„Wovon träumst du eigentlich nachts?“ ─ Podcast-Folge 11: Krieg und Flucht mit Ayham
3. November 2022 | Demokratie und Partizipation, Diversität und Diskriminierung, Geschichte, Biografien und Erinnerung

Die elfte Folge des ufuq.de-Podcasts „Wovon träumst du eigentlich nachts?“ empfängt Ayham als Gast, der 2015 aus Syrien nach Deutschland geflüchtet ist. Mit Blick auf die Situation ukrainischer Geflüchteter erkennt er Parallelen. Was geht ihm durch den Kopf, wenn er die Bilder des Krieges sieht? Inwiefern finden Diskussionen zu ungleicher Behandlung von Geflüchteten in seiner Arbeit mit Jugendlichen Eingang? Wie können Themen unaufgeregt besprochen werden, um  gegenseitiges Verständnis und Solidarität zu fördern?


Die Folgen erscheinen einmal im Monat und sind über den Audioplayer und auf Spotify hörbar.

Link zum Spotify-Kanal „Wovon träumst du eigentlich nachts?“

Transkription der Folge

Maryam:

Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge „Wovon träumst du eigentlich nachts?“. Mein Name ist Maryam.

Jenny:

Mein Name ist Jenny.

Maryam:

Heute sprechen wir über ein sehr aufgeladenes Thema, was uns in den letzten Jahren immer wieder begleitet hat: Krieg, Krisen und Flucht.

Jenny:

Ich freue mich sehr, dass wir Ayham hier haben. Er arbeitet schon ganz lange als Teamer bei ufuq.de und wir wollen mit ihm über seine Perspektive auf Krieg, Flucht und Fluchtbewegungen sprechen und auch darüber, wie er das Thema in seiner Arbeit mit Jugendlichen bespricht. Hallo Ayham, schön, dass du da bist. Stell dich doch gerne einmal vor.

Ayham:

Hallo. Vielen Dank für die Einladung. Ich freue mich, dass ich heute hier bin. Ich möchte mich auch bedanken, dass ich die Möglichkeit habe, über dieses Thema zu sprechen, weil es mir besonders wichtig ist. Ich bin selbst 2015 aus Syrien geflüchtet und nach Deutschland gekommen und nach anderthalb Jahren habe ich dann angefangen, mit Jugendlichen zu arbeiten – auf den Rat von einem Freund hin, der meinte: „Du kommst gut klar mit Jugendlichen.“ Ich habe mich bei einem Träger in Berlin beworben und dann hat meine Reise in der politischen Bildung mit Jugendlichen angefangen.

Jenny:

Ich kann auf jeden Fall bestätigen, dass du ziemlich gut mit Jugendlichen arbeiten kannst.

Maryam:

Wir sind ja seit Anfang des Jahres immer wieder mit den Bildern aus dem Krieg in der Ukraine konfrontiert. Was geht dir denn persönlich durch den Kopf, wenn du diese Bilder siehst?

Ayham:

Natürlich haben mich diese Bilder betroffen gemacht. Vor allem, weil man nicht damit gerechnet hat, dass ein neuer Krieg ausbricht, nicht in Europa. Als ich damals 2015 geflüchtet bin, war Europa für mich einfach ein sicherer Ort. „Da kann kein Krieg mehr ausbrechen“, dachte ich. Als ich die ersten Bilder von Bombardierungen und Zerstörungen gesehen habe, hat mich das voll in die Vergangenheit katapultiert. Ich habe mich an Aleppo erinnert. Ich habe mich an meine Heimatstadt Idlib erinnert und das hat mich wahrlich betroffen gemacht.

Jenny:

Ja, ich kann mir das natürlich nur annähernd vorstellen, aber ich glaube, dass es echt nicht einfach ist, diese Bilder zu sehen. Auch, da es örtlich eben so nah an Europa ist. Und, wie du schon gesagt hast, ich glaube, dass viele Menschen in Europa gedacht haben, Kriege in Europa hätten wir überwunden und jetzt sehen wir eben, dass es doch nicht so ist. Wie ist es denn in deinem Alltag? Wie wird da über den Krieg Russlands in der Ukraine gesprochen? Ich kann mir vorstellen, dass da viele verschiedene Sichtweisen vorkommen.

