Demokratie und Erziehung – Elternarbeit als Beitrag zu Demokratieförderung und Radikalisierungsprävention
19. Mai 2020 | Radikalisierung und Prävention

Jede Familie kennt Konflikte, darin unterscheiden sich Familien nicht von der Gesellschaft als Ganzes. Und Konflikte sind normal – entscheidend ist, wie man mit ihnen umgeht. Das ist einer der Leitgedanken des Projektes „Demokratisch. Gemeinsam. Wachsen.“, das von IFAK e. V. seit Anfang 2020 umgesetzt wird. Das Projekt sensibilisiert Eltern und Fachkräfte für den Einfluss der Familienkultur auf demokratische Orientierungen und Verhaltensweisen von Kindern und fördert Erziehungsstile, die das Selbstbewusstsein und die Konfliktfähigkeit von Kindern stärken. Mit den Projektmitarbeiter*innen Nuray Ateş-Ünal und David Adler von IFAK e.V. sprach ufuq.de Co-Geschäftsführer Götz Nordbruch.

Götz Nordbruch: Die IFAK e. V. ist schon lange in der Migrations- und Elternarbeit tätig. Mit Ihrem neuen Projekt wenden Sie sich gezielt an Eltern, um möglichen Radikalisierungen vorzubeugen. Worin unterscheiden sich die damit verbundenen Fragen von denen, mit denen Sie in der Vergangenheit zu tun hatten?

Nuray Ateş-Ünal: Die Fragen, die wir mit diesem Projekt angehen, sind nicht neu – sie gewinnen im Kontext der Demokratieförderung jedoch eine neue Bedeutung. Elternarbeit spielt für uns seit jeher eine wichtige Rolle. Das liegt vor allem an unserem Selbstverständnis. Bereits in den ehrenamtlichen Strukturen, aus denen die IFAK hervorgegangen ist, hatten wir ein ganzheitliches Verständnis von den Problemen, mit denen sich Familien konfrontiert sehen. Unsere Angebote sind immer ziel- und bedürfnisorientiert ausgerichtet. Das setzt ein Wissen über kultur- und migrationsbedingte Erziehungsvorstellungen und familiäre Erwartungshaltungen voraus.

Für die pädagogischen Fachkräfte ist es wichtig, sich dabei sowohl der Stärken als auch der Schwächen der Familien bewusst zu sein. Wir waren früher oft die erste Anlaufstelle in Krisensituationen und mussten intervenieren, wenn es bereits große Probleme gab. Wir hatten es also erstmal mit Defiziten zu tun und mussten dann ein positives Familienklima schaffen. Mit dem Projekt „Demokratisch. Gemeinsam. Wachsen.“ verändern wir die Blickrichtung: Wir möchten den Fokus auf Schutzfaktoren statt auf Risikofaktoren legen. Dazu gehört zum Beispiel, Demokratieförderung als Teil der Erziehungskultur stark zu machen.

Götz Nordbruch: Welche Schutzfaktoren sind denn aus Ihrer Sicht in der Kindheit besonders wichtig?

Nuray Ateş-Ünal: Eltern leisten mit ihrer Erziehung einen Beitrag dazu, dass Kinder widerstandsfähig gegen antidemokratische Tendenzen werden. Allerdings fehlt ihnen oft ein Verständnis dafür, wie sich alltägliches Erziehungsverhalten auf Kinder auswirken kann. Das fängt bereits damit an, dass Eltern denken, ein schnelles Durchlaufen der Eingewöhnungsphase in der Kita würde die Selbstständigkeit ihrer Kinder fördern. Dabei übersehen sie, dass bei einer hastigen Eingewöhnung bindungsrelevante Aspekte verloren gehen: Kinder, die eine stabile Bindung zu ihren Bezugspersonen aufweisen, weinen schlicht mehr als Kinder, denen diese Bindung fehlt. Sie brauchen mehr Zeit, um sich an die neue Situation emotional und kognitiv zu gewöhnen. Die Zeit der Eingewöhnung erlaubt es ihnen, neue und gesunde Beziehungen einzugehen, die sich langfristig in stabileren Vertrauensbeziehungen zu anderen Personen zeigen. Solches Wissen wollen wir Eltern und Erzieher*innen vermitteln, und zugleich konkrete Anregungen geben, wie das funktionieren kann.

