„Konfrontative Religionsbekundung“?! Pädagogische Zugänge zu Konflikten jenseits von religiösem Othering und Alarmismus
17. Februar 2022 | Radikalisierung und Prävention

In Beiträgen zu Konflikten in der Bildungsarbeit findet sich immer häufiger der Begriff der „konfrontativen Religionsbekundung“ (oder „-ausübung“), um Aussagen und Verhaltensweisen von muslimischen Jugendlichen zu beschreiben. Dieser Beitrag zeichnet die Geschichte und den Kontext des Begriffes „konfrontative Religionsausübung“ nach und verweist auf dessen zunehmend problematische Verwendung.

Der Text ist eine Vorabversion eines Beitrags, der für die Bundeszentrale für politische Bildung/ bpb erstellt wurde und im Herbst 2022 im Sammelband „Islamismusprävention in pädagogischen Handlungsfeldern. Rassismuskritische Perspektiven“ (herausgegeben von Dilek Dipcin, Philippe Marquardt, Caroline Bossong, Frank Schellenberg und Johannes Drerup) in der bpb-Schriftenreihe (10718) erscheinen soll.

In aktuellen Verwendungen des Begriffes stehen schulrechtliche und sicherheitspolitische Perspektiven im Mittelpunkt, hinter denen die pädagogische Dimension von provokativen und konflikthaften Verhaltensweisen zurücktritt. Damit geht eine Besonderung („Othering“) von tatsächlich oder vermeintlich religiös begründeten Aussagen und Verhaltensweisen einher, mit der eine Stigmatisierung der betreffenden Jugendlichen verbunden ist: Ein Verhalten, das als provokativ oder konfrontativ wahrgenommen und als religiös begründet gedeutet wird, erscheint danach im Unterschied zu „normalen“ Provokationen und konfrontativem Verhalten von Jugendlichen als grenzüberschreitend und als besonders sanktionierungswürdig. Aus einem individuellen Verhalten, das als Hinweis auf eine islamistische Ideologisierung gedeutet wird, erwächst in dieser Lesart eine Gefahr für den Schulfrieden und letztlich für die gesellschaftliche Ordnung.

In dieser Verwendung ist der Begriff für die pädagogische Arbeit ungeeignet: Er stellt herausfordernde Verhaltensweisen in den Kontext islamistischer Ideologie und Gewalt und verstellt damit den Blick für pädagogische Umgangsweisen, die die Perspektiven und Motivlagen von Jugendlichen berücksichtigen und auf mittelfristige Verhaltens- oder Einstellungsänderungen der betreffenden Jugendlichen abzielen.

Kontext und Begriffsgeschichte

„Lehrer beklagen islamistische Tendenzen in deutschen Schulen“ (Evangelischer Pressedienst 2020) – unter dieser Schlagzeile gab der Evangelische Pressedienst Einschätzungen von Lehrkräften und Schulleiter*innen wieder, die in den Wochen nach dem islamistischen Mord an einem französischen Geschichtslehrer in Paris vor einer Zunahme islamistisch motivierter Konflikte in Schulen warnten. So erklärte der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Hans-Peter Meidinger: „Auch hierzulande gibt es von verschiedenen Seiten immer wieder politisch oder religiös motivierte Versuche, Lehrkräfte einzuschüchtern, zu bedrohen bzw. an den Pranger zu stellen. Unterricht und demokratische Werteerziehung dürfen für Lehrkräfte nicht zur Mutprobe werden! Wir sagen: Wehret den Anfängen!“ (Deutscher Lehrerverband 2020)

In Erfahrungsberichten von Lehrkräften werden unter diesen Herausforderungen allerdings sehr unterschiedliche Konflikte gefasst. Sie reichen von Aussagen von Schüler*innen, die sich aus religiösen Gründen einer Beschäftigung mit bestimmten Unterrichtsinhalten (z.B. Musik, Evolutionstheorie, Sexualkunde) verweigern, über Konflikte über die Durchführung von Gebeten in Schulräumen bis hin zu Berichten über Jugendliche, die sich zustimmend zu Gewalttaten islamistischer Organisationen äußern. So behandelt eine Veröffentlichung der Konrad-Adenauer-Stiftung unter dem Titel „Konfrontative Religionsausübungen von muslimischen Schülerinnen und Schülern. Problemlagen und Handlungsmöglichkeiten“ (Kiefer 2021) nicht nur Mobbing und das Ausüben von sozialem Druck, sondern auch unterschiedliche Stadien islamistischer Radikalisierung.

In diesem weiteren Sinne findet sich der Begriff der konfrontativen Religionsausübung auch im Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung des Landesprogramms Radikalisierungsprävention des Berliner Senats (Jaschke/Tausendteufel 2018), in dem von einer Vielzahl – wenngleich in der Regel nicht durch repräsentative Erhebungen belegter – religiös gefärbter Konflikte berichtet wird: „Unabhängig vom Vorkommen fortgeschrittener Radikalisierung an Schulen kann man im Zusammenhang mit Islamismusprävention radikale Einstellungen unter Schülern und konfrontative Religionsausübung nicht ausblenden. Die Atmosphäre an Schulen, in denen derartige Einstellungen und Probleme gehäuft auftreten, kann Radikalisierungen auslösen bzw. sie beschleunigen“ (ebd.: 67).

