Queere Identitäten im Kontext von Islam und Rassismus – Über die Vereinbarkeit von Muslimisch-Sein und Queer-Sein sowie schulisch-pädagogische Handlungsmöglichkeiten
19. August 2021 | Diversität und Diskriminierung, Gender und Sexualität, Religion und Religiosität

Queere Muslim*innen und Menschen of Color sind in besonderer Weise von Diskriminierung betroffen. In diesem Beitrag diskutieren Aylin Yavaş, Maryam Kirchmann und Christian Kautz die Vereinbarkeit von Muslimisch-Sein und Queer-Sein im Kontext von Rassismus. Sie stellen pädagogische Handlungsmöglichkeiten im schulischen Rahmen vor, denn Lehrkräfte können Schüler*innen dabei unterstützen, sich frei in ihrer Identität und ohne Diskriminierung zu entfalten. Dabei sollten auch queere Perspektiven von Menschen of Color und Muslim*innen repräsentiert werden.

Queere Muslim*innen und PoC sehen sich vor dem Hintergrund der Integrationsforderungen zunehmend auf ihr zugeschriebenes Anders-Sein reduziert. Sie werden in diesem Prozess zu unterdrückten und zugleich exotisierten Produkten ihrer Kultur gemacht, die zu einem Emanzipationsakt angehalten werden, um innerhalb von weiß-westeuropäischen (queeren) Communitys anerkannt zu werden. Im Selbstbild vom säkularen Westen erscheinen die Identitätsfacetten queer und religiös/muslimisch oder PoC als ein sich ausschließender Gegensatz.

Rassifizierte Jugendliche haben demnach durch die potenzielle Abwertung der eigenen Existenz und Kultur nicht die gleichen Voraussetzungen zum selbstbewussten Ausprobieren und Ausleben verschiedener sexueller und geschlechtlicher Identitäten, da sie sich in einem kontinuierlichen und ungleichen Machtverhältnis mit der normativen Mehrheitsgesellschaft befinden und gleichsam dem Druck der eigenen Community aushalten müssen. Für die Identitätsentwicklung von Jugendlichen ist es jedoch unabdingbar, diese Facetten zusammenzubringen und intersektional zu denken.

Schulisch-Pädagogische Handlungsempfehlungen

In Deutschland verorten etwa 7,4 Prozent der Menschen ihre Sexualität innerhalb nicht-heterosexueller Spektren (vgl. Dalia 2016, S. 2). Von dieser Zahl ausgehend, finden sich schätzungsweise etwa zwei queere Schüler*innen in jedem Klassenzimmer. Dabei machen sie im Vergleich zu ihren heterosexuellen oder cis-geschlechtlichen Mitschüler*innen häufiger Erfahrungen mit verbaler und körperlicher Gewalt. 55 Prozent der queeren Jugendlichen haben in der Schule Erfahrungen mit verbalen Angriffen gemacht. 10 Prozent erleben körperliche Gewalt in der Schule, Ausbildung oder am Arbeitsplatz (vgl. Krell, Oldemeier 2017, S. 22).

Dabei sind queere Personen of Color in besonderem Maße von Diskriminierung betroffen. Sie erfahren Queerfeindlichkeit in der Gesellschaft, Schule und Familie; als migrantische oder muslimische People of Color sind sie zudem von Rassismus betroffen. Queere Gläubige haben es zudem oftmals besonders schwer, in religiösen Communitys Anerkennung zu finden, da in religiösen Kontexten die Abwertung nicht selten besonders ausgeprägt ist.

Solche Realitäten machen das Thema Queer-Sein und of-Color- und Muslimisch-Sein zu einem zentralen Problemfeld der pädagogischen Praxis, denn die Erfahrungen, die Schüler*innen in ihrer Schulzeit machen, sind tiefgreifend und mitunter nachhaltig traumatisch, während die Gestaltungsmöglichkeiten für eine im Hinblick auf sexuelle und geschlechtliche Identitäten vielfältige Schule gleichzeitig zahlreich sind. Diese umfassen sowohl die personale als auch die strukturelle sowie inhaltliche Ebene. Dabei steht vor allem eins im Vordergrund: Vielfältige queere Lebensentwürfe sollten auf verschiedenen Ebenen des schulischen Alltags sichtbar werden, um queeren Schüler*innen Zugehörigkeit und Unterstützung im schulischen Leben zu ermöglichen.