Das Projekt verbindet dabei Erfahrungen aus der sozialpädagogischen und radikalisierungspräventiven Praxis zu einem neuen Präventionskonzept, das nicht erst dann ansetzt, wenn sich bereits demokratiefeindliche Orientierungen zeigen. Gemeinsam mit unseren Kolleginnen Nina Bartholomé und Tuba Çapkın wollen wir basale, universelle Methoden der Demokratieförderung vermitteln, die Eltern bereits im Kleinkindalter ihrer Kinder umsetzen können. Unsere Fokusgruppe sind zunächst Zwei- bis Sechsjährige, im weiteren Projektverlauf soll sie auf Sechs- bis Zehnjährige und schließlich Zehn- bis Vierzehnjährige erweitert werden.

Götz Nordbruch: Wenn Sie von Radikalisierungen sprechen, was meinen Sie damit genau?

David Adler: Wir verstehen unter Radikalisierung den Prozess einer Person oder einer Gruppe, radikale und extremistische Einstellungen und Ideen zu entwickeln und schließlich auch danach zu handeln. In unserem Projekt stehen die wissenschaftlichen Debatten über die unterschiedlichen Ursachen und Verläufe von Radikalisierungen aber nicht im Mittelpunkt. An einem fünfjährigen Kind können wir keine Radikalisierungstendenzen beobachten, wir können aber durchaus beschreiben, wie sich das Kind in Konfliktsituationen verhält, wie es sich seinen Betreuer*innen gegenüber öffnet oder wie es auf neue, fremde Situationen reagiert.

Wir nähern uns dem Thema daher von der anderen Seite: Uns geht es nicht darum zu fragen, welche familiäre Situation eine Radikalisierung begünstigt. Wir wollen herausbekommen, welche Familienkonstellationen, Rituale oder familiären Umgangsformen Resilienzen fördern. Kurz gesagt: Welche Familienkonstellationen und Erziehungspraktiken begünstigen eine demokratische Entwicklung?

Nuray Ateş-Ünal: Wir können Eltern unterstützen, die altersspezifischen und individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Kinder zu fördern, um ein Verständnis von Demokratie als Lebensform zu bekommen. Dabei tauchen eine Reihe von grundlegenden Fragen auf: Wer sind wir und wer sind die Anderen? Wie reagiere ich auf Andersdenkende? Wie gehe ich mit religiösen Themen in der Familie um? Erlebe ich soziale Exklusion und wenn ja, wie gehe ich damit um? Was sind für mich typische Rollenzuschreibungen? Wie stehe ich zu Diskriminierungs- und Rassismusphänomenen?

Dabei geben wir den Eltern eine transparente Rückmeldung zu ihren Erziehungsvorstellungen, auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen Biografien. Wir wollen mit den Eltern an ihrer Elternrolle arbeiten und dabei ihre eigenen Erfahrungen und Erwartungen thematisieren, die wiederum ganz unterschiedlich von Teilhabechancen und Rassismuserfahrungen geprägt sind. Das mag zunächst wie ein therapeutisches Setting klingen, ist aber eine grundlegende pädagogische Praxis, wenn es um die Beziehung zu den eigenen Kindern geht. Aus unserer Sicht hat eine solche ressourcenorientierte Demokratieförderung bei Kindern letztlich eine präventive Wirkung gegen unterschiedliche Formen von Radikalisierung.

Götz Nordbruch: Welche Angebote können Sie Eltern machen, um Sie in der Erziehungsarbeit und bei familiären Konflikten zu unterstützen?

David Adler: Da es uns um Demokratieförderung geht, beschäftigen wir uns viel mit Konflikten im Familiensystem. Ein gutes Familienleben wird häufig mit Harmonie und Konfliktfreiheit gleichgesetzt. An einem solchen Ideal kann man aber letztlich nur scheitern. Eine demokratisch-pluralistische Gesellschaft ist gerade auch durch Konflikte und den Umgang mit ihnen gekennzeichnet. Das gilt auch für den familiären Kontext. Sozialpsychologisch sind Konflikte sogar ein Ausgangspunkt für die psychische Entwicklung.

In der Arbeit mit Eltern wollen wir das stark machen: Konflikte bedeuten nicht, dass die demokratische Familienkultur gescheitert ist. Im Gegenteil: Eine demokratische Familienkultur ist für uns ein Konfliktraum, in dem die Mitglieder lernen, einen konstruktiven Umgang mit diesen Herausforderungen zu pflegen. Wird ein solcher Umgang gemeinsam erarbeitet, dann können Konflikte letztlich sogar zu einer Verbesserung der Beziehungen führen und das Miteinander stärken.

Götz Nordbruch: Was sind denn die Voraussetzungen, um mit Konflikten in der Familie konstruktiv umzugehen?

