Die vietnamesische Community in globalhistorischen Verflechtungen
6. November 2024 | Diversität und Diskriminierung, Geschichte, Biografien und Erinnerung

Vietnamesische Arbeiter*innen nehmen am Leipziger Maiumzug 1988 teil; Bild: Friedrich Gahlbeck/ wikimedia commons

Wenn wir an vietnamesische Einwanderung nach Deutschland denken, fallen uns oft als erstes die „Vertragsarbeiter*innen“ der DDR ein. Doch die Geschichte der vietnamesischen Communitys in Deutschland ist weitaus vielschichtiger. An ihrem Beispiel beleuchtet Dan Thy Nguyen komplexe Verflechtungen globaler historischer Migrationsgeschichten und plädiert dafür, diese stärker zu berücksichtigen, wenn es um das Selbstverständnis und die zukünftige Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft geht.

Wenn wir über die Geschichte der sogenannten vietnamesischen Community in Deutschland sprechen, können wir dies nicht tun, ohne über die globalhistorischen Verflechtungen zu sprechen. Denn, wie andere Communitys in Deutschland auch, stehen vietnamesische im Kontext politischer Spannungsfelder, wie z.B. den antikolonialen Widerstands- und Befreiungskämpfen, den politischen und zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges zwischen Kapitalismus und Kommunismus und natürlich den diversen Konsequenzen des sogenannten Mauerfalls und der anschließenden Transformationszeit in den 1990er Jahren.

Ich möchte damit aufzeigen, dass die Geschichte der vietnamesischen Community keine einheitliche Erzählung ist, sondern aus einem Geflecht von multiperspektivischen und stellenweise widersprüchlichen Verknüpfungen und Brüchen besteht und sehr eng mit der deutschen bzw. europäischen Geschichte verzahnt ist. Ausgehend von der vietnamesischen Community möchte ich hier darlegen, dass die Geschichte von migrantisierten Menschen in Deutschland nicht allein aus einer nationalen Perspektive betrachtet werden kann, da sie in globalgeschichtliche und community-übergreifende Kontexte eingebettet ist. Dazu werde ich versuchen, einen kleinen Überblick zur Genese der vietnamesischen Communitys zu geben, um dann vertiefend auf die Cross-Community-Verflechtungen einzugehen, die 1992 beim massivsten Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte in Rostock-Lichtenhagen deutlich wurden.

Eine geteilte Community zwischen Nord/Süd und Ost/West

Die vietnamesische Community in Deutschland steht im Zeichen einer doppelten Teilungs-Geschichte, denn sie ist nicht nur durch die Teilung Deutschlands in zwei unterschiedliche Staaten geprägt worden, sondern schon durch die Teilung Vietnams in zwei Staaten: Der antikoloniale Widerstand gegen die französische Fremdherrschaft kulminierte im sogenannten Indochina-Abkommen, das am 20./21. Juli 1954 unterzeichnet wurde und die Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Integrität der Demokratischen Republik Vietnam (Viê˙t Nam Dân Chủ Cô˙ng Hòa) festlegte. Umgangssprachlich hieß dieser neue Staat Nordvietnam. Zusätzlich wurde in dem Abkommen vereinbart, dass die Kampfhandlungen zwischen dem französisch-vietnamesischen Kommando und der vietnamesischen Volksarmee eingestellt werden sollten und das Land am 17. Breitengrad in eine nördliche und eine südliche Zone geteilt werden sollte. So wurde Vietnam in einen sozialistischen Norden und einen antikommunistischen, kapitalistisch geprägten Süden aufgeteilt [1].