Der Begriff selbst ist keineswegs neu. Bereits 2013 wurde er in einem Vermerk des Landesinstitutes für Lehrerbildung Hamburg verwendet, um „religiös gefärbte Konfliktlagen an Hamburger Schulen“ (Landesinstitut für Lehrerbildung Hamburg 2013) zu beschreiben. Darunter wurden unter anderem „eine aggressive verbale Konfrontation mit Lehrkräften und Mitschülern“ bzw. „Religionsbezeugungen in konfrontativer Absicht“ (ebd.: 2) gefasst. In der Übersicht über entsprechende Vorfälle in verschiedenen Schulen ging der Verfasser[1] auch auf einen zunehmenden Einfluss von islamistischen, insbesondere salafistischen Akteuren ein, der in den betreffenden Stadtteilen von Lehrkräften und Schulleitungen mit wachsender Sorge beobachtet wurde.

Die hier angesprochenen Verhaltensweisen wurden in diesem Vermerk nicht zwangsläufig als Ausdruck einer durch islamistische Akteure beförderten Ideologisierung beschrieben, vielmehr wurden unterschiedliche Motivationen herausgestellt: „Es dürfte sich damit in manchen Fällen um eine Strategie aus einem organisierten Vorgehen heraus handeln, in anderen um ein Verhalten lediglich aus individuellem Antrieb“ (ebd.: 4). In den Handlungsempfehlungen betonte der Autor daher die pädagogische Dimension des Phänomens. Es gehe im Umgang mit diesen Konflikten weniger um eine „rein negatorische Abwehr“ seitens der Schule als um die „praktische Gestaltung eines positiven Zusammenlebens“, was eine „demokratiepädagogische Fundierung von Unterrichtsbetrieb und Schulkultur“ (ebd.: 5) voraussetze.

Dieses Problemverständnis spiegelt sich in der von Kurt Edler verfassten Praxishilfe „Islamismus als pädagogische Herausforderung“ (2015). Ausgehend von einer Auseinandersetzung mit Islamismus und Dschihadismus widmet sich Edler unterschiedlichen Ausdrucksformen von „konfrontativen Religionsbekundungen“, die er im Unterschied zu manifesten Formen islamistischer Ideologie als „vorpolitisch“ (Edler 2015: 11) beschreibt. In diesem Verständnis des Begriffes kommt der Versuch zum Ausdruck, Radikalisierungen in ihrer Prozesshaftigkeit zu beschreiben: Radikalisierung beginnt nicht mit der Artikulation einer ausformulierten Ideologie oder der ausdrücklichen Bereitschaft zur Gewalt, sondern steht für eine schrittweise Übernahme von Ideologieelementen und Verhaltensmustern, die im Extremfall in Gewalt münden kann. Prävention – verstanden als universelle Prävention – reagiert insofern nicht auf Gewalt oder Straftaten, sondern will Einstellungen und Verhaltensweisen vorbeugen, in denen sich beispielsweise antidemokratische oder antipluralistische Orientierungen widerspiegeln.

Mit dieser Differenzierung reagierte Edler auf Unsicherheiten unter Pädagog*innen, die bereits in den Jahren nach den islamistischen Anschlägen in London im Jahr 2005 und dem zeitgleichen Erstarken einer salafistischen Szene in Deutschland zu beobachten waren, die sich aber mit den Anschlägen in Frankreich seit 2012 und der Beteiligung von jungen Menschen aus Deutschland an dschihadistischer Gewalt in Syrien in den Folgejahren weiter verstärkten. In diesem Kontext ließ sich der Begriff als Versuch verstehen, für Zusammenhänge von „Alltagsverhalten“ und möglichen Radikalisierungen zu sensibilisieren (beispielsweise in Bezug auf religiös begründete Wahrheitsansprüche, die sich entwicklungspsychologisch sowohl als jugendphasentypische Einstellungen als auch als Ausdruck islamistischer Ideologisierung erklären lassen). Zugleich forderte der Begriff zu einer Differenzierung auf und regte Pädagog*innen dazu an, herausfordernde Verhaltensweisen oder Aussagen als pädagogische Herausforderungen anzugehen und auf mögliche Hintergründe zu befragen, die auch aus anderen, nicht-religiös gerahmten Kontexten bekannt sind (beispielsweise als provokatives Verhalten oder Mobbing). Bei aller Konflikthaftigkeit entsprechender Situationen und der Notwendigkeit, hierfür Umgangsstrategien zu finden, ließ sich der Begriff der „konfrontativen Religionsbekundung“ in diesem Sinne als Appell verstehen, genau hinzusehen und ins Gespräch zu kommen, aber gerade nicht zu dramatisieren und letztlich alltägliche Verhaltensweisen von Jugendlichen entsprechend auch nicht als Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu behandeln. So wies Edler ausdrücklich auf die Problematik hin, die mit einer einseitig auf Sanktionen ausgerichteten Reaktion verbunden ist. „Die Gefahr, religiöse Symbole oder Praktiken leichtfertig in eine politische Schublade zu stecken, ist groß. Hier könnte dann ungewollt ein Mechanismus wirken, den die Kriminologen Labeling Approach nennen: Voreilig zugeschriebene politische Radikalität wird von Jugendlichen übernommen und als Teil der eigenen Identität verinnerlicht“, schrieb Edler dazu. „Auch in der Pädagogik muss die Unschuldsvermutung gelten“ (ebd.: 35-36). An anderer Stelle führte Edler dies weiter aus und verwies auf den Einfluss des Schulklimas auf mögliche Radikalisierungen: „Diskriminierungserfahrungen an der Schule oder im Lebensumfeld können für Hasskonstrukte empfänglich machen. Schulen müssen sich der Tatsache bewusst sein, dass ein schlechtes Binnenklima in ihrem Haus indirekt radikalisierungsfördernd wirken kann – so wie es auch andere Formen selbstschädigenden Verhaltens begünstigen kann“ (Edler 2021: 10).