Nuray Ateş-Ünal: Ein demokratisches Familienleben lebt davon, dass Interessen und Bedürfnisse wahrgenommen werden. Eltern müssen sich der Fähigkeiten, aber auch der Grenzen ihres Kindes bewusst sein. Nehmen wir einmal an, die Eltern sind wütend, weil ihr Kind nicht in der Lage ist, das Spielzeug mit den Freund*innen zu teilen. Ein alltäglicher Konflikt in Familien. Viele Eltern denken, dass sie ihrem Kind ein gutes Verhalten beibringen, indem sie das Spielzeug freundlich dem Freund oder der Freundin reichen und dabei stolz auf das Kind verweisen, das ja so freundlich sein kann. Für das Kind stellt sich das dagegen anders da: Das Kind kann sein Spielzeug in diesem Alter nur sehr schwer abgeben, weil es von altersbedingtem Egozentrismus geprägt ist. Wenn Eltern das nicht erkennen, verliert dieser Lernraum seine demokratieförderlichen Züge: Die Autonomie des Kindes wird nicht respektiert, ebenso wenig seine Wahrnehmung, dass das Spielzeug ein Teil von ihm selbst ist. Hinzu kommt, dass das Kind seine Bedürfnisse weder verbal oder nonverbal zum Ausdruck bringen kann.

Was hier verloren geht, gilt für viele familiäre Konflikte: Altersspezifische Interessen und Bedürfnisse werden oft nicht wahrgenommen, weder kognitiv noch emotional. Dies kann aber die Entwicklung von Fähig- und Fertigkeiten verhindern, die später in einer demokratischen Lebenswelt erwartet werden: Eigene Interessen gewaltfrei durchsetzen zu können und dabei rücksichtsvoll mit Anderen umzugehen.

Unser Ziel ist es, Eltern für die altersspezifischen Verhaltensweisen der Kinder zu sensibilisieren. In dem Beispiel mit dem Spielzeug würde es zum Beispiel darum gehen, die Eltern anzuleiten, freundlich auf die Kinder zuzugehen und Verständnis für das Verhalten ihres Kindes zu zeigen, indem sie das Spielzeug nicht aus der Hand reißen. Das braucht natürlich eine zeitintensive Begleitung der Kinder, trägt aber zu einer gesunden Identitätsentwicklung bei.

Götz Nordbruch: Was macht denn solche Alltagssituationen für die Demokratieförderung interessant?

David Adler: Wir gehen davon aus, dass die Weichen für ein demokratisches Verhalten bereits im Kleinkindalter gestellt werden. Es ist unbestritten, dass Kinder, die im häuslichen Kontext mehr Erfahrungs- und Erprobungsraum haben, sich deutlich intensiver und offener mit Gegenständen und Situationen beschäftigen können, die ihnen fremd sind. Ein Kind, das grundsätzlich mehr Raum als nur die Spielecke oder das Kinderzimmer zur Verfügung gestellt bekommt, entwickelt eine andere Neugier und bessere kognitive Fähigkeiten im Umgang mit Unvertrautem.

Eine solche Autonomie des Kindes, sich eigenständig mit Dingen beschäftigen zu können, die es interessieren, ist eine Voraussetzung für eine gelingende Identitätsentwicklung. Daneben gibt es zahlreiche kommunikative Aspekte, beispielsweise die Beherrschung einer Gefühlssprache, die Fähigkeit, sich über eigene Gedanken und Gefühle austauschen zu können, die letztlich auch den Umgang mit ethischen Fragen im späteren Lebensalter bestimmen. Wie realistisch ist es, dass ein Kind im Grundschulalter über gerechtes oder ungerechtes Verhalten urteilen kann, wenn es zuvor noch nie nach seinem Gefühl gefragt worden ist?

Nuray Ateş-Ünal: Der Entwicklungsverlauf von Kindern wird stark durch die Erfahrungen im Elternhaus geprägt. Dabei geht es um Kommunikationsmuster, Konfliktlösungsstrategien oder Fragen der Zugehörigkeit, Nationalität und Geschlechterrollen. Die Fähigkeit, mit demokratischen Lösungsstrategien auf Herausforderungen zu reagieren, ist umso stärker ausgeprägt, je früher Eltern dem Kind einen demokratischen Lern- und Entwicklungsraum zur Verfügung stellen.

Im Projekt versuchen wir daher, mit pädagogischen Fachkräften und Eltern Erziehungs- und Bildungspartnerschaften aufzubauen, um gemeinsam die Bedingungen für eine demokratische Erziehungskultur für das Kind zu schaffen. Dazu bieten wir auch Workshops an zu Themen wie gewaltfreie Kommunikation, Medienkompetenz oder Lösungsstrategien für Konfliktsituationen, aber auch mediative Settings, in denen wir Eltern eine kindgerechte Sprache der Konsensorientierung vermitteln.

