliche – in dieser Sprache und mit dieser Haltung begegnen würden.
Wir versuchen diese Jugendlichen zu erreichen, ins Gespräch mit ihnen zu kommen. Das gelingt, indem wir ihnen zuhören, uns auf ihre Biografien, Lebenswelten, Perspektiven und ganz unterschiedlichen Erfahrungen (auch mit Diskriminierungen) einlassen – soweit das eben geht. Kommunikation und Anstöße zu Veränderungen gelingen nicht, wenn wir Jugendliche kategorisieren, ihnen offen oder im Hinterkopf Einstellungen und Ideologien zuschreiben, sie unter Verdacht stellen.
Aus diesem Grund vermeiden wir oft vorschnell vergebene Attribute wie islamistisch, verfassungsfeindlich oder antisemitisch als Beschreibung von ambivalenten, kontroversen oder auch abwertenden Positionen, Behauptungen und Provokationen von Jugendlichen. Stattdessen beschreiben wir sie zunächst als „problematisch“ und als Aufmerksamkeitssignale – also Signale dafür, zunächst einmal genauer hin- und zuzuhören. Das gilt – je nach eigener Perspektive und Betroffenheit – für sehr unterschiedlich interpretierbare Postulate wie: „Free Palestine!“, „Die Scharia ist mir wichtiger als das Grundgesetz!“, „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein!“ oder „Für mich gibt es nur Männer und Frauen!“.
In der politischen Auseinandersetzung wird hingegen zugewiesen, beurteilt und „gekämpft“ was das Zeug hält, für die eigene und gegen die Sache (und Partei) der anderen. Das ist auch in Ordnung so. Aber es gilt deutlich zu trennen zwischen politischer Debatte und pädagogischem Auftrag. Verkürzt gesagt: Auf der politischen Bühne werden Positionen abgesteckt und Forderungen aufgestellt. Pädagogik tickt aber anders und nach ihren eigenen Gesetzen.
Diese Arbeits- und Aufgabenverteilung ist sinnvoll. So sind Grundhaltungen, Begriffe und Debatten wichtig für Orientierung und Urteilsfindung. Und in der Arbeit mit „problematischen“ Jugendlichen sind auch klare Ansagen, Konfrontation, rote Linien und Repression ein Teil des Repertoires – gerade auch, um Betroffene vor Abwertungen und Anfeindungen zu schützen. Aber repressive Maßnahmen sollten am anderen Ende des Spektrums pädagogischer Arbeit stehen. Sie sind nicht ihr Ausgangspunkt und dürfen es nicht sein. Schließlich arbeiten wir präventiv, also mit Gruppen „ganz normaler“ Jugendlicher. Diejenigen (es gibt sie, es sind aber nicht so viele, wie man meinen könnte) mit bereits verfestigten und kohärenten extremistischen Ideologien und menschenverachtenden Einstellungen erreichen wir dabei zwar meist nicht. Aber den anderen sollen einfache Antworten, extremistische Ansprachen, Angebote und Weltbilder gar nicht erst attraktiv erscheinen. Wenn sie dabei das Gefühl bekämen, mit ihren, manchmal eigenen und anderen, Perspektiven nicht gehört, nicht akzeptiert und ausgegrenzt zu werden – dann ziehen sie sich zurück. Womit die pädagogische Arbeit gescheitert und möglicherweise sogar der nächste Schritt in Richtung einer Hinwendung zu gewaltvollen und hasserfüllten Formen der Radikalisierung noch befördert würde, gleich ob rechts- oder linksextrem, sexistisch, islamistisch, antisemitisch oder anderweitig verschwörungstheoretisch begründet.
Pädagogik braucht nur selten Empörung, aber immer Empathie – gerade dann, wenn Jugendliche „problematisch“ in Erscheinung treten. Es sind unsere Jugendlichen. Zu einer akzeptierenden Grundhaltung gibt es in der präventiven, pädagogischen und sozialarbeiterischen Arbeit keine Alternative. Wir relativieren und verharmlosen also Erscheinungen wie Islamismus, Rechtsextremismus oder Antisemitismus nicht, aber wir sprechen anders über Jugendliche, die womöglich gefährdet sind, ihnen anzuhängen und nachzulaufen. Denn Bindung kommt vor Bildung, Beziehung vor Erziehung und Kommunikation vor Repression.