„Wehret den Anfängen“ einer islamistischen Radikalisierung?

In aktuellen Debatten wird der Begriff der „konfrontativen Religionsbekundung“ allerdings zunehmend als Synonym für islamistische Verhaltensweisen verwendet und verstärkt auch in politischen Debatten eingebracht. Dabei bezieht sich der Begriff nahezu durchgängig auf das Verhalten von muslimischen – oder als muslimisch markierten – Jugendlichen; andere religiöse Hintergründe werden, wenn überhaupt, nur beiläufig angesprochen, aber als aktuell nicht relevant abgetan.

Das bemängelte Verhalten erscheint in diesen Darstellungen nicht mehr als pädagogische Herausforderung, sondern als ideologisch motivierter Regelbruch, der auf individueller Ebene einen zunehmenden gesellschaftlichen Einfluss islamistischer Strömungen widerspiegelt. So forderte die Initiative „PRO Berliner Neutralitätsgesetz“, die sich für die Beibehaltung des Berliner Neutralitätsgesetzes einsetzt, die Bildungsverwaltung in Berlin im Februar 2021 dazu auf, ein „Register für die Erfassung und Dokumentation von Fällen konfrontativer Religionsbekundung und religiösen Mobbings an Berliner Schulen“ (Initiative Pro Berliner Neutralitätsgesetz 2021) einzurichten. Eine solche Stelle sei notwendig, damit „konkrete Gefahrensituationen gerichtsfest dokumentiert werden können“ (ebd.), wie es nach einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes (BAG) erforderlich ist, um ein Verbot des Kopftuches bei Lehrerinnen zu rechtfertigen. So hatte das BAG mit Verweis auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 2015 entschieden, dass „das Verbot des Tragens eines sog. islamischen Kopftuchs nur im Fall einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität“ (Bundesarbeitsgericht 2020) zulässig sei.

Diese Argumentation wurde auf politischer Ebene aufgegriffen, um die Einrichtung einer „Anlauf- und Registerstelle konfrontative Religionsbekundungen“ für den Bezirk Berlin-Neukölln im September 2021 zu begründen. So erklärte der Jugendstadtrat des Bezirks den Bedarf an einer solchen Registerstelle auch mit einem Hinweis auf eine vermeintlich übergeordnete politische Dimension entsprechender Konflikte, die durch die neu geschaffene Stelle über den Einzelfall hinaus dokumentiert werden soll. “Konfrontative Religionsbekundung widerspricht dem Wesen nach diametral den Werten der demokratischen Schule und unserer Gesellschaft“, hieß es in einer Pressemitteilung des Bezirksamtes anlässlich der Bewilligung von Fördermitteln für die Registerstelle. „Was wir hier in Neukölln erproben, hat Bedeutung für das ganze Land, weil es nicht um Einzelfälle geht, sondern um Strukturen“ (Bezirksamt Neukölln 2021).

Im Konzept der geplanten Stelle, die sowohl als „Anlauf-“ als auch als „Registerstelle“ gedacht ist, kommt die Verschiebung von einer pädagogischen zu einer sicherheitspolitischen Perspektive beispielhaft zum Ausdruck. So wird der Begriff der konfrontativen Religionsbekundung hier als „religiöse Praxen sowie religiös konnotiertes (Alltags)Verhalten (definiert, G.N.), die in der (Schul-) Öffentlichkeit ausgelebt und ausagiert werden, auf die Herstellung von Aufmerksamkeit zielen, provozieren wollen, erniedrigen und/oder Dominanz herstellen sollen“ (DeVi 2021: 8). Entsprechende Verhaltensweisen und die damit einhergehende „objektive Gefährdung (…), die vom Islamismus ausgeht“ (ebd.: 21), müssten demnach im Mittelpunkt einer Präventionsarbeit stehen, die der Dringlichkeit gerecht wird.

Auch hier geht es nicht allein um ein individuelles Verhalten einzelner Jugendlicher, sondern um einen individuellen Ausdruck einer übergeordneten islamistischen Strategie. So sprechen die Initiatoren der Registerstelle mit Blick auf Schulen mit einem hohen Anteil muslimischer Schüler*innen von einem Schulklima, das bisweilen an die „national befreiten Zonen“ in Ostdeutschland der 1990er Jahre erinnere (Mermania 2021).