Götz Nordbruch: Lassen sich denn allgemeine Aussagen darüber treffen, welcher Erziehungsstil für demokratische Orientierungen und Verhaltensweisen besonders förderlich ist?

David Adler: Wichtig ist: Es gibt nicht die richtige Erziehung für alle Kinder, genauso wenig wie es den Ansatz gibt, Kinder demokratisch zu erziehen. Familien haben sehr unterschiedliche Ressourcen und nicht jede Familie folgt dem Ideal der gebildeten Mittelschicht. Es kann nicht darum gehen, das Familienleben und die Erziehung zu vereinheitlichen.

Aber es gibt natürlich Orientierungspunkte für eine demokratieförderliche Erziehung. Empfohlen wird häufig ein autoritativer Erziehungsstil, der in einer liebevollen und konsequenten Atmosphäre das Kind zur Selbstständigkeit ermutigt und einen strukturierten Alltag bietet. Das bedeutet, dass Kinder situationsspezifisch Nähe und Wärme brauchen, aber auch feste Bezugspunkte und Rituale im Alltag. In der Forschung besteht weitgehende Einigkeit, dass ein solcher Erziehungsstil dem Kind hilft, eine demokratische und friedliche Grundhaltung der Gesellschaft gegenüber zu entwickeln.

Demgegenüber steht auf der einen Seite ein autoritärer Erziehungsstil, der dem Kind wenig Spielraum zur selbstständigen Entwicklung lässt und die Regeln und Bedürfnisse der Eltern von oben durchsetzt. Auf der anderen Seite steht ein permissiver Erziehungsstil, der dem Kind weitreichenden Freiraum lässt, ihm aber nicht die Sicherheit bietet, um souverän mit Neuem umgehen zu können.

Deutliche Unterschiede lassen sich beispielsweise bei der Anerkennung von Wünschen und Interessen ausmachen, etwa dann, wenn sich zwei Kinder darum streiten, wer ein Buch zum Vorlesen aussuchen darf. Gerade im Konflikt mit Gleichaltrigen ist ein selbstzentriertes Verhalten des Kindes dabei zunächst ein wichtiger Ausgangspunkt für eine partizipative Erziehung. Eltern müssen die Gefühle und Interessen ihrer Kinder erkennen und anerkennen, um sie bei der gemeinsamen Lösung der Situation zu berücksichtigen – etwa, dass eines der Kinder zum Ausgleich später ein Buch aussuchen darf. Einerseits wird also das Bedürfnis des Kindes nicht einfach ignoriert oder seine Äußerung gar bestraft. Andererseits werden die Kinder mit dem Konflikt aber auch nicht einfach alleine gelassen. Die Gefühle und Interessen der Kinder werden aufgegriffen, zugleich aber auch in eine verbindliche Absprache überführt. Bleiben solche wertschätzenden Erfahrungen aus, so lernen Kinder, dass Interessen nicht ernst genommen und anderweitig kompensiert werden müssen.

Förderlich für eine spätere demokratische Grundhaltung sind vor allem zwei Aspekte: die kognitive Fähigkeit, mit Neuem und Unbekanntem umzugehen, und die emotionale Stabilität, also die Sicherheit in der Bindung an die Erziehenden. Um sich in einer offenen und pluralistischen Gesellschaft zurechtzufinden, müssen Kinder lernen, eigenständig ihre Umwelt zu entdecken und zu gestalten. Erst in der Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickeln sie zum Beispiel sprachliche Fertigkeiten, die auch ihre Identitätsentwicklung fördern. Kinder bilden durch selbst gemachte Erfahrungen Kompetenzen aus und entdecken dabei – gerade auch im jungen Alter – die Wirksamkeit ihres Handelns.

Um für den Umgang mit neuen Situationen gerüstet zu sein, sind Kinder im nahen Umfeld früh auf Sicherheit und Verlässlichkeit angewiesen. Kinder, die bereits in jungen Jahren eine sichere Bindung und ein wirksames Selbstkonzept entwickeln können, lassen sich deutlich weniger von antidemokratischen Tendenzen beeinflussen. Umgekehrt entwickeln Kinder, die autoritären Strukturen unterworfen sind und wenige Möglichkeiten der Partizipation bekommen oder aus anderen Gründen keine feste Bindung zur erziehenden Person aufbauen können, eher antidemokratische Orientierungen.

Götz Nordbruch: Das leuchtet ein, gibt Eltern aber auch eine große Verantwortung. Sehen Sie nicht die Gefahr, Eltern zu überfordern? 