Ayham:

Das ist richtig. Aber ich möchte zuerst zu den ersten Tagen des Krieges kurz etwas erzählen: Für mich persönlich war das ein einschneidendes Erlebnis. Ich habe auch vermieden, Nachrichten zu schauen und wollte nicht an den Bahnhöfen sein, weil ich gehört habe, dass ganz viele Geflüchtete gekommen sind. Natürlich habe ich keine Angst vor Geflüchteten, aber ich wusste nicht, wie ich damit umgehen soll. Es hat ein bisschen Zeit gebraucht, bis ich dann den Entschluss gefasst habe, dass ich auch mithelfen möchte und das doch schaffe. In meinem Alltag war das natürlich ein Thema. Wie ihr wisst, sind wir in gewisser Weise auch von Russland angegriffen worden. Vor allem Idlib wurde in weiten Teilen von russischen Flugzeugen angegriffen und zerstört, Aleppo auch. Ich habe das Gefühl, in der Community hat man darauf geguckt und gewartet, wie der Westen jetzt reagiert. Wie wird die Situation hier gehandhabt? Wir waren wirklich sehr gespannt, was jetzt passiert und dann gab es wiederum auch Leute, die sich überhaupt nicht mit dem Thema befassen wollten. Es gab Leute, die sagten: „Okay, es ist Krieg, das ist aber in der Ukraine, die ist nicht Teil der EU, deshalb wird der Westen nichts machen. Es ist uns egal, wir wollen hier weiterleben, es reicht uns mit Krieg.“

Maryam:

Ich weiß noch, wie es mir ging, als ich die Bilder gesehen habe und ich fand es total surreal. Ich konnte es überhaupt gar nicht greifen. Nun bin ich selbst nicht von Flucht betroffen, habe keine Fluchtgeschichte, aber kann mir vorstellen, dass man, wenn man mit diesem Thema medial wieder so konfrontiert wird, das Gefühl hat, dass ein Spotlight auf einen gerichtet wird und auf einmal diese ganzen Erinnerungen, die man für sich vielleicht schon ein bisschen sortiert hat, wieder hochkommen. Vor allem, weil man irgendwie ja auch verschiedene Gespräche mit unterschiedlichen Leuten führen muss. Kennst du das persönlich, dass du manchmal in unterschiedlichen Kontexten auch unterschiedliche Rollen einnimmst, um diese Gespräche über Krieg und Krisen führen zu können?

Ayham:

Also ich kenne das tatsächlich, dass mich Leute dann wieder zu meiner Flucht damals, 2015, gefragt haben: „Wie war das für dich damals?“. Ich bin binnen Tagen sozusagen zu einem Fluchtexperten geworden. „Wie war es damals für dich?“, „Ist das vergleichbar?“, „Wie war es, als die Russen Aleppo bombardiert haben damals?“ Diese Fragen musste ich manchmal beantworten und war sehr oft damit konfrontiert. In den ersten Tagen des Krieges wusste ich persönlich nicht, wie ich zu diesem Krieg stehe, was los ist. Ich habe nicht die Schuld gesucht oder so. Ich habe gesehen: Ein mächtiges Land greift ein anderes Land an. Das war, glaube ich, für alle sehr offensichtlich. Der Ukraine galt von Anfang an meine Empathie und ich habe gehofft, dass Russland geschwächt wird, dass sich dadurch vielleicht auch irgendetwas in Syrien tut, weil ich natürlich seit Jahren nicht mehr dort war. Es ist dort zu einer Stagnation gekommen. Es gibt keine Hoffnung, dass das Regime sich ändert. Und ich dachte: Jetzt ist Krieg. Vielleicht gibt es wieder Hoffnung für Syrien, dass sich irgendwas tut. Das waren meine Gefühle in den ersten Tagen und sind es auch immer noch. Es ist tatsächlich wie in jedem Krieg: Die negativen Folgen sind viel schwerwiegender als alles andere. Hier ist dadurch alles teurer geworden. Das Leben ist schwerer. Es sind mehr Probleme entstanden und man rüstet auf. Es gibt mehr Waffen und man hat auf einmal viel Geld für Waffen und für nichts anderes. Was mich wiederum richtig sauer und wütend gemacht hat, weil in Deutschland sehr lange galt: Es gibt keine Möglichkeiten. Es gab in vielen Bereichen für Geflüchtete, aber auch für andere Menschen, für alle Bürger*innen in diesem Land, einen Mangel und auf einmal gibt es richtig viel Geld für das Militär. Das macht mich bis heute sehr traurig und wütend. Anscheinend finden die Leute das auch berechtigt, denn wenige Leute sagen etwas dagegen. Auch in den Medien gibt es wenige Stimmen dagegen. Das darf so nicht sein, finde ich.