In diesem Verständnis von „konfrontativen Religionsbekundungen“ als individuellem Symptom einer islamistischen Radikalisierung rücken Einstellungen und Verhaltensweisen, die von Jugendlichen „mit dem Islam“ begründet und von Fachkräften als provokativ wahrgenommen werden, in die Nähe von verfassungswidrigen Bestrebungen und erfordern daher eine Sanktion. Ausschlaggebend für die Begründung dieser Sanktion ist dabei weniger das konfrontative Verhalten selbst als vielmehr der Bezug auf die Religion, der von den Jugendlichen angeführt wird. Dadurch geraten letztlich alle Formen von demonstrativer und selbstbewusster Religiosität – insbesondere auch solche, welche sich gegen rassistische Diskriminierungen wenden und Gleichheitsgrundsätze als Muslim*innen einfordern – in den Verdacht, auf Islamismus und Radikalisierung hinauszulaufen. Mit der Beschreibung von provokativen Einstellungen und Verhaltensweisen als „konfrontative Religionsbekundungen“ geht insofern die Gefahr einher, das Verhalten auf „den Islam“ zu reduzieren, was die Suche nach anderen Motiven für das Verhalten ausschließt. Zudem suggeriert der Begriff, dass es sich bei religiös gerahmten Provokationen und Konfrontationen um ein besonders dringliches Problem handele, das sich in seiner Schärfe wesentlich von anderen Provokationen durch Jugendliche unterscheidet.

Konflikte im Zusammenhang mit Pluralität

Auffallend ist in diesen Argumentationen das weitgehende Fehlen der Perspektiven von Schüler*innen selbst auf die Konflikte im schulischen Raum. Die Interpretation dieser Konflikte erfolgt weitgehend aus der institutionellen Perspektive von Lehrkräften bzw. Schulleitungen, ohne dabei lebensweltliche Erfahrungen, Interessen und Perspektiven der Schüler*innen zu berücksichtigen. Es geht um das Einhegen von Jugendlichen und die Sanktionierung von Regelbrüchen im Sinne des Schulfriedens (und der öffentlichen Sicherheit), aber nicht um die Frage nach den Motiven, die entsprechenden Verhaltensweisen zugrunde liegen. Kurz: Die Jugendlichen haben keine Probleme, sie machen welche.

Vor dem Hintergrund der islamistischen Anschläge der vergangenen Jahre – und insbesondere des Anschlags in Paris, der sich gezielt gegen einen Lehrer richtete und vom Täter mit dem Unterricht des Opfers begründet wurde – ist die Verunsicherung von Lehrkräften nachvollziehbar, die in den Reaktionen auf vordergründig religiös-motivierte Konflikte im Schullalltag zum Ausdruck kommen. Ebenso erklärlich ist der Nachdruck, mit dem unmittelbare Lösungsansätze beispielsweise für den schulischen Bereich eingefordert werden.

Tatsächlich verweisen Berichte, wie sie im Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung des Landesprogramms Radikalisierungsprävention des Berliner Senats (Jaschke/Tausendteufel 2018) wiedergegeben werden, auf vielfältige Spannungen und Konflikte in Bildungseinrichtungen, in denen Fragen von Religion, Identität und Zugehörigkeit eine Rolle spielen. Dabei wird allerdings eine Diskrepanz deutlich zwischen der medialen und politischen Aufmerksamkeit, die den als religiös gedeuteten Konflikten zukommt, und der dokumentierten Zahl der Fälle, die sich nicht auf schulischer Ebene lösen ließen. So betonte der hessische Kultusminister in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage zur Anzahl der Fälle, in denen muslimische Eltern ihren Kindern aus religiösen Gründen eine Teilnahme an Schulveranstaltungen verweigerten, dass entsprechende Konflikte in der Regel schulintern „vor Ort im Einvernehmen mit den Schülerinnen und Schülern, deren Eltern, den Lehrkräften und Schulleitungen sowie gegebenenfalls weiteren Akteur*innen und Akteuren“ (Hessischer Landtag 2021: 2) gelöst würden. Innerhalb von fünf Jahren hätten die Staatlichen Schulämter in Hessen von insgesamt 18 Fällen Kenntnis erhalten, von denen lediglich zwei ein Ordnungswidrigkeitsverfahren zur Folge hatten. Es ist davon auszugehen, dass sich die Zahlen in anderen Bundesländern auf einem ähnlich niedrigen Niveau bewegen.

In Berichten über „konfrontative Religionsbekundungen“ an Schulen gerät häufig die Vielschichtigkeit der Konfliktlagen und der dahinter liegenden Motivationen aus dem Blick, die das Zusammenleben in heterogenen Gesellschaften – und damit zwangsläufig auch im Klassenzimmer – prägen. So bestätigen verschiedene Studien den Einfluss von rassistischen Diskriminierungen auch im Bildungskontext (vgl. dazu Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2021: 198-203, Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung/Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration  2017, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2015). Dabei geht es nicht allein um rassistische Zuschreibungen unter Schüler*innen, sondern auch um Wahrnehmungen und Haltungen von Lehrkräften, die entsprechende Zuschreibungen und damit verbundene Abwertungen von muslimischen Jugendlichen verstärken.

