Der Migrationsforscher Friedrich Heckmann plädiert für ein neues Nationskonzept in Deutschland. Er sieht die Notwendigkeit, ethnische Minderheitenstrukturen zu überwinden und ein gemeinsames „Wir“-Bewusstsein zu schaffen. Seine Vision: eine Gesellschaft, die Migration als Teil ihrer Geschichte und Zukunft anerkennt.
Sakina Abushi (ufuq.de):
Herr Heckmann, Sie haben 1980 mit Ihrer Habilitationsschrift „Die Bundesrepublik: Ein Einwanderungsland?“ als einer der ersten klar nachgewiesen, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist. Wie nehmen Sie mehr als 40 Jahre später die aktuellen Debatten um Migration und Flucht wahr?
Friedrich Heckmann:
Tja, es ist wieder einmal so, dass das „Migrationsproblem“ im Mittelpunkt der medialen und politischen Öffentlichkeit steht. Im Strom von Ereignissen, Berichten, Kommentaren, Vorschlägen und Kontroversen ist es schwer, die Übersicht zu behalten und kurzfristig relevant Erscheinendes von langfristigen Entwicklungen zu unterscheiden. Ich glaube aber, dass es wichtig ist, sich auch mit größeren Zeiträumen und längerfristigen Trends zu beschäftigen. In meinem Buch „Einwanderung mit Zukunft. Neue Nationsbildung statt Minderheitengesellschaft“ nehme ich die letzten 60 Jahre in den Blick und versuche zu verstehen, was sie für zukünftige Entwicklungen bedeuten könnten.
Sakina Abushi (ufuq.de):
Was stellen Sie fest, wenn Sie die letzten 60 Jahre Einwanderungsgeschichte betrachten?
Friedrich Heckmann:
In diesem Zeitraum sind Millionen von Menschen aus dem Ausland nach Deutschland eingewandert und haben die demografische und ethnische Zusammensetzung von Bevölkerung und Gesellschaft verändert. Viele der Eingewanderten haben sich in Vereinen für die verschiedensten Aktivitäten und Interessen organisiert, z.B. als Religionsgemeinschaften oder als kulturelle Organisationen. Mit Einwanderung und Integration ist auch eine ethnische Ökonomie entstanden, die auf Bedürfnisse der Migrant*innen eingeht, aber durchaus auch auf Nachfrage aus der Mehrheitsgesellschaft trifft. Zu den formalen treten zahlreiche informelle ethnische Strukturen, wie Verwandtschaft und Freundschaft, soziale, kulturelle, politische, religiöse und wirtschaftliche Netzwerke, die mit den formalen Strukturen einen Prozess der ethnischen Minderheitenbildung begründet haben.
Sakina Abushi (ufuq.de):
Dieser Ausdruck erinnert mich an den Kampfbegriff der „Parallelgesellschaften“, der vor einigen Jahren in Mode war. Ist die Bildung von Minderheiten ein gesellschaftliches Problem?
Friedrich Heckmann:
Die Befestigung von ethnischen Minderheitenstrukturen stellt per se noch kein gesellschaftliches Problem dar. Es ist aber keine leichte Aufgabe, in einer solchen Gesellschaft gesamtgesellschaftliche Kommunikation und Kooperation zu ermöglichen sowie die politische Loyalität der Minderheitenangehörigen als Staatsbürger zu erreichen. Zugleich bergen ethnische Minderheiten-Mehrheitsstrukturen in Krisensituationen die Gefahr, dass soziale, wirtschaftliche und politische Konflikte ethnisiert werden. Zahlreiche historische Erfahrungen haben die Leidenschaftlichkeit und Unmenschlichkeit ethnisierter Konflikte gezeigt. Ich finde es wichtig, auf solche möglichen Entwicklungen hinzuweisen und diesen vorzubeugen. Ich persönlich stelle mir ein Nebeneinander von alter Mehrheit und neuen ethnisch konstituierten Minderheiten[1], möglicherweise ausgestattet mit besonderen Gruppenrechten, schwierig vor. Diese Alternative würde gesellschaftliche Kooperation und Kommunikation erschweren, permanente Verhandlungen zwischen den Gruppen und ihren Vertretern erfordern sowie zu einer Ethnisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens und zu Statuskämpfen zwischen den Gruppen führen. Ich ziehe einen neuen Nationsbegriff vor, also ein Gemeinsamkeits- und Gemeinschaftsbewusstsein, das von realen Gemeinsamkeiten getragen wird. Das bedeutet aber nicht, dass ich ein Bewusstsein von Herkunft und Kultur ablehne. Dieses kann enorm wichtig sein und Gruppen und einzelne Personen stabilisieren.