Jenny:

Ich glaube auch, dass da eine ganz große Ungerechtigkeit herrscht. Ich kann das total nachvollziehen und gleichzeitig sehe ich auch, dass wenig dazu in den Medien gesagt wird. Ich glaube, auch aus dem Grund, dass der Eindruck vermittelt werden soll: Wenn wir jetzt ganz viel Geld ins Militär stecken, dann sind wir an der Seite der Ukraine. Ob das so ist, würde ich auch sehr in Frage stellen. Du arbeitest ja auch mit Jugendlichen zusammen. Ist diese Ungerechtigkeit in Bezug auf die Aufrüstung des deutschen Militärs auch ein Thema, das dir schon mit Jugendlichen begegnet ist?

Ayham:

Tatsächlich habe ich diese Frage in den Raum geworfen. In der politischen Bildungsarbeit ist es wichtig, dass man auch provoziert und Gespräche schafft. Ich möchte von den Jugendlichen wissen, ob sie sich mit diesen Themen beschäftigen. Wenn sie sich nicht mit diesen Themen beschäftigen, dann frage ich zum Beispiel: „Ist es euch wichtig, dass das Militär hier in Deutschland besonders stark ist?“ Ich habe das Gefühl, dass das Thema keine Priorität bei den Jugendlichen hat. Viele Jugendlichen gucken auf ihren Alltag, sie haben bestimmte Bedürfnisse und ich glaube, sie denken nicht an erster Stelle an Militär und Aufrüstung und so etwas. Wenn ich dann frage: „Was fehlt euch in eurem Alltag?“, dann kommen viele Antworten. Und das ist für sie auch irgendwie unfair, finde ich.

Jenny:

Was dir aber in der Arbeit mit Jugendlichen wahrscheinlich auf jeden Fall begegnet, ist diese Kritik an einer Ungleichbehandlung von Denjenigen, die wie du 2014, 2015, 2016 und in den Jahren danach nach Deutschland gekommen sind, und den Ukrainer*innen, die jetzt kommen und bei denen auf einmal alles ganz einfach geht – wir wissen alle, dass es für viele andere Geflüchtete eben gar nicht einfach ist. Ich habe jetzt zwei Fragen dazu: Erst einmal, wie dein persönliches Empfinden dazu ist? Und zweitens, ob dir diese Diskussionen in der Arbeit mit Jugendlichen begegnen?

Ayham:

Das ist eine sehr gute Frage. Also ich muss auch sagen, dass diese Ungleichheiten nicht neu sind. Es gab diese Ungleichheiten schon damals 2014 und 2015 schon. Es gab viele Leute, die denselben Weg aus demselben Land genommen haben, aber zwei unterschiedliche Aufenthalte bekommen haben. Manchen wurde es einfacher gemacht und anderen wiederum schwerer. Am Anfang haben viele Geflüchtete, die hierhergekommen sind, gedacht: Deutschland ist ein europäisches Land, ein Paradies, hier kann man alles machen. Ich habe gedacht, dass man hier Leistungen erbringen muss und dass anerkannt wird. Jetzt, nach vielen Jahren in diesem Land, stelle ich fest: Nein, das ist nicht so. Es kommt darauf an, wer dein Sachbearbeiter ist. Du wirst sehr oft nicht gesehen. Deine Aussagen werden vielleicht bewertet. Es kann anhand irgendwelcher Aussagen mit Schicksalen gespielt werden. Ich sehe auch in meinem Freundeskreis, dass es sehr oft zu Fragen kommt: „Warum bekomme ich nicht dasselbe wie alle anderen? Wir kommen alle aus einem Land, in dem Krieg herrscht.“ Das hat damals, 2015, für Unmut gesorgt. Vor allem für Geflüchtete aus Afghanistan war es unfair, weil ihnen immer wieder gesagt wurde: „Euer Land ist sicher.“ Auch ein paar Wochen bevor Afghanistan in die Hände der Taliban gefallen ist, wurden hier in Berlin von Politiker*innen noch Aussagen getroffen von wegen „Afghanistan ist sicher.“ Und es wurde ja auch tatsächlich diskutiert, dass Syrien sicher sein soll. Geflüchtete, die kein Asyl bekommen haben oder bekommen, haben keine Sicherheiten und fühlen sich durch diese Diskussionen auch immer wieder bedroht, zurückgeschickt zu werden. Jetzt kommen Geflüchtete aus der Ukraine. Es freut mich, dass das nicht zu Unmut geführt hat und dass viele Leute sagen: „Ich helfe mit, denn ich kenne dieses Gefühl, wegen Krieg aus meinem Land fliehen zu müssen.“ Aber dann stellen sie fest, es wird differenziert, den ukrainischen Geflüchteten wird es einfacher gemacht. Es kursieren auch Nachrichten oder Gerüchte, dass Geflüchtete in Heimen verschoben werden von A nach B, nur um andere Geflüchtete unterzubringen. Man hat fast schon das Gefühl, dass jetzt Klassen existieren. Ich habe gestern den Begriff „Flüchtlingsklasse“ gelesen, also Flüchtlingsklasse A, B und C und so weiter. Ich habe Angst, dass das jetzt zu Unmut führt. Natürlich können ukrainische Geflüchtete dafür nichts und es ist auch gut, dass sie so behandelt werden. Vielleicht ist es eine Chance für Deutschland, dass man es für alle einfach macht, zum Beispiel auch für die, die Jahre auf ihren Asylbescheid warten, weil das BAMF immer wieder Widerspruch einlegt. Das stößt auf viele Fragen, nicht nur bei Geflüchteten, auch bei Leuten mit und ohne Migrationshintergrund. Sie fühlen sich auch benachteiligt, weil sie zum Beispiel jahrelang eine Wohnung suchen oder ihre Zeugnisse nicht anerkannt werden. Sie kommen nach Deutschland, aber sie dürfen nicht da weitermachen, wo sie in ihren Heimatländern aufgehört haben. Aber bei den Ukrainer*innen wird das jetzt gemacht und das können diese Menschen nicht nachvollziehen.

Maryam:

Es gab ja medial einen großen Rassismusaufschrei. Es wurde gesagt: „Das kann doch nicht sein. Mein Vater lebt seit 40 Jahren in Deutschland und ist eigentlich Akademiker, aber musste hier immer Taxi fahren, weil sein Universitätsabschluss nicht anerkannt wurde.“ Oder dass Jugendliche sagen, es habe ihr ganzes Leben geprägt, dass ihre Eltern im Niedriglohnsektor arbeiten mussten, obwohl sie eigentlich hoch ausgebildet nach Deutschland gekommen sind. Dann kam die Nachricht, dass ukrainische Geflüchtete ab der elften Klasse an die Unis gehen können. Das ist ja wirklich etwas, wo man sagen kann, dass es ungerecht ist und das reißt ja irgendwie auch Wunden auf, die, glaube ich, auch von der Mehrheitsgesellschaft missachtet wurden. Wie kommt man da raus? Ich meine, man könnte jetzt sagen, Deutschland hat leider vergessen, dass es seit den Neunzigern diese Regel gibt, dass man eigentlich leichter in den Arbeitsmarkt kommen kann. Jetzt könnte man fragen: Haben sie es vergessen oder haben sie es bewusst nicht gemacht? Aber wie kommen wir da raus? Wie kann man dieses Thema vernünftig mit Jugendlichen besprechen, um für Verständnis zu sorgen und vielleicht auch Möglichkeiten zu schaffen, dass das nicht nochmal passiert?

Ayham:

Ich glaube, man muss die Dinge beim Namen nennen. Es ist wichtig, dass die Jugendlichen begreifen, dass es unfair ist, was ihnen passiert. Sie müssen aber gleichzeitig auch bestärkt werden, dass sie sich politisch engagieren, dass sie laut werden, dass sie auf diese Pannen – die eigentlich viel mehr sind als Pannen – aufmerksam machen. Das ist halt schwierig, weil die Regierung dafür verantwortlich ist, das deutlicher zu machen. Von vielen Jugendlichen habe ich gehört, dass sie auf Missverständnis stoßen. Sie würden die Dinge gerne nachvollziehen. Warum kommen keine Erklärungen? Warum gibt es keine Erklärungen, wieso die Leute jetzt in andere Heime müssen? Dieses Thema wird unter den Tisch gekehrt. Deswegen fühlen sich viele Menschen hintergangen. Sie wollen Klarheit und sie wollen, dass ihr Leid nach Jahren anerkannt wird. Ich glaube, das ist wichtig für sehr viele.