In den vergangenen Jahren ist allerdings ein Wandel der Grenzziehungen zwischen diesem Wir und den Anderen zu beobachten. Anders als noch in den 1990er Jahren gründet diese Markierung heute weniger in Staatsbürgerschaft („Ausländer“) und Herkunft als in realer oder angenommener Religionszugehörigkeit. Damit einher geht ein Wandel der konkreten Zuschreibungen, die die Wahrnehmung des Verhaltens der betroffenen Jugendlichen prägen. „Binnen weniger Jahre scheinen die als Migranten oder Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund geltenden Menschen nicht mehr an Identitäts- und Kulturkonflikten zu leiden, sondern an ihrer religiösen Zugehörigkeit“ (Mecheril/Olalde 2021: 118). Religion steht in dieser Form eines religiösen Othering nicht für einen individuellen Glauben, sondern als „identitäres Schicksal“ (ebd.: 113), das den oder die Einzelne*n auf ein durch kulturelle und religiöse Prägungen bestimmbares Kollektiv „der“ Muslim*innen festlegt. Unabhängig vom individuellen Selbstverständnis und jenseits des persönlichen Willens werden Jugendliche, die als muslimisch wahrgenommen werden, dabei zu „Exemplaren“ (ebd.: 117) des Islams, deren Verhalten sich aus religiösen Prägungen ableitet.

In diesem Zusammenhang verweist Michael Kiefer auch auf die Vielschichtigkeit von Religion und Religiosität, die eine Aussage darüber, was genau als „religiöses Verhalten“ zu beschreiben wäre, erschwert: „Ist jemand religiös, wenn er islamische Begriffe oder Floskeln in sein Sprechverhalten einfließen lässt? Macht der Gebrauch der Rufformel ‚Allahu Akbar‘ automatisch aus dem Ausrufer einen religiösen Muslim? Wieviel muss es sein und welche Qualität wird verlangt, damit ein Verhalten oder eine Performance als religiös gilt? Geht es hierbei nur um das äußerlich Wahrnehmbare oder geht es auch um eine innere Haltung, die z. B. auch ein gewisses Maß an Spiritualität umfasst?“ (Kiefer 2020: 76). Die Erklärung eines Verhaltens mit der Religion einer Person verkürzt diese Vielschichtigkeit zwangsläufig auf einen vermeintlich klar bestimmbaren Kern des Islams.

In Forschungen zu Identitätsbildungsprozessen von Jugendlichen mit Migrationsbiografien wurde vielfach auf die Wirkung entsprechender Fremdzuschreibungen hingewiesen. So entspringt der Bezug auf den Islam als Teil des eigenen Selbstverständnisses nicht unbedingt einem intrinsischen Wunsch nach Spiritualität oder religiöser Praxis, sondern lässt sich oft auch als Suche nach einer „Rückzugs-“ oder „Restidentität“ in Reaktion auf eine verweigerte Zugehörigkeit und Anerkennung in der Gesellschaft beschreiben. Bereits in der viel – und kontrovers – diskutierten Studie „Verlockender Fundamentalismus“ hatten Heitmeyer, Müller & Schröder in den 1990er Jahren auf einen solchen Zusammenhang hingewiesen. Sie beschrieben die Übernahme einer „religiös fundierten Gewaltbereitschaft“ als „Reaktion auf fremdenfeindliche Gewalt und die Verweigerung der Anerkennung einer kollektiven Identität der Mehrheitsgesellschaft, aber auch konkrete Diskriminierungserfahrungen im privaten Bereich sowie die negativen Folgen der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse“ (Heitmeyer et al. 1997: 183-184).

Ein ähnlicher Zusammenhang wurde auch in der Studie „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ sichtbar, die 2012 im Auftrag des Bundesinnenministeriums veröffentlicht wurde. Die Studie basierte zum Teil auf Befragungen, die in der Zeit der Sarrazin-Debatte stattfanden, und gab Hinweise auf die Auswirkungen der breiten gesellschaftlichen Debatte über die rassistischen Thesen Thilo Sarrazins auf Einstellungen von Muslim*innen in Deutschland. Die Autoren beschrieben die Ergebnisse ihrer Studie wie folgt: „Mit der Veröffentlichung des besagten Buches („Deutschland schafft sich ab“, G. N.) und durch die anschließenden Debatten haben sich möglicherweise die nichtdeutschen Muslime als noch weiter aus der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen wahrgenommen und deshalb mit noch stärker ausgeprägten Vorurteilen gegenüber dem Westen und den Juden und mit einer noch stärkeren Abgrenzung von der Kultur der deutschen Mehrheitsgesellschaft reagiert“ (Frindte 2012: 592).

Der demonstrative Bezug auf den Islam, wie er von Jugendlichen bisweilen zur Begründung ihres Verhaltens hergestellt wird, ist insofern nicht zwangsläufig Ausdruck eines persönlichen Bekenntnisses zu islamischen Glaubensvorstellungen, sondern lässt sich auch als Folge einer Suche nach einer alternativen Gemeinschaft und Zugehörigkeit verstehen. Auch in dieser Hinsicht verstellt der Begriff der „konfrontativen Religionsbekundung“ daher den Blick für die Motive („das Thema hinter dem Thema“), die die vordergründig mit dem Islam begründeten Verhaltensweisen erklären könnten.

