ufuq.de schaut … die Miniserie Uncivilized
29. Januar 2025 | Antimuslimischer Rassismus, Diversität und Diskriminierung

Symbolbild: KI generiert

Uncivilized ist eine sechsteilige Serie des Filmregisseurs und Drehbuchautors Bilal Bahadır. Sie ist für den Grimme-Preis nominiert und erschien im Dezember 2024 erstmals in der ZDFmediathek. Die Episoden zeigen Lebenswelten junger Menschen mit internationaler Familiengeschichte, deren Alltag durch einschneidende gesellschaftliche Ereignisse und damit verbundenen Debatten eine plötzliche Wendung nimmt. Eine Serie über Alltagsrassismus im Kleinen wie im Großen – und dessen unmittelbare Auswirkungen für die Betroffenen. Unser Kollege Feyzullah Yeşilkaya hat die Serie geschaut und berichtet, was sie mit unserer Arbeit zu tun hat.

ufuq.de:

Feyzullah, was hat dich an der Serie besonders interessiert?

Feyzullah Yeşilkaya:

Der Einblick in die Lebensrealität und die Perspektiven von jungen Menschen. Es werden Situationen im Klassenraum und Alltagssituationen auf der Straße gezeigt, also Szenen aus den Machträumen Schule und Gesellschaft. Wir sehen, wie nach Ereignissen wie dem 9/11 oder den Anschlägen in Hanau oder Paris eine Atmosphäre entsteht, die das Leben junger Menschen grundlegend verändert. Das ist von niemandem gewollt, aber Diskurse und eine verkürzte mediale Berichterstattung schaffen diese Atmosphäre, und zwar immer innerhalb eines Machtgefälles. In der Serie wird eine Matrix sichtbar: Ein junger Mensch sagt oder tut etwas, was in „normalen Zeiten“ schlicht als aufmüpfig oder provokativ durchgehen würde. Und dann passiert etwas, was dieser Aussage oder diesem Verhalten eine ganz neue Bedeutung gibt.

ufuq.de:

Welche neue Bedeutung?

Feyzullah Yeşilkaya:

Am Tag nach den Anschlägen vom 11. September 2001 soll in einer Klasse eine Schweigeminute abgehalten werden. Ein Schüler weigert sich teilzunehmen. Er sagt, dass auf der Welt jeden Tag Menschen sterben und bezeichnet die Schweigeminute als Heuchelei. Es kommt zu einem Wortwechsel zwischen ihm und der Lehrerin, die ebenfalls öffentlich beäugt wird, weil sie ein Kopftuch trägt. Die Schulleitung und weitere Lehrkräfte kommen ins Spiel. Eigentlich meinen es alle gut, aber alle verspüren einen Druck und sind angespannt. In diesem Sog erscheinen die Haltung und die Handlung dieses jungen Menschen plötzlich in einem ganz neuen Licht: als ideologische und feindselige Positionierung. Mit etwas Abstand und einem ruhigen Kopf würden die Beteiligten das Verhalten als Ausdruck eines normalen Reflexions- und Findungsprozess eines jungen Menschen deuten, doch hier wird auf einmal alles sehr verkürzt. Dabei geht etwas kaputt, es entstehen gegenseitige Vertrauensbrüche. Davon handelt die Serie.

ufuq.de:

In der sechsten Folge, die einen dokumentarischen Charakter hat, kommen verschiedene Personen zu Wort, die die mediale Berichterstattung nach solchen Ereignissen kritisieren. Dabei werden auch diese Vertrauensbrüche erwähnt.

Feyzullah Yeşilkaya:

Genau. Eine Person stellt in der Episode die Frage: Wie schaffen wir es angesichts solcher Verletzungen, irgendwann wieder gegenseitiges Vertrauen aufzubauen? Und Karim Fereidooni sagt, dass Rassismus ja nicht nur ihn als nicht-weißen Menschen betreffe, sondern auch eine Belastung für weiße Personen sei, weil sie ihm nicht frei von strukturellem Rassismus begegnen können. Der Serie gelingt es, diese gegenseitigen Vertrauensbrüche aufzuzeigen, diese Enttäuschungen und den Rückzug junger Menschen aus dem öffentlichen Raum, weil ihr Handeln öffentlich anders gedeutet wird, als es häufig gemeint ist.

ufuq.de:

Warum heißt die Serie denn eigentlich Uncivilized, also „unzivilisiert“?