Maryam:

Ich finde, es besteht immer die Gefahr, dass Gruppen, die sowieso schon ausgegrenzt werden oder von Marginalisierung betroffen sind, gegeneinander ausgespielt werden. Man kann nicht sagen, den einen geht es jetzt schlechter als den anderen und dann entwickelt sich da in der einen Gruppe ein Hass auf die noch tiefere Gruppe. Denn eigentlich, finde ich, sollte man Kritik an der Politik üben und sagen: „Das, was hier passiert, ist nicht in Ordnung und es ist für niemanden in Ordnung, dass Leute lange in Heimen wohnen müssen, keinen Job finden oder Arbeitszeugnisse nicht anerkannt werden.“

Ayham:

Und diese Menschen können nichts dafür. Das ist genau meine Angst. Ich möchte auch nicht die Ukrainer*innen dafür verantwortlich machen. Natürlich nicht. Das habe ich zum Glück auch in den Workshops nie erlebt, dass Menschen mit dem Finger auf Ukrainer*innen gezeigt haben. Das zeigt wiederum, dass die Jugendlichen auch wachsam sind und das sehen. Aber sehr oft ist es leider so, dass man sich machtlos fühlt, dass man nicht weiß, an wen man sich wenden muss. Aber natürlich, diese Gefahr besteht und ich glaube, da kommt die Wichtigkeit der politischen Bildungsarbeit ins Spiel. Heutzutage haben die Jugendlichen viel mehr Macht als damals. Wenn sie gehört werden wollen, dann haben sie mehr Möglichkeiten. Wir sehen es an Fridays for Future. Es gibt mittlerweile die Chance, dass man gehört wird, dass man ernstgenommen wird. Ich weise die Jugendlichen immer darauf hin: „Hey, ihr habt die Möglichkeit! Wir leben zum Glück in einem demokratischen Land. Dass wir überhaupt in einem demokratischen Land leben, verdanken wir dem Kampf von ganz vielen Menschen, die dafür etwas geopfert haben und auf die Straße gegangen sind.“ Und genau das müssen sie machen.

Maryam:

Du hast ja am Anfang davon gesprochen, dass es schmerzhaft und emotional für dich ist, immer wieder mit dem Thema Krieg und Krisen konfrontiert zu sein. Was bedeutet für dich das Erinnern an Krisen und Konflikte, zum Beispiel auch in der Arbeit mit Jugendlichen? Denkst du, dass es wichtig ist, über diese Themen zu sprechen?

Ayham:

Tatsächlich wäge ich immer ab, also es ist immer situationsabhängig. Es gibt Jugendliche, die damit etwas anfangen können, die sehr interessiert sind. Sie wollen stundenlang hören, was in Syrien war, wie der Weg hierher war und dann erzähle ich vielleicht. Für andere wiederum ist das komplett absurd. Sie können sich nicht vorstellen, wie es ist, in einer Diktatur zu leben, wie es aussieht, wenn alle Schüler*innen Uniformen tragen und morgens die Nationalhymne singen müssen. Also das ist immer unterschiedlich, aber ich finde es in bestimmten Situationen sehr wichtig, denn man muss auch zu schätzen wissen, was wir hier haben. Nur so können wir die Demokratie behalten und das, was wir haben, auch verbessern. Das war der wichtigste Grund, warum ich diese Arbeit machen wollte. Ich habe das in Syrien einfach nicht geschafft. Ich bin auch mit 17 auf die Straße gegangen. Ich habe auch „Freiheit“ geschrien, obwohl ich damals tatsächlich nicht genau definieren konnte, was Freiheit und soziale Gerechtigkeit sind. Für mich hat sich das einfach gut angehört. Aber auch als Jugendlicher fühlt man, wenn irgendwas nicht stimmt, wenn irgendwas falsch ist. Ich bin oft sehr beeindruckt von Diskussionen, die wir in der Klasse führen und davon, wie weit bestimmte Jugendliche schon sind. Deswegen rede und erzähle ich über diese Themen, wie wichtig es ist, dass wir wachsam sind, uns gegenseitig darauf aufmerksam machen, was in der Politik los ist, denn wir sind im Endeffekt davon betroffen. Das ist für mich die Möglichkeit, teilzuhaben an der Politik in diesem Land.