Für Mecheril und Olalde beschränkt sich die Wirkung eines „religiösen Otherings“ nicht auf die Definition des Anderen; die Markierung als „Muslim“ dient auch „der Legitimation spezifischer Behandlungsweisen“ (Mecheril/OIalde 2021: 110), mit denen beispielsweise die Institution Schule auf das Anderssein reagiert. Anders als in ausländer- oder interkulturell-pädagogischen Zugängen zu Diversität und Heterogenität, wie sie in den erziehungswissenschaftlichen Debatten der 1980er und 1990er formuliert wurden, gehe es in heutigen Ansätzen nicht mehr um die Kompensation von herkunfts- oder migrationsbedingten Defiziten bei Jugendlichen beispielsweise in Bezug auf Sprache, sondern zunehmend „um Risikoabschätzung und -management“ (ebd.: 118) von Einstellungen und Verhaltensweisen, die in der Religion der als muslimisch markierten Jugendlichen begründet seien.

Das „Risikomanagement“, das mit der oben beschriebenen Verwendung des Begriffes „konfrontative Religionsbekundungen“ verbunden ist, betrifft den unmittelbaren pädagogischen Umgang mit dem oder der betroffenen Schüler*in, geht aber deutlich darüber hinaus. So spielt in Beiträgen zu möglichen Konflikten, die durch sichtbare Religiosität im Bildungskontext ausgelöst werden könnten, der Hinweis auf mögliche Gefährdungen des Schulfriedens eine wichtige Rolle. Im juristischen Kontext stand der Begriff des Schulfriedens lange Zeit vor allem im Zusammenhang mit politischen Aussagen von Schüler*innen (z. B. durch das Tragen von „Stoppt Strauß“-Ansteckern), die als potenzielle Gefahr für einen geordneten Schulablauf und die Erfüllung des Bildungs- und Erziehungsauftrags der Schule gesehen wurden. In jüngeren rechtlichen Auseinandersetzungen spielen hingegen zunehmend auch Fragen der Religionsfreiheit eine Rolle – wobei die Wahrung des Schulfriedens dabei vielfach als Gegenpol zur Religionsfreiheit gefasst wird. Tobias Schieder (2020) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Begriff des Schulfriedens damit einseitig auf den Schutz der ordnungsgemäßen schulischen Abläufe gegen problematische Formen der Religionsausübung verkürzt werde. Dagegen betont er, dass die Gewährleistung der Religionsfreiheit selbst zum schulischen Auftrag gehöre; eine Gefährdung des Schulfriedens ist danach nicht nur durch religiöse Praktiken, sondern auch durch die Einschränkung von religiösen Praktiken denkbar.[2] So verweist er auf schulrechtliche Regelungen in Bayern, wo die „Ehrfurcht vor Gott“ oder die „Achtung vor religiöser Überzeugung“ (Art. 1 BayEUG) als oberste schulgesetzliche Bildungsziele verankert sind, oder auf den schulischen Auftrag, auf eine größtmögliche Entfaltung der Persönlichkeit der Schüler*innen hinzuarbeiten, wie es im Berliner Schulgesetz formuliert ist. Angesichts solcher rechtlich fixierten Zielsetzungen könne „nicht ernsthaft vertreten [werden, G.N.], religiöse Übung gefährde schon auf abstrakt-genereller Ebene den Schulfrieden“ (Schieder 2020: 71).

Eine ähnliche Problematik findet sich auch auf individueller Ebene, wenn religiöse Praktiken oder Aussagen, die von anderen als provokativ oder konfrontativ wahrgenommen werden, unmittelbar als Einschränkung der negativen Religionsfreiheit (Freiheit von Religion im Unterschied zur positiven Religionsfreiheit im Sinne einer Freiheit der Religionsausübung) gedeutet werden. So betont Çefli Ademi, dass die negative Religionsfreiheit „zwar davor [schütze, G.N.], in unzumutbarer Weise mit Religiosität konfrontiert zu werden. Es gibt jedoch kein Grundrecht auf einen umfassenden Konfrontationsschutz. Die Weigerung, Andersartigkeit wahrnehmen zu wollen, fällt nicht unter den grundrechtlichen Schutzbereich“ (Ademi 2020). Grundrechte, so fügt er hinzu, seien eben auch Minderheitenrechte, die unabhängig von der Toleranz der Mehrheitsgesellschaft Geltung beanspruchen.

An diesem Beispiel werden auch die Grenzen einer „Grundrechtsklarheit“ sichtbar, wie sie als notwendige Haltung in der Begegnung von „konfrontativen Religionsbekundungen“ eingefordert wird (vgl. DeVi 2021: 44-46). Selbstverständlich bilden die Grundrechte die Grundlage des pädagogischen Handelns; allerdings lassen sich viele Konflikte eben nicht als eindeutige Rechtsverstöße beschreiben – gerade deswegen werden sie in der pädagogischen Praxis als herausfordernd erlebt. So erscheint der Hinweis auf „Grundrechtsklarheit als pädagogischem Auftrag“ (ebd.: 44) von Lehrkräften in dieser Hinsicht merkwürdig ambitionslos. Für den Umgang mit entsprechenden Konflikten bedarf es weniger Grundrechtsklarheit als konkreter praktischer Kompetenzen. Schließlich verweisen die Erfahrungen der Wertebildung und Demokratiepädagogik auf die Grenzen einer Pädagogik, die Werte direktiv vermitteln und gegen Widerstände durchsetzen will.