Personal: Haltung zeigen und Selbstreflexion

Queerfeindliche, heterosexistische und rassistische Beleidigungen sind in Schulen noch immer an der Tagesordnung (vgl. Klocke 2012, S. 5). Solche Beleidigungen sind diskriminierend und schmerzhaft und können tiefgreifende Folgen haben. So liegen oftmals mehrere Jahre zwischen der Entdeckung der eigenen sexuellen Identität und dem öffentlichen Outing [1] (vgl. Krell, Oldemeier 2015, S. 15 ff.). Queere Jugendliche können somit nicht mit derselben Selbstverständlichkeit wie heterosexuelle cis-geschlechtliche Jugendliche zu ihrer Identität stehen.

Lehrkräfte sollten also handeln, wenn sie Zeug*in von Diskriminierung in der Schule werden, selbst wenn vermeintlich keine queeren Jugendlichen beteiligt sind. Kinder und Jugendliche können oftmals noch nicht vollends verstehen, welche Folgen Diskriminierung hat (vgl. Reicher, Matischek-Jauk 2018, S. 251 ff.). Deswegen sollten sie die Chance bekommen, Empathie zu erlernen und ihr Handeln kritisch zu reflektieren: Warum handelt ihr so? Was ist daran problematisch? Was bedeutet dieser Begriff? Oder Empathie zu bestärken: Was macht das mit Menschen, wenn sie so bezeichnet/behandelt werden? Lehrkräfte sollten dabei klar Stellung beziehen und sich entschieden gegen Diskriminierung positionieren. Dabei gilt es, neben der Intervention auch die Betroffenen zu unterstützen. Von Queerfeindlichkeit betroffene Schüler*innen sollte Anerkennung der Erfahrung sowie Hilfsbereitschaft signalisiert werden. In der pädagogischen Praxis werden uns oftmals Situationen geschildert, in der Lehrkräfte zwar Zeug*innen von Queerfeindlichkeit werden, aber diese Angriffe beschwichtigen, indem sie versuchen, Verständnis auf beiden Seiten zu erzeugen, während gleichzeitig eine eindeutige Diskriminierung vorliegt.

Zu diskriminierungskritischem Handeln gehört nicht nur das Einschreiten bei wahrgenommener Diskriminierung, sondern allem voran auch die Reflexion über das eigene Handeln und Sprechen. Wen adressiere ich (direkt oder indirekt), wenn es um das Lösen von Mathematikaufgaben, das Tafelwischen, gemachte Hausaufgaben, das Tragen von Stühlen, die emotionale Unterstützung von Schüler*innen geht? Wessen Wortbeiträge nehme ich besonders ernst? Was sehe und bezeichne ich als normal?

Lehrkräfte sollten sich offen gegenüber verschiedenen religiösen, sexuellen und geschlechtlichen Identitäten zeigen und als Vertrauensperson auftreten. Das kann auch bedeuten, Schüler*innen bei ihrem Outing unterstützend zu begleiten, wenn dies gewünscht ist. Insbesondere wenn es um Namensänderungen oder die richtige Nutzung des Pronomens geht, übernimmt die Lehrkraft eine wichtige Vorbildfunktion in der Klasse. Lehrkräfte sollten in diesen Phasen besonders sensibel für Geschehnisse außerhalb des Unterrichts sein. Erfährt die Person Unterstützung in ihrem Freund*innenkreis und in der Familie? Wie geht es ihr in dem Prozess?

Bei der Frage danach, wie Unterricht inklusiv in Bezug auf sexuelle und geschlechtliche Identitäten gestaltet werden kann, ist die Unterrichtsgestaltung bzw. die Wahl des Unterrichtsmaterials zentral. Über Materialien werden nicht nur Lerninhalte und Informationen, sondern auch Normalitäten transportiert. Mittlerweile einschlägig bekannt sind Studien über die Auswirkung der Reproduktion geschlechtsspezifischer Darstellungen in Unterrichtsmaterialien. Wenn im Mathebuch etwa immer als männlich gelesen Kinder abgebildet werden oder im Englischbuch Papa arbeiten geht, während Mama sich um die Familie kümmert, dann werden diese Rollen immer weiter tradiert. Vielfältige sexuelle und geschlechtliche Identitäten werden in Schulbüchern nur selten abgebildet (vgl. GEW 2018, S. 2 ff.). Umso wichtiger ist es, dass Lehrkräfte die von ihnen genutzten Unterrichtsmaterialien sensibel und divers auswählen bzw. gestalten. Dabei sollten gerade vor dem Hintergrund der Mehrfachdiskriminierung migrantisierter queerer Personen auch queere Personen of Color sichtbar werden. Dazu existieren auf Videoplattformen mittlerweile zahlreiche Videos, in denen queere Menschen of Color ihre Erlebnisse schildern oder als Expert*innen zu den Themen Intersektionalität, Queerfeindlichkeit, Rassismus etc. auftreten.