Jenny:

Eine Sache, die auch viel diskutiert wird ist, dass viele Leute eher helfen, weil sie sich den Geflüchteten, aber vielleicht auch dem Krieg tatsächlich näher fühlen. Ich habe eine Freundin. Sie arbeitet in einem Projekt mit, in dem es um Wohnungsvermittlung geht. Da haben jetzt viele Leute angerufen und ganz viele Wohnungen zur Verfügung gestellt. Natürlich ist das total toll für die Menschen, die jetzt ankommen, aber auf der Warteliste weiter oben stand zum Beispiel eigentlich eine afghanische Familie. Und dann haben die Menschen eben leider wieder gesagt: „Nee, wir wollen eigentlich nur eine ukrainische Familie haben“ und das ist etwas, was mich die ganze Zeit total beschäftigt und auch wütend macht.

Ayham:

Mich auch. Tatsächlich habe ich auch diese Diskussionen immer wieder führen müssen, weil ich mein Unverständnis gegenüber bestimmten Menschen artikuliert habe, die sich damals überhaupt nicht betroffen gefühlt haben und jetzt auf einmal sagen: „Wir müssen was machen.“ Obwohl in der Politik sehr oft gesagt wird: „Es ist egal, wo die Bomben einschlagen, geflüchtet ist geflüchtet.“ Aber dann stoße ich auf Antworten wie: „Die Menschen, die aus der Ukraine kommen, sind die, die arbeiten. Die haben die gleichen Berufe wie wir, vielleicht auch die gleiche Religion und Kultur“ und da bin ich ehrlich gesagt viel trauriger. Niemand hat davon geträumt, in der Zukunft flüchten zu müssen. So viel ist klar. Ich glaube, viele Leute wollen diese Menschen nicht als Menschen wie uns sehen. Das kommt wirklich sehr oft durch Vorurteile, weil sie andere Religionen und Lebensumstände haben und dann wird ausgeschlossen, dass Dialoge und Zusammenleben möglich sind. Da setze ich auch an mit meiner Arbeit in der Schule, dadurch, dass ich versuche, auch außerhalb der Schule Leute zusammenzubringen, weil ich immer wieder sage: „Integration ist niemals eine Einbahnstraße. Wir können uns zusammen integrieren, aber von beiden Seiten. Dann kann das Zusammenleben besser und schöner werden.“

Maryam:

Erst mal vielen Dank, dass du heute so viel mit uns geteilt hast und auch so persönliche Einblicke in dein Leben gegeben hast. Wir haben immer eine letzte Frage, die wir allen unseren Gäst*innen stellen: Wovon träumst du eigentlich nachts, wenn du an das Thema oder den Umgang mit Flucht, Krieg und Krisen in der Gesellschaft denkst?

Ayham:

Zum Glück träume ich nicht so oft von Flucht. Mittlerweile ist es auch gut so, aber ich wünsche mir tatsächlich für alle , vor allem für meine Freunde und für die Leute, die ich begleite und sehe, dass sie die gleichen Rechte haben wie ich. Ich hatte einfach Glück, dass ich mittlerweile eine gewisse Sicherheit hier in diesem Land habe, dass ich hier bleiben darf. Ich wünsche mir, dass diese Menschen auch zur Ruhe kommen können und dass sie diese Sicherheit auch fühlen. Das ist mein Wunsch. Dankeschön!

Jenny:

Danke, dass du hier warst. Und wie Maryam gerade schon gesagt hat, diese auch sehr persönlichen Gedanken mit uns geteilt hast. Wir freuen uns, wenn ihr das nächste Mal wieder beim ufuq.de- Podcast „Wovon träumst du eigentlich nachts?“ dabei seid!

Zum Weiterhören

Hier geht es zu allen Folgen des ufuq.de-Podcasts „Wovon träumst du eigentlich nachts?“

DER PODCAST WIRD GEFÖRDERT VON
Die Beiträge im Portal dieser Webseite erscheinen als Angebot von ufuq.de im Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX)
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