Alternative Zugänge und Umgangsweisen

Die oben beschriebenen Herausforderungen, die sich bei der Bezeichnung und Beschreibung von Verhaltensweisen ergeben, die von Fachkräften als provokativ oder konfrontativ wahrgenommen werden, zeigen sich auch in der Arbeit von ufuq.de. Auch in unseren Fortbildungen und Beratungen, die wir im Themenfeld Islam, Rassismus und Islamismus anbieten, wird von Fachkräften immer wieder die Frage aufgeworfen, wie sich „selbstverständliche“ – im Sinne von „unproblematischen“ und durch die Religionsfreiheit gedeckten – Ausdrucksformen von Religiosität von Anzeichen einer Ideologisierung und/oder einer Hinwendung zu islamistischen Szenen abgrenzen lassen. Dabei verweisen schon Begriffe wie „selbstverständlich“ oder „unproblematisch“ auf die Schwierigkeit einer entsprechenden Abgrenzung. In der pädagogischen Praxis verbinden sich diese Herausforderungen mit der Notwendigkeit, dem Einfluss von rassistischen und versicherheitlichenden Diskursen auf das eigene Handeln entgegenzuwirken.

In unseren Fortbildungen hat sich eine Orientierung an drei Merksätzen bewährt, die eine Einschätzung und Abgrenzung von herausfordernden Verhaltensweisen und Konflikten erleichtern, ohne dabei rassistische Zuschreibungen zu reproduzieren und pädagogisches Handeln an einer Verdachtslogik (im Sinne eines „Risikomanagements“) auszurichten. Dabei geht es darum, jene Kippstellen zu identifizieren, an denen ein Verhalten oder eine Aussage von einer legitimen Religionsbekundung in eine Verhaltensweise übergeht, die eine pädagogische Reaktion – im Sinne von gezielten Nachfragen, aber eventuell auch einer Sanktionierung – erforderlich macht.

  • Der Bezug zum Islam bietet Jugendlichen das Gefühl von Gemeinschaft, geht bei einigen Jugendlichen aber auch mit dem Wunsch nach Normierung und Dominanz und Antipluralismus einher.
  • Der Bezug zum Islam stiftet Identität, kann aber auch Abgrenzung und Abwertung begünstigen.
  • Der Bezug zum Islam vermittelt Orientierung, kann aber auch in einen Anspruch auf absolute Wahrheit umschlagen.

Für Fachkräfte bieten diese Merksätze eine Grundlage, um die konkrete Problematik einer Verhaltensweise zu benennen. So kann der Bezug zum Islam – auch in demonstrativer Form – ähnlich wie Bezüge auf andere (Religions-)Gemeinschaften identitäts- und sinnstiftend sowie wertbildend wirken und ist daher selbstverständlich legitim und unproblematisch. Eine solche Form von Religiosität kann für Jugendliche eine Ressource sein, die Gemeinschaft, Identität und Orientierung vermittelt. Religion kann aber auch als Grundlage dienen, um sich abzugrenzen, andere abzuwerten und Druck auszuüben. In dieser Form – zum Beispiel als Abwertung und sozialer Druck – wird das Verhalten problematisch und erfordert eine pädagogische Reaktion.

An einem Beispiel lässt sich dies veranschaulichen:

Ein Schüler sagt zu einem Mitschüler während des Ramadans: „Was, Du trinkst? Dann bist Du kein guter Muslim und kommst in die Hölle!“ Die Aussage steht für den Anspruch auf eine eindeutige und absolute Wahrheit in Bezug auf das religiöse Gebot des Fastens und verbindet sich hier mit einer Form des sozialen Drucks, der darauf abzielt, zu normieren und Gehorsam einzufordern. Problematisch dabei ist allerdings nicht der Bezug auf den Islam, sondern die Normierung und der soziale Druck.

Auf dieser Grundlage lässt sich eine pädagogische Reaktion entwickeln, die zunächst auf den konkreten Regelbruch reagiert: Als Pädagog*in sanktioniere ich das Ausüben von sozialem Druck, Abwertungen und Beleidigungen oder Mobbing.[3] Der Vorteil eines solchen Zugangs liegt darin, dass für die Schüler*innen deutlich wird, aus welchem konkreten Anlass die Reaktion erfolgt – und dass dieser Anlass für alle Schüler*innen ähnliche Konsequenzen hätte. Damit bietet sich auch die Möglichkeit, die zugrundeliegenden Regeln und Sanktionen selbst mit den Schüler*innen in einer machtkritischen Perspektive zu reflektieren. Schließlich werden diese nicht willkürlich durch die Lehrkraft gesetzt, sondern sind Ausdruck gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, an denen idealerweise auch Schüler*innen mitwirken. In der pädagogischen Reaktion geht es damit nicht um eine Problematisierung „der Religion“ des*r Schüler*in, sondern um die transparente Sanktionierung eines Verhaltens, das unabhängig von der dahinterstehenden Motivation einen Regelbruch darstellt.