Beide Staaten waren bis zu der sogenannten vietnamesischen „Wiedervereinigung“ 22 Jahre voneinander getrennt und prägten die Menschen nicht nur aufgrund der verschiedenen politischen Systeme: Von 1955 bis 1975 standen diese Staaten sich in einem der grausamsten Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts verfeindet gegenüber [2]. Auch kulturell gab es deutliche Unterschiede. Sehr stark wird dies in der Geschichte der Musik deutlich: Die „nha˙c vàng“ (Gelbe Musik), welche zu dieser Zeit im Süden populär war, kombinierte vietnamesische mit europäischen Elementen, so dass interessanterweise der Bolero einer der einflussreichsten Musikstile dieser Ära war. Im Norden war diese Art der Musik hingegen verboten. Die politisch ausgerichtete „nha˙c d¯ỏ“ (Rote Musik) sollte Menschen zum antiimperialistischen und revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus anspornen und war wiederum in Südvietnam verboten [3].

Der Prozess der „vietnamesischen Wiedervereinigung“ 1976 zu einem kommunistischen Staat bedeutete das Ende des kapitalistisch geprägten Südvietnams. Bemerkenswert: Die vietnamesische Community in Deutschland wurde nicht nur von der vietnamesisch-vietnamesischen und deutsch-deutschen Teilung geprägt, sondern erlebte außerdem eine umgekehrte „Wiedervereinigung“, da hier ein kapitalistischer Staat in einen kommunistischen überführt wurde. Aus südvietnamesischer Sicht wird häufig massive Kritik an diesen Prozess geäußert, denn die eigene Geschichte und Kultur war damit nahezu verschwunden [4]. Der neu entstandene kommunistische Staat hat bis heute keine Motivation gezeigt, die Geschichte des Südens in gleichberechtigter Weise mit aufzunehmen, stattdessen wird der Süden als unfreier „Puppenstaat“ kapitalistischer Mächte dargestellt. In der staatlich organisierten Aufarbeitung der heutigen sozialistischen Republik Vietnam fehlt eine südvietnamesische Geschichtsperspektive.

Eine in Ost und West gespaltene Community

Die Teilung der beiden Staaten spiegelt sich auch in einer Aufteilung der vietnamesischen Community in Deutschland wider. Der südvietnamesische Teil der Community lebt überwiegend in den westdeutschen Bundesländern, während der nordvietnamesische Teil in den sogenannten „neuen“ ostdeutschen Bundesländern angesiedelt ist. Die westdeutsche Community besteht zum großen Teil aus Menschen aus Südvietnam, die in Booten vor den Auswirkungen der kommunistischen „Wiedervereinigung“ geflohen sind. Schon bei der Bezeichnung dieser Gruppe kommen staatliche Propaganda und Fremdbestimmung zum Tragen. Während der von den Geflüchteten selbstgewählte Terminus „Người vượt biển“ (über das Meer geflohene Menschen) ist, lautet der bekanntere westliche Begriff „Boat People“. Die sozialistische vietnamesische Bezeichnung „Thuyền nhân“ für diese Personengruppe beschreibt wiederum Chines*innen, die für einen wirtschaftlichen Vorteil vor dem Sozialismus fliehen, denn aus der sozialistischen Perspektive waren es kaum Vietnames*innen, die geflohen sind, sondern nur eine chinesische ethnische Minderheit, die den Sozialismus ablehnte [5].

Die Flucht von über einer Million Menschen in überladenen und baufälligen Booten gestaltete sich äußerst schwierig und endete häufig damit, dass diese kenterten, sodass Hunderttausende ums Leben kamen. Unzählige Überlebende berichten außerdem von Überfällen, Hunger, ausbrechenden Krankheiten, Vergewaltigungen, Beschuss durch das Militär verschiedenster Staaten und auch von Kannibalismus [6].

Während des Kalten Krieges wurden diese Menschen von der westdeutschen Regierung als vor dem Kommunismus Geflüchtete anders behandelt als andere Migrant*innen. Mit dem Kontingentflüchtlingsgesetz wurde die dauerhafte Aufenthaltserlaubnis zum Regelfall. Ein großes Netzwerk zur Etablierung ehrenamtlicher sogenannter „Patenschaften“ wurde von unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteur*innen eingerichtet, es wurden Deutschkurse organisiert und es gab Unterstützung bei der beruflichen Orientierung in Deutschland [7]. Nicht selten waren die Unterstützer*innen der vietnamesischen Geflüchteten selber Menschen mit Fluchterfahrung. Dazu gehört der aus Danzig stammende Rupert Neudeck, der mit der Cap Anamur tausende Menschen aus dem chinesischen Meer rettete. Er war selber aus Polen nach Deutschland geflüchtet und beschreibt diese Erfahrung als seine Motivation, um wiederum selber Geflüchtete zu retten und nachhaltig zu unterstützen [8].