Die unterrichtlichen Gestaltungsmöglichkeiten sind zahlreich. Nicht geschlechtskonformes Verhalten kann sich in allen Fächern inhaltlich und symbolisch widerspiegeln. Arbeitende Mütter und pflegende Väter, tanzende Jungen* und naturwissenschaftlich-experimentierende Mädchen* sollten sich in allen Fächern wiederfinden. Zudem bieten sich fächerspezifische Inklusionsmöglichkeiten an. So kann im Mathematikunterricht eine Bebilderung von non-binären Personen im Lernbuch genutzt werden. Sprachlehrkräfte können auf Lektüre zurückgreifen, die die Geschichten queerer muslimischer Protagonist*innen erzählen. Geschichtslehrkräfte können die Historie der Kämpfe und Widerstände queerer Personen in verschiedenen Epochen einbeziehen. Viel zu selten finden die Geschichten der verfolgten und ermordeten Homosexuellen im Nationalsozialismus ihren Platz in der öffentlichen und schulischen Aufarbeitung. Biologielehrer*innen können am Beispiel von Intergeschlechtlichkeit den Mythos der Geschlechterbinarität auf einer biologistischen Ebene entkräften. Eine umfassende und intersektionale Thematisierung von religiösen, sexuellen und geschlechtlichen Lebensentwürfen sollte also fächerübergreifend stattfinden – nicht als Nischenthema des Sexualkunde- oder Religionsunterrichts.

Darüber hinaus gibt es in viele Bundesländern zahlreiche außerschulische Bildungsangebote, die Schüler*innen eine Plattform bieten, sich abseits des schulischen Alltags und ohne Anwesenheit von Lehrkräften über solche Themen auszutauschen. Dissens, Queerformat, die Schlau-Projekte im Bundesverband Queere Bildung, Lambda, GLADT, HAKI oder die bundesweiten Queer-Refugees-Netzwerke sind nur einige Träger, die mit ihren Materialien und Bildungsangeboten Schüler*innen sowie Lehrkräfte unterstützen. Dabei wird nicht selten auch ein biografischer Zugang gewählt, bei dem die Referent*innen ihre eigenen Geschichten erzählen und queere Geschichten somit sichtbar machen. Hierzu bietet bspw. ufuq.de das Unterrichtsmodul „LGBT… What?!?” an, in dem queere Muslim*innen und verschiedene Expert*innen in Filmen über Muslimisch-Sein und Queer-Sein zu Wort kommen [2].

Strukturell: Binäre Geschlechtertrennung überwinden, Sichtbarkeit eines vielfältigen Lehrer*innen-Kollegiums und Unterstützungsangebote schaffen

Die Schule als Institution ist in hohem Maße geschlechtsspezifisch strukturiert. Die binäre Geschlechterordnung manifestiert sich etwa durch die vergeschlechtlichte Teilung des Sportunterrichts, der WCs oder der Umkleidekabinen. Auch für den Sexualkundeunterricht werden Schulklassen häufig nach geschlechtlicher Zuschreibung getrennt unterrichtet. Diese künstliche Grenzziehung kann etwa durch Binnendifferenzierung im Unterricht durchbrochen werden. Die Trennung von Mädchen- und Jungengruppen im Sexualkundeunterricht kann durch ein Format ersetzt werden, in dem im Klassenverband gelernt wird, während gleichzeitig viele Gruppenarbeiten ermöglicht werden, in denen Schüler*innen die Möglichkeit bekommen, auch über intime und persönliche Fragen und Erfahrungen ins Gespräch zu kommen. Dabei können die Schüler*innen die Gruppen selbst wählen und frei entscheiden, mit wem sie sich über diese Fragen austauschen möchten. Das hat nicht nur den Vorteil, dass die binäre Geschlechterordnung somit nicht durch Rahmung reproduziert wird, sondern alle Schüler*innen vielfältige Perspektiven auf Sexualität mitbekommen und sich die geschlechtsspezifischen Gruppen nicht bloß auf eine Perspektive beschränken.

In unserer pädagogischen Praxis sehen wir immer häufiger Unisex-WCs, sowie die Möglichkeit, sich in Räumen allein oder in kleineren Gruppen umzukleiden. Die Teilung im Sportunterricht wird in vielen Schulen ohnehin nur in der Mittelstufe praktiziert, während Schüler*innen in der Unter- und Oberstufe gemeinsam unterrichtet werden. Dennoch bleibt wohl unbestreitbar, dass viele Mädchen* im Sportunterricht Erfahrungen von Bodyshaming oder sexueller Übergriffigkeit machen. So ließe sich für eine Beibehaltung der Geschlechtertrennung im Sportunterricht plädieren – zumindest aber sollten Schüler*innen hier selbst definieren können, was ihr Geschlecht ist.