Gleichwohl spielen die Ursachen und Motivationen, die hinter einem problematischen Verhalten stehen, natürlich auch in diesem Ansatz eine Rolle – allerdings nicht für die Begründung der Sanktion, sondern für die Frage nach den pädagogischen Umgangsweisen, mit denen der*die betreffende Jugendliche dazu angeregt werden kann, sein Verhalten zu reflektieren und idealerweise zu verändern. Schließlich setzt eine Sanktion zunächst nur Grenzen, stößt aber nicht zwangsläufig eine Veränderung an. Insofern ist auch hier ein Blickwechsel erforderlich: Jugendliche machen nicht nur Probleme, sie haben auch welche. Im Mittelpunkt der pädagogischen Reaktion steht insofern die Frage nach dem „Thema hinter dem Thema“, das den*die Schüler*in zu diesem Verhalten veranlasst.

So verweisen Forschungen zu Radikalisierungsprozessen auf die Vielzahl der Schutz- und Risikofaktoren, die die Hinwendung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu islamistischen Ideologien beeinflussen und sich in entsprechenden Bewältigungsstrategien wie Selbstüberhöhung, der Vereindeutigung von Rollenmustern oder der Projektion von Ängsten ausdrücken. Neben individuellen und familiären spielen dabei auch soziale und ideologische Faktoren eine Rolle, die die Übernahme von antidemokratischen und antipluralistischen Deutungs- und Gemeinschaftsangeboten begünstigen können. Entsprechend vielfältig sind die Ansätze, die in der universellen Präventionsarbeit auch im Bildungsbereich in den vergangenen Jahren entwickelt und erprobt wurden (vgl. u.a. Danner et al. 2021, Wallner 2020 und UNESCO 2018). Neben Ansätzen der politischen Bildung, die auf die Förderung von Urteils- und Handlungskompetenzen beispielsweise im Umgang mit gesellschaftlicher Pluralität abzielen, zählen hierzu auch geschlechterreflektierende Ansätze, die für unterschiedliche Geschlechterrollen und sexuelle Orientierungen sensibilisieren und damit rigiden und normierenden Rollenmustern entgegenwirken. Hierzu gehören auch Ansätze der religiösen Bildung, die sich ausdrücklich auch mit religiösen Dimensionen von Radikalisierungsprozessen (beispielsweise in Bezug auf eine Vereindeutigung religiöser Traditionen, rigide Geschlechterrollen oder die Abwertung von Andersgläubigen) auseinandersetzen.

Unabhängig von der konkreten Situation und den Motiven, die hinter einem als konfrontativ wahrgenommenen Verhalten stehen, ist es in der Praxis allerdings immer erforderlich, einen Schritt zurück zu treten und eigene Wahrnehmungen zu hinterfragen. Dabei spielen neben eigenen Vorbehalten beispielsweise gegenüber Religion auch gesellschaftliche Diskurse über „den“ Islam und „die“ Muslim*innen eine Rolle und prägen die Wahrnehmungen von Schüler*innen und deren Verhaltensweisen. So stehen auch rigide Glaubensvorstellungen und absolute Wahrheitsansprüche nicht per se jenseits der Grenzen, die beispielsweise durch das Kontroversitätsgebot der politischen Bildung gezogen werden. Erst in der Verbindung mit antidemokratischen oder antipluralistischen Einstellungen überschreiten sie eine Grenze, die das Verhalten zu einem Problem machen. Protest, Provokation und Konfrontation an sich sind nicht ausreichend, um ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Einstellung als problematisch zu sanktionieren – zumal gerade Provokationen und Konfrontationen von unterschiedlichen Personen sehr unterschiedlich wahrgenommen werden. Sanktionierungswürdig ist nicht die (reale oder vermeintliche) Provokation oder Konfrontation, sondern ein Regelbruch.

Der Beitrag wurde am 31.12.2021 redaktionell abgeschlossen. Er greift einige Argumente auf, die bereits in einem Beitrag zu dieser Webseite im April 2021 formuliert wurden. Wir danken den Herausgeber*innen und der bpb für die Erlaubnis, den Beitrag hier vorab veröffentlichen zu können.

 


Anmerkungen

[1] In der öffentlich einsehbaren Fassung des Vermerkes ist der Name des Autors geschwärzt. Aufgrund der Angabe seiner Funktion als „Referatsleitung Gesellschaft – Arbeitslehre – Aufgabengebiete“ ist davon auszugehen, dass Kurt Edler, der in dieser Funktion beim Lehrerinstitut für Schulentwicklung Hamburg tätig war, den Vermerk verfasst hat.

[2] Zur rechtlichen Konkretisierung schlägt Schieder folgende Definition des Schulfriedens vor, die die Entwicklung der Rechtsprechung aufgreift: „Schulfrieden bezeichnet einen Zustand, in dem die berechtigten Interessen (d.h. insbesondere die Grundrechte) aller am Schulverhältnis Beteiligten unter Berücksichtigung der gesetzlichen Erziehungsziele eine möglichst weitgehende Verwirklichung finden“ (Schieder 2020: 70).

[3] Dieses Vorgehen lässt sich auch auf den Umgang mit anderen Verhaltensweisen übertragen, die sich beispielsweise auf ethnisch-kulturelle oder heteronormative Motive beziehen. Auch hier ginge es nicht darum, die individuelle Überzeugung in Frage zu stellen (zum Beispiel: „Als Mann ist es mir wichtig, so und so zu sein!“), sondern damit eventuell einhergehenden normierenden und abwertenden Verhaltensweisen entgegenzuwirken.

 


Literatur

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