Auch meine Familie wurde von Menschen unterstützt, die nach dem zweiten Weltkrieg aus Polen und Tschechien nach Deutschland geflohen sind. Die Verbindungen zwischen den vietnamesischen „Boat People“ und den nach dem Zweiten Weltkrieg vertriebenen Menschen müssten an anderer Stelle noch einmal näher untersucht werden. Klar wird aber durch Aussagen von Zeitzeug*innen, dass die Beziehungen zwischen den „Pat*innen“ und den Geflüchteten nicht immer reibungslos verliefen: Das moralische Machtgefälle zwischen Unterstützer*innen und Geflüchteten wurde nicht selten als paternalistisch und bevormundend empfunden. Außerdem wird stellenweise von sexuellen Übergriffen berichtet.

Die Geschichte der Community von nordvietnamesischen „Vertragsarbeiter*innen“ in der DDR hingegen beginnt mit einem Anwerben von Arbeitskräften durch die Regierung in den 1980er Jahren. So wurden nach der „Wiedervereinigung“ Vietnams zuerst Menschen aus dem Norden der sozialistischen Republik Vietnam für die DDR angeworben. Im späteren Verlauf wurde aufgrund des großen Arbeitskräftebedarfs die Suche nach geeigneten Menschen in den Süden des Landes erweitert.

Die Motivation der DDR gründete zunächst auf dem Mangel an billigen Arbeitskräften für größtenteils geringfügig bezahlte, mitunter gefährliche Tätigkeiten in verschiedenen Industriezweigen wie der Auto-, Elektro- oder Chemieindustrie sowie im Braunkohletagebau, in Großwäschereien und auf Schlachthöfen [9]. Die Aufenthaltsdauer der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen war zunächst auf zwei und später fünf Jahre begrenzt. Unter restriktiven Lebens- und Arbeitsbedingungen wurden sie rigoros von der ostdeutschen Bevölkerung abgegrenzt und waren größtenteils in Wohnheimen untergebracht. Zeitzeug*innen berichten von massiven Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte sowie von vertraglich verankerten Restriktionen in Bezug auf Bildung und Weiterbildung. Die Wohnheime unterlagen strengen Kontrollen, Verstöße der Bewohner*innen gegen Vorschriften wurden hart bestraft. Schlechte Bezahlung, Verbot des Familiennachzuges, Illegalisierung von Schwangerschaften in der Vertragszeit beziehungsweise eine strikte Trennung von Männern und Frauen, um Beziehungen und Schwangerschaften zu verhindern, sind nur einige Beispiele der konkreten Inhalte des Abkommens zwischen der DDR und Vietnam und zeigen, welche Auswirkungen auf individuelle Lebenswege es gehabt haben muss. Im Namen der sogenannten „Völkerfreundschaft“ wurden die Vertragsarbeiter*innen ökonomisch ausgebeutet.

Zeitzeug*innenberichte, aber auch die Abkommen selbst verdeutlichen einen gewissen Widerspruch: Auf der einen Seite brauchte die DDR dringend Arbeitskräfte, auf der anderen wurde jegliche Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens von Einheimischen und den Vertragsarbeiter*innen erschwert oder unmöglich gemacht. Diese strukturellen und institutionellen rassistischen Ausschluss- und Verhinderungsmechanismen in den 1980er Jahren führten zu einer gesellschaftlichen Marginalisierung der vietnamesischen Community in der DDR. Gleichzeitig berichten vietnamesische Vertragsarbeiter*innen aber über enge kollegiale oder freundschaftliche Beziehungen zu Menschen aus Angola, Kuba oder Mosambik. Im Bereich Freizeit und Sport wurden auf bezirklicher Ebene auch gemeinsame Teams von Vertragsarbeiter*innen aus unterschiedlichen Ländern gebildet. Durch alltägliche Kontakte auf der Arbeit und in den Wohnheimen wurden tatsächlich nachhaltige Beziehungen aufgebaut, von denen einige noch jahrzehntelang nach dem Mauerfall bestehen blieben. Gegenseitige Unterstützung im Betrieb war eine community-übergreifende Form der Solidarität, welche die schwierigen Bedingungen in der DDR milderte [10].