Sakina Abushi (ufuq.de):
Ist die Minderheitenbildung ein festes Merkmal unserer Gesellschaft, oder stellt sie ein Übergangsphänomen auf dem Weg zur Integration in die deutsche Gesellschaft dar?
Friedrich Heckmann:
Das ist genau die Frage, die ich mir in meiner Forschung gestellt habe. Mich hat vor allem interessiert, ob mit der Integration der zweiten und dritten Migrant*innengeneration Annäherungs- und Identifizierungsprozesse erfolgen, die darauf hinauslaufen, dass viele Menschen mit Migrationsgeschichte zu Deutschen werden oder werden wollen, und ob mit der Integration und Akkulturation von Migrant*innen im Generationenverlauf ein Prozess neuer Nationsbildung im Gange ist.
Für die Untersuchung dieser Forschungsfrage war es nötig, empirisch zu prüfen, wie sich ethnische und migrantische Abgrenzungen oder Annäherungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen entwickeln. Der inzwischen fortgeschrittene Stand der Integrationsforschung in Deutschland erlaubt es, unter dem Aspekt der Annäherung zwischen Einheimischen und Menschen mit Migrationsgeschichte umfassend auf verschiedene Lebensbereiche wie beispielsweise Bildung, Arbeit, Sprache oder Zugehörigkeitsgefühle zu schauen. Ich habe in diesen und in anderen Bereichen sehr viele und methodisch fundierte Untersuchungen gefunden. Zu betonen ist dabei: Es geht bei den Analysen nicht nur um Veränderungen von Merkmalen bei den Menschen mit Migrationshintergrund, sondern zugleich um Veränderungen bei der Mehrheitsgesellschaft.
Nehmen wir den Bereich Bildung als Beispiel: Während Migrant*innen der ersten Generation mit struktureller Benachteiligung gekämpft haben, verringern sich in der zweiten und dritten Generation Unterschiede oder verschwinden, z.B. bei Schulartenbesuch und Abschlüssen. Nach wie vor weiterbestehende Unterschiede zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund erweisen sich in vielen Kontexten als abhängig von sozialer Herkunft, nicht von Migrationshintergrund. Zu meinem Fazit gehört auch, dass es beträchtliche Unterschiede in Bildungsprozessen zwischen verschiedenen ethnischen bzw. nationalen Herkunftsgruppen gibt.
Als zweites Beispiel ein Blick auf den Bereich der Sprache. Bei der ersten Generation besteht ein klarer Zusammenhang zwischen der Aufenthaltsdauer und der Sprachkompetenz im Deutschen. Im Generationenvergleich gilt auch in Deutschland das aus klassischen Einwanderungsländern bekannte Muster, dass die zweite Generation bilingual ist und die Sprachverschiebung hin zum Deutschen als dominanter Sprache in der Familie im Allgemeinen in der dritten Generation stattfindet. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass in der deutschen Bevölkerung Interesse und Kompetenz bezüglich der Herkunftssprachen und Kultur der Migrant*innen stark zugenommen haben.
Insgesamt dominieren in allen oben genannten Untersuchungsbereichen die Annäherungstendenzen bzw. Angleichungen (Rechtsstatus durch Einbürgerung), mit einer Ausnahme, der Religion. Sofern man religiös ist, bleiben nachfolgende Generationen im Allgemeinen bei der Religion ihrer Eltern und Großeltern.
Sakina Abushi (ufuq.de):
Das hört sich doch sehr positiv an. Warum brauchen wir denn über gelungene Integration hinaus überhaupt ein neues Nationskonzept?
Friedrich Heckmann:
Wir brauchen ein neues Nationskonzept, da es über die individuelle Integration hinaus enorme gesamtgesellschaftliche Integrationswirkung entfalten kann! Ich würde aber zunächst gerne definieren, was ich unter einer Nation verstehe: Als Nationen definieren wir Organisations- und Bewusstseinsformen von Großgruppen, die sich seit dem 18. Jahrhundert gesellschaftlich und staatlich entwickelt haben. Mit Hilfe eines eigenen Staates üben sie politische Herrschaft aus. Nationen bewohnen und kontrollieren ein durch Grenzen definiertes Territorium und sind politisch und rechtlich nach innen und außen souverän. Sie sind gekennzeichnet durch ein Kollektivbewusstsein („Wir“-Bewusstsein) mit den Merkmalen einer vorgestellten Gemeinschaft und von wechselseitigen Solidarerwartungen (Solidargemeinschaft).
Die Wirkungskraft des Nationskonzepts auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene kann man wie gesagt als Integrationswirkung beschreiben. Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Schicht und Herkunft, unterschiedlichen Alters und Geschlechts entwickeln ein Gemeinschaftsbewusstsein und können über Vorstellungen von Gemeinschaft und Gemeinsamkeit für Ziele mobilisiert werden. Schlechte, wie wir wissen, aber auch gute, was uns häufig nicht bewusst ist.