Nuray Ateş-Ünal: Es geht uns darum, Eltern dazu zu befähigen, ihre eigenen Denk-, Sprach- und Handlungsmuster in der Erziehung ihrer Kinder zu reflektieren. Es geht um eine Sensibilisierung für diese unbewussten Wirkungsmechanismen. Hier sind wir als Fachkräfte gut geschult und arbeiten mit unterschiedlichen Methoden, um gemeinsam mit Eltern ihr eigenes Erziehungspanorama zu erstellen. Je wertschätzender die Beziehung zwischen Eltern und den Fachkräften gestaltet wird und je konkreter wir an den Verhaltens- und Umgangsweisen in der Familie anknüpfen können, desto leichter fällt es Eltern, diese Inhalte im Familienalltag anzuwenden. Wir wollen eine neue Selbstverständlichkeit fördern, eine Leichtigkeit, bei der nicht ständig jede einzelne Handlung angezweifelt und reflektiert werden muss. Das würde wohl in der Tat jede*n Erziehungsberechtigte*n überfordern.

Eltern sind aber beispielsweise durchaus in der Lage, die Sprache der Kinder und die damit einhergehenden Bedürfnisse in eigenen Worten zusammenzufassen und diese mit dem Kind zu teilen. Wenn dieses Verhalten eingeübt wird, entwickelt sich eine routinierte Selbstverständlichkeit, die einen großen Beitrag zur gesunden Kommunikation leistet.

Götz Nordbruch: Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit setzen aber voraus, dass ich selbst über Ressourcen und Fähigkeiten verfüge. Welche Rolle spielt das „Empowerment“ von Eltern in Ihrem Projekt – nicht in der Beziehung zum Kind, sondern im gesellschaftlichen Sinne?

David Adler: Demokratiepädagogik überschneidet sich mit Empowerment-Konzepten. Hier wie dort geht es um die Bedürfnisse und Rechte von Eltern: Sie werden nicht bloß defizitorientiert als Bedürftige, sondern als Bürger*innen angesprochen. Wir wünschen uns, dass Eltern sowohl unterstützend als auch kritisch an der Gestaltung der Lebenswelt ihrer Kinder – auch über die Familien hinaus – in Erziehungs- und Bildungsinstitutionen teilnehmen.

Im Projekt setzen wir uns daher auch mit den Lebenswelten der Eltern auseinander, um Multiplikator*innen die Verständigung und Kooperation mit Eltern zu erleichtern. Pragmatisch formuliert: Wir können Eltern nur als Partner*innen gewinnen, wenn wir sie mit ihren individuellen Lebensentwürfen, Bedürfnissen und Ängsten wahrnehmen und diese zum Ausgangspunkt der Kooperation machen.

Eltern sind ja ein wichtiger Teil dieser Familienkultur, um die es uns geht. Und Familienkultur meint mehr als bewusstes Erziehungshandeln. Kinder lernen gerade auch in solchen Situationen, in denen sie nicht direkt angesprochen werden, sondern den Umgang anderer miteinander beobachten und deuten. Eine demokratische Familienkultur lebt also nicht nur von den richtigen „Erziehungstechniken“, sondern auch vom gleichberechtigten Umgang der erwachsenen Erziehungsberechtigten untereinander. Deshalb geht es in dem Projekt nicht nur um die Entwicklungsbedingungen des Kindes, sondern um ein gemeinsames Wachsen der Familie durch die Stärkung eines offenen und wertschätzenden Miteinanders über die Generationen hinweg. Das heißt auch, dass die Erziehenden natürlich nicht in der Rolle als Mutter und Vater aufgehen. Sie haben eigene Bedürfnisse und Interessen – und sind Bedingungen unterworfen, die es ihnen erschweren, dem eigenen Erziehungsanspruch gerecht zu werden.

Nuray Ateş-Ünal: Eine wertschätzende Elternarbeit setzt darum auch voraus, die spezifischen Herausforderungen und gesellschaftliche Ungleichheiten zu berücksichtigen, die in die Familie und ihr Beziehungsgefüge hineinspielen. Angesichts der sehr unterschiedlichen Lebenserfahrungen von Eltern, die oftmals auch von fehlenden Teilhabemöglichkeiten, sozioökonomischen Benachteiligungen und Diskriminierungs- oder Ausgrenzungserfahrungen geprägt sind, ist Empowerment ein wichtiger Aspekt der Demokratiepädagogik. Selbstwirksamkeitserfahrungen der Eltern sind Voraussetzung für ein selbstbewusst-demokratisches Erziehungshandeln.

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