Idealtypische Verzerrungen und die Transformationszeit

Der Versuch, die unterschiedlichen Communitys in Deutschland zwischen Nord/Ost und Süd/West aufzuteilen, unterliegt natürlich idealtypischen Verzerrungen. Wie bereits erwähnt, sind im späteren Verlauf der Anwerbung von Vertragsarbeiter*innen auch vietnamesische Arbeitskräfte aus dem Süden in die DDR gekommen. Darüber hinaus sind nicht nur südvietnamesische Menschen vor den Sozialist*innen geflohen. Ein Beispiel ist die Sängerin Khánh Ly, die im nordvietnamesischen Hanoi geboren wurde und in Südvietnam den französisch geprägten Chanson revolutionierte. Trotz ihrer nordvietnamesischen Herkunft wurde sie durch Sozialist*innen verfolgt und musste das Land verlassen [11].

Solche Beispiele verdeutlichen, dass die politischen und geografischen Grenzen nicht immer die individuellen Identitäten und Erfahrungen der Menschen widerspiegeln. Es lassen sich keine pauschalen Annahmen über die politischen Überzeugungen oder die Herkunft der Menschen treffen, ohne die Komplexität und Vielfalt der Realität zu berücksichtigen. Die Behauptung, dass nur „Südvietnames*innen“ Antikommunist*innen waren und ausschließlich „Nordvietnames*innen“ in der DDR gearbeitet haben, ist nicht richtig, sondern eine Verzerrung der realen Gegebenheiten. Hinzu kommen Migrationsbewegungen innerhalb der vietnamesischen Community im Laufe der deutschen „Wiedervereinigung“ sowie Migrationsformen außerhalb der oben genannten Idealtypen, z.B. diplomatische oder Handelsbeziehungen sowie Bildungsmigration. Damit möchte ich Folgendes verdeutlichen: Die Unterschiede zwischen den vietnamesischen Communitys basieren zum Großteil auf den historischen Gegebenheiten, mit denen sie in den jeweiligen vietnamesischen und deutschen Staaten konfrontiert waren.

Die „Boat People“-Community, die vor dem sozialistischen Regime geflohen war, konnte aufgrund ihrer antikommunistischen Haltung vor dem Hintergrund des Kalten Krieges in Westdeutschland relativ gut Fuß fassen und auf verhältnismäßig viel Unterstützung vertrauen [12]. Die Rettung der „Boat People“ wurde sowohl von Politiker*innen (insbesondere von der CDU) als auch von Radio- und TV-Journalist*innen begleitet und medial instrumentalisiert. Als zum Beispiel die ersten Busse mit vietnamesischen Geflüchteten im Grenzdurchgangslager Friedland im CDU-regierten Niedersachsen ankamen, mussten sie von Mitarbeitenden des Lagers vor dem Ansturm von Bürger*innen und Medienvertreter*innen abgeschirmt werden. Die offene Asylpolitik, die nur für Antikommunist*innen galt, wurde als Medienereignis gefeiert, und für eigene politische Interessen genutzt [13]. Gleichzeitig erlebten die Geflüchteten natürlich strukturellen und alltäglichen Rassismus.