Auf individueller Ebene vermag Nation Zugehörigkeit und Zugehörigkeitsgefühl zu vermitteln, kann also dazu beitragen, soziale Identität zu schaffen. Das ist sehr wichtig für Einwanderer, insbesondere für deren Nachfahren. Neue Nationsbildung impliziert also ein Identifizierungs- und Zugehörigkeitsangebot. Das funktioniert aber meiner Ansicht nach nur auf der Basis eines neuen deutschen Nationsbegriffs.
Sakina Abushi (ufuq.de):
Wie könnte dieser aussehen?
Friedrich Heckmann:
Mir geht es in meinem Buch tatsächlich darum, möglichst konkret ein neues Nationskonzept für Deutschland zu entwerfen. Das soll nicht einfach ein Katalog von Merkmalen sein, die einen Deutschen oder eine Deutsche ausmachen. Ich möchte vielmehr Dimensionen dieses neuen Konzepts identifizieren, die dann von der Gesellschaft verhandelt und mit Bedeutung gefüllt werden. In meinem Buch schlage ich verschiedene solcher Dimensionen vor, beispielsweise Gründungsgeschichte und Erinnerungskultur, Zugehörigkeitsprinzipien, also die Frage, ob Deutsch*e sein etwas mit Ethnizität zu tun haben muss, oder auch kulturelle Vielfalt und Gemeinsamkeit, also die Frage, ob es so etwas wie eine deutsche „Leitkultur“ gibt.
Sakina Abushi (ufuq.de):
Könnten Sie das anhand der Dimension Gründungsgeschichte und Erinnerungskultur erklären?
Friedrich Heckmann:
Migration ist ein konstitutiver Teil der Gründungsgeschichte des gegenwärtigen Deutschlands. Die Leistungen von Migrant*innen für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung anzuerkennen gehört zur Gründungsgeschichte und Erinnerungskultur des modernen Deutschlands und ist Teil der Neuen Nationsbildung. Gleichzeitig ist Migration weiter Teil unserer Realität und wird auch in Zukunft eine große Rolle spielen. Als neue Gesellschaftsmitglieder gehen die dunklen Seiten der deutschen Geschichte mit den Verbrechen der Nationalsozialisten auch die Migrant*innen in ihren Bildungs- und Sozialisationsprozessen an.
Zur Erinnerungskultur des Konzepts Neue Nationsbildung gehören aber auch die „hellen“ Seiten der Geschichte Deutschlands mit großen wissenschaftlichen, künstlerischen und politischen Leistungen. Sie erleichtern Identifizierung.
Sakina Abushi (ufuq.de):
Wenn ich mir die Ergebnisse der kürzlichen Landtagswahlen ansehe, habe ich Zweifel daran, ob die Mehrheit der Bevölkerung offen für einen Prozess der „neuen Nationsbildung“ ist.
Friedrich Heckmann:
Die Vorstellung von Nationalisten und der radikalen Rechten, ethnische Homogenität in Form eines sogenannten Remigrationsprogramms wiederherzustellen, ist eine gefährliche Illusion und Gewaltphantasie. Das würde, wie Helmut Walser Schmith es so treffend gesagt hat, bedeuten, die moderne deutsche Gesellschaft buchstäblich auseinanderzureißen, ähnlich wie es der Antisemitismus in den 1930er Jahren getan hat (Smith, 2021). Aus vielen Daten in meinem Buch leite ich ab, dass das Programm der Vertreibung von Migrant*innen keineswegs eine Mehrheitsposition in der Bevölkerung ist. Ich möchte dabei auch an die vielen und großen Demonstrationen überall im Lande erinnern, als dieses Programm bekannt wurde. Deutschland ist insgesamt eine integrative Gesellschaft mit neuer Nationsbildung, das ist eine Tatsache, die wir alle in unserem Alltag durch Annäherungen und Gemeinsamkeiten erleben. Sich das bewusst zu machen, kann als Orientierung in den aufgeregten Diskursen und Disputen über Migration und Integration dienen.
Sakina Abushi (ufuq.de):
Vielen Dank für das Gespräch!
Anmerkungen
[1] Davon müssen historisch und territorial konstituierte nationale Minderheiten unterschieden werden, für die auch andere Rechte gelten. Nationale Minderheiten sind in Deutschland Sorben, Dänen und Friesen.
Smith, Helmut Walser (2021): Deutschland. Geschichte einer Nation. Von 1500 bis zur Gegenwart. München: Beck, S. 549.