Um dieser heteronormativen Strukturierung von Schule entgegenzuwirken, braucht es zudem ein vielfältiges Lehrer*innen-Kollegium. Hier lässt sich zum einen die Kontakthypothese anführen, die besagt, dass der persönliche Kontakt zu marginalisierten Gruppen positive Effekte auf die Einstellung gegenüber dieser Gruppe hat (vgl. Pettigrew, Tropp 2006, S.). Kontakte zu marginalisierten Gruppen bieten keine Gewähr für nichtdiskriminierendes Verhalten; dennoch halten wir die Sichtbarkeit verschiedener Lebensentwürfe unter Lehrer*innen für wichtig, denn sie signalisiert Schüler*innen eine gesellschaftliche Repräsentanz queerer Personen und schafft damit Identifikationsmöglichkeiten für queere Schüler*innen.

Schließlich gilt es, Unterstützungsangebote für queere Jugendliche zu schaffen. Diese können über Lehrkräfte, die als Antidiskriminierungsbeauftragte benannt sind, bis zum Auslegen von Flyern und Informationsmaterialien reichen. Bei letzterem dominieren bisher Projekte mit einer weißen Perspektive auf Queer-Sein. Dabei gibt es vermehrt Materialien, die eine intersektionale Perspektive berücksichtigen oder aus queeren Communitys of Color heraus entstanden sind. GLADT, LesMigras und viele weitere bieten Informationen und Unterstützungsangebote für queere Jugendliche of Color. Auch Imame und Moscheegemeinden können queere Muslim*innen dabei unterstützen, mit Diskriminierung umzugehen. So unterstützt etwa der Imam Ahmad Schekeb Popal oder die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee junge Menschen auf diesem Weg.

Queere Muslim*innen und PoC sind in besonderer Weise von Diskriminierung betroffen. Lehrkräfte können diese Schüler*innen dabei unterstützen, sich frei in ihrer Identität und ohne Diskriminierung zu entfalten. Dabei sollten auch queere Perspektiven von Menschen of Color und Muslim*innen repräsentiert werden, statt sie als sich ausschließende Gegensätze wahrzunehmen.

Dieser Text wurde zuerst veröffentlicht im Band „Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten in der Migrationsgesellschaft“ des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit e. V. (IDA). Der gesamte Reader steht hier zum kostenlosen Download zur Verfügung.


Anmerkungen

[1] Wir halten das Konzept des Outings für problematisch, da oftmals ganz selbstverständlich erwartet wird, dass queere Menschen sich „outen“ müssen. Jedoch nutzen wir den Begriff hier trotzdem, da das Outing weiterhin eine Notwendigkeit in vielen Kontexten darstellt, solange Queer-Sein noch nicht selbstverständlich ist.

[2] Weitere Informationen zum Modul finden sich unter https://ufuq.de/modul-4/


Literatur

Attia, Iman (2014, Juni 22): Antimuslimischer Rassismus: Sie werden als Fremde behandelt.

Dalia Research (2016): LGBT Population in Europe.

El-Tayeb, Fatima (2012): „Gays who cannot properly be gay: Queer Muslims in the neoliberal European city”. European Journal of Women’s Studies 19(1), 79–95.

GEW (2018): Was nicht erwähnt wird, wird nicht gedacht: Eindrücke aus der diversitätsbewussten Schulbuchanalyse der AG LSBT*I* der GEW.

HAW Hamburg/ufuq.de (2019): Modul „LGBT… What?!?“: Über die Vereinbarkeit von Queerness und Muslimisch-Sein.

Klocke, Ulrich (2012): Akzeptanz sexueller Vielfalt an Berliner Schulen: Eine Befragung zu Verhalten, Einstellungen und Wissen zu LSBT und deren Einflussvariablen. Berlin

Krell, Claudia/Oldemeier, Kerstin (2015): Coming-out – und dann…?! Ein DJI-Forschungsprojekt zur Lebenssituation von lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans* Jugendlichen und jungen Erwachsenen. München: DJI.

Pettigrew, Thomas F./Tropp, Linda R. (2006). A meta-analytic test of intergroup contact theory. Journal of Personality and Social Psychology, 90(5), 751–783

Reicher, Hanelore/ Matischek-Jauk, Marlies (2018): Sozial-emotionales Lernen in der Schule Konzepte – Potenziale – Evidenzbasierung. In: Huber M., Krause S. (eds) Bildung und Emotion. Springer VS, Wiesbaden

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