Die Community in der DDR war hingegen zunächst staatlich implementierten rassistischen Ausschlussmechanismen ausgesetzt, die sich auch im vereinigten Deutschland fortsetzten. Die Erfahrungen mit dem Vietnamkrieg sowie die durch den Krieg entstandenen Diskurse, die teilweise propagandistisch angewendet und verbreitet worden sind, die Flucht mit all ihren tragischen Auswirkungen, die Zeit als Vertragsarbeiter*innen und dann als marginalisierte Gruppe im vereinigten Deutschland – das sind nur einige der Erfahrungen, Ängste, Vorurteile und Hoffnungen, welche die Communitys trennen, beziehungsweise spalten. Dabei stehen sich die beiden Communitys beinahe diametral gegenüber. Die jeweiligen historischen und individuellen Erfahrungen, unterschiedlichen Ideologien und die getrennte Sozialisation in Deutschland führten zu grundverschiedenen Diskursen. Der nordvietnamesischen Community in Ostdeutschland wird die Nähe zum Sozialismus und dem Regime in Vietnam vorgeworfen und damit wird ihr in vielen Fällen auch direkt die Schuld für den Tod und die Ermordung ganzer Familienstränge gegeben. Außerdem unterstellt man ihr manchmal, in den illegalen Zigarettenhandel verwickelt zu sein. Die südvietnamesische Community in Westdeutschland bekommt hingegen von den ehemaligen Vertragsarbeiter*innen den Vorwurf der Arroganz und „Verdeutschung“ zu hören [14].

Die Neunziger Jahre und Rostock-Lichtenhagen aus community-übergreifender Perspektive

In den Neunziger Jahren erschütterte eine Serie von rassistisch motivierten Mord- und Brandanschlägen sowie Pogromen die Bundesrepublik. Zwischen dem 22. und 26. August 1992 fand dabei das massivste Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte in Rostock-Lichtenhagen statt. Hunderte Rechtsextreme waren beteiligt und tausende applaudierende Zuschauer*innen behinderten nicht nur den Einsatz von Polizei und Feuerwehr, sondern boten den Neonazis auch Schutz vor der Polizei. Nachdem am 24. August die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber, wo das Pogrom begonnen hatte, evakuiert worden war, wurde das angrenzende Wohnheim (das sogenannte Sonnenblumenhaus), in dem sich ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter*innen und ein Fernsehteam des ZDF aufhielten, belagert und mit Molotow-Cocktails in Brand gesteckt. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen zog sich die Polizei komplett zurück und überließ die eingeschlossenen Menschen schutzlos den Angriffen, dem Feuer und der Meute vor dem Haus [15].

Zeitzeug*innenberichte belegen jedoch, dass es während dieses Pogroms ein hohes Maß an Selbstorganisation zur Verteidigung gegeben hat. Ein Überlebender erzählte zum Beispiel, dass er keine Angst hatte, in Lichtenhagen zu sterben, sondern vielmehr befürchtete, einen der jungen Angreifer töten zu müssen, um sich selbst zu verteidigen. Da einige vietnamesische Bewohner*innen des Sonnenblumenhauses Soldaten oder Krankenschwestern im Vietnamkrieg gewesen waren, entwickelten sie während des Pogroms Evakuierungsmaßnahmen und Notfallpläne [16]. Das zeigt auch, dass der Komplex von Lichtenhagen ohne die Ereignisse im Vietnamkrieg und ohne den Kalten Krieg nicht zu verstehen ist. Wir müssen diese Perspektiven also in einen größeren politischen Kontext einordnen und nationale Geschichte muss in globalhistorischen Verflechtungen gedacht werden.

In der medialen Rezeption des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen liegt der Fokus insbesondere auf den Vietnames*innen, dabei wird jedoch oftmals vergessen, dass sich die Gewalt zunächst gegen Rom*nja aus Rumänien richtete. Dieser Rassismus gegen Sinti*zze und Rom*nja im Kontext des Pogroms wird zumeist ausgeblendet und eine zivilgesellschaftliche, community-übergreifende oder staatlich organisierte Erinnerungskultur, die die Perspektive der betroffenen Rom*nja mit einbezieht, ist bis heute entweder gar nicht vorhanden oder stark unterrepräsentiert. Vielleicht kann diese Tatsache als innerhalb der Erinnerungskulturen vorhandener Rassismus gegen Sinti*zze und Rom*nja gelesen werden, von dem auch linke und antirassistische Ansätze nicht frei sind. Dies wird übrigens deutlich, wenn man bedenkt, dass erstmals zum 30. Jahrestag des Gedenkens an das Pogrom ein Zeitzeuge aus der Rom*nja Community wieder nach Rostock eingeladen wurde [17].

Im gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein ist ein weiteres Ereignis im Komplex von Rostock-Lichtenhagen kaum bekannt. Eine Gruppe von Jüd*innen und Rom*nja mit dem Namen „Söhne und Töchter der deportierten Juden Frankreichs“ besetzte im Oktober 1992 das Rostocker Rathaus. Dieser Gruppe gehörte übrigens auch Beate Klarsfeld an, die durch die Ohrfeige an den damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger bekannt wurde. Im Rahmen einer Podiumsdiskussion im Mai 2022 [18] beschrieb Frau Klarsfeld, dass Lichtenhagen für sie ein Ereignis darstellte, bei dem deutlich wurde, dass sich eine neue Rechte in Deutschland und Europa formierte und man sich dem mit aller Macht hätte entgegenstellen müssen. Für die „Söhne und Töchter der deportierten Juden Frankreichs“ war Rostock-Lichtenhagen ein Einschnitt und stellte den Weg in eine düstere Zukunft dar und es wurden Parallelen zu den 1930er Jahren gezogen [19].

Diese unterschiedlichen Facetten machen deutlich, dass Rostock-Lichtenhagen nicht nur das massivste Pogrom der deutschen Nachkriegsgeschichte war. Es stellt auch einen Komplex unterschiedlicher und verflochtener Solidaritäten dar, welcher über die Grenzen der eigenen Communitys hinausgehen.

Fazit

Anhand der vietnamesischen Community in Deutschland wird deutlich, dass die Komplexität von Migration und Zusammenleben nicht länger allein aus einer nationalen Perspektive betrachtet werden kann. In einer global verzahnten Welt sind historische Ereignisse eng miteinander verflochten, und es ist entscheidend, diese Zusammenhänge zu berücksichtigen, um ein umfassendes Verständnis zu bekommen. Die Auswirkungen des Kolonialismus auf die beiden vietnamesischen Staaten hatten eine Vielzahl von Konsequenzen und auch Einfluss auf die Geschichte Vietnams und der vietnamesischen Communitys in Deutschland. Die Teilung Vietnams in Nord und Süd nach dem Ende der Kolonialherrschaft und der Vietnamkrieg beeinflussten nicht nur die politische Situation in Vietnam, sondern führten auch zu starken Migrationsbewegungen von Vietnames*innen in verschiedene Teile der Welt, einschließlich Deutschlands.

Weiterhin können historische Ereignisse nicht ohne Cross-Community-Ansätze verstanden werden. In den beiden deutschen Staaten manifestierten sich Mehrfachdiskriminierung, Rassismus und Ausschlussmechanismen auf unterschiedliche Weise. Die Erfahrungen der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen in der DDR waren geprägt von Herausforderungen, aber auch von Formen der Cross-Community-Solidarität, die im Alltag sichtbar wurden. Diese Solidaritäten entstanden nicht nur innerhalb der vietnamesischen Community selbst, sondern auch durch den Austausch und die Interaktion mit anderen Migrant*innengruppen und deutschen Staatsbürger*innen.

Für das Verständnis der vielschichtigen und multiperspektivischen Prozesse der heutigen Gesamtgesellschaft in Deutschland ist es m.E. notwendig, wesentliche Fundamente eines nationalen Geschichtsverständnisses über Bord zu werfen. Vielmehr müssen wir uns bewusst sein, dass die Geschichte und Erfahrungen von marginalisierten Gruppen wie der vietnamesischen Community untrennbar mit globalen Entwicklungen und historischen Ereignissen verbunden sind. Nur durch eine umfassende Betrachtung dieser Zusammenhänge können wir ein wirklich inklusives und gerechtes Verständnis unserer Gesellschaft entwickeln.

 

Fußnoten

[1] Gerhard Feldbauer: Vietnamkrieg, Köln 2013, S. 25.

[2] Bruce Lockhart, William J. Duiker: Historical Dictionary of Vietnam. Lanham, 2006, S. 332f., S. 342 f.

[3] Vgl.: Tuấn Khanh: „Nhac vàng qua lửa do“, 8. Mai 2024.

[4] Eine der vehementesten und populärsten Stimmen ist u. a. der Pulitzer-Preisträger Viet Thanh Nguyen in unzähligen Zeitungsartikeln oder auch in seinen Romanen.

[5] Vgl. Nguyên Uyên: „Ký ức cua môt thuyn nhân“, 30. April 2017, BBC News.

[6] Vgl. Rudolph Joseph Rummel: „Statistics of Democide, Chapter 6, The Statistics Of Vietnamese Democide Estimates, Calculations, And Sources“.

[7] Vgl. Julia Kleinschmidt: „Die Aufnahme der ersten ‚boat people‘ in die Bundesrepublik“, in: Bundeszentrale für politische Bildung, 26. November 2013.

[8] Vgl. Ines S.: „Rupert Neudeck und das ‚Prinzip der radikalen Humanität‘“, in: Migrationsgeschichten. Ein Blog von Gegen Vergessen e.V., 31. Mai 2022.

[9] Peter Widmann: „Gerettet und geduldet. Berliner Vietnamesen und die deutsche Flüchtlings- und Migrationspolitik“, in: Wolfgang Benz (Hg.), Umgang mit Flüchtlingen. Ein humanitäres Problem, München 2006, S. 115.

[10] Vgl. Julia Oelkers: „Eigensinn im Bruderland“.

[11] Vgl. Khánh Ly: „Người hát về thân phâ˙n, kiếp người“!, 28. Dezember 2015.

[12] Widmann 2006 (Anm. 9), S. 115.

[13] Rolf Orter und Helmut Stapf, Lagerleben, in: Herbert Spaich (Hg.), Asyl bei den Deutschen, Beiträge zu einem gefährdeten Grundrecht, Reinbeck bei Hamburg 1982, S. 135–147, S. 136.

[14] Vgl. Widmann 2006 (Anm. 9), S. 115.

[15] Hans-Bernd Brosius, Frank Esser: Eskalation durch Berichterstattung? Massenmedien und fremdenfeindliche Gewalt. Opladen 1995, S. 15.

[16] Vgl. Florian Manthey: „Angst hatte ich nicht – Dan Thy Nguyens und Iraklis Panagiotopoulos Theaterstück und Hörspiel ‚Sonnenblumenhaus‘. Neue erinnerungskulturelle Perspektiven von Rostock-Lichtenhagen“, In: Zeitgeschichte Regional. Mitteilungen aus Mecklenburg-Vorpommern, 20. Jahrgang 1 / 16, Rostock, 2016, S. 48–49.

[17] Vgl, Jean-Philipp Baeck und Allegra Schneider: „Die verschwundenen Roma“, 26. August 2022.

[18] Archivierungsprojekt „Ver/sammeln antirassistischer Kämpfe“, 19.-21.5.2022 Hebbel am Ufer, mitorganisiert vom Produktionsbüro Studio Marshmallow.

[19] Serge Klarsfeld: „Was ich am 19.10.1992 in Rostock gesehen habe“, Oktober 1992.

 

Bildnachweis © Titel: Leipzig, Maiumzug, vietnamesische Gastarbeiter / Friedrich Gahlbeck/ wikimedia commons

 

Wiederveröffentlichung des Beitrags

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im Sammelband „Geteilte Geschichte_n – Plurale Solidaritäten. Diskussionen zur Verbindung von verflechtungsgeschichtlichen Ansätzen und community-übergreifenden Unterstützungsstrukturen“ von Iris Rajanayagam. Wir danken der Herausgeberin und dem Autor für die Erlaubnis, den Beitrag hier wiederzuveröffentlichen.

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