Feyzullah Yeşilkaya:

Der Titel spielt auf ein Zitat des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder an, der die Anschläge vom 11. September als „Kriegserklärung gegen die zivilisierte Welt“ bezeichnete. Diese vermeintliche Frontstellung – zivilisierte Welt gegen unzivilisierte Welt – sehen wir in den Episoden immer wieder. Sie werden nicht immer ausdrücklich als „zivilisiert“ oder „unzivilisiert“ benannt, aber es geht immer um eine diskriminierende Gegenüberstellung von „wir“ und „die“. Das ist die sprachliche Grundlage von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.

ufuq.de:

Die Serie spielt vor realistischen Hintergründen. Aber wie realistisch sind die Geschichten, um die sich die Folgen drehen?

Feyzullah Yeşilkaya:

Ich kann nicht sagen, ob sich die Macher*innen der Serie auf ihnen bekannte Biografien beziehen. Aber als jemand, der all diese Ereignisse als Medienempfänger miterlebt hat, erkenne ich vieles wieder. Die Stimmung(en) in der Gesellschaft habe ich als eine Person mit internationaler Familiengeschichte ganz ähnlich in Erinnerung. Das ist sehr nah an den biografischen Erfahrungen jener Zeit, auch was die Räume betrifft, in die sich die jungen Menschen zurückgezogen haben.

ufuq.de:

Es geht also nicht nur um individuelle Erfahrungen, sondern auch um rassistische Strukturen.

Feyzullah Yeşilkaya:

Ja, die Serie handelt nicht von individueller Betroffenheit von Rassismus und Diskriminierung, sondern es geht gerade um das Strukturelle daran. Das ist das Spannende an der Serie. Im Mittelpunkt stehen nicht detaillierte Biografien, sondern Strukturen und Mechanismen, die den Alltag ganz unterschiedlicher Menschen zu unterschiedlichen Anlässen immer wieder prägen und zu Verhärtungen und Verletzungen führen. Und dabei meint es niemand böse, und doch spüren wir, wie sehr die Debatten auf die jungen Menschen auch langfristig einwirken.

ufuq.de:

Was meinst du mit „niemand meint es böse“?

Feyzullah Yeşilkaya:

Es geht ja oft um die Frage, wer eigentlich Schuld an Diskriminierungen und Rassismus hat. Wenn wir über strukturellen oder individuellen Rassismus sprechen, fühlen sich viele Menschen direkt angesprochen: Werde ich dafür jetzt verantwortlich gemacht? Das ist eine spannende Frage, die man sich selbst ruhig stellen sollte, hier geht es aber vor allem um die größere Frage: Inwiefern spielt Rassismus auch auf gesellschaftlicher Ebene eine Rolle?

ufuq.de:

Welche Rolle spielt diese Frage in eurer Arbeit?

Feyzullah Yeşilkaya:

Der pädagogische Raum, also zum Beispiel die Schule, ist ja auch ein Raum, in dem sich junge Menschen ausprobieren und dabei auch Verhalten austesten – auch um eine eigene Haltung zu entwickeln. Dafür muss es auch möglich sein, Grenzen auszuprobieren und auch nicht so bedachte Dinge sagen dürfen. In unseren Fortbildungen wollen wir dafür sensibilisieren, dass manches Handeln von Lehrkräften zwar gut gemeint ist, aber in der Wirkung nach hinten losgeht. In der Folge „9/11“, die im Raum Schule spielt, ist die Schweigeminute beispielhaft. Diese Situation bietet sich an, um über das Auseinanderfallen von Intention und Wirkung zu reflektieren und dabei zu schauen, ob und wie bestimmte Verhaltenserwartungen diskriminierende Wirkungen entfalten können.

ufuq.de:

Und welche Erkenntnisse leitest du aus der Serie für unsere Arbeit ab?

Feyzullah Yeşilkaya:

Wir arbeiten ja auch hauptsächlich im Raum Schule, und die Serie macht deutlich, wie wichtig es ist, diesen Raum möglichst offen zu halten. Wir müssen Jugendlichen dort auch angesichts von einschneidenden Ereignissen die Möglichkeit bieten, eine eigene Haltung und eigene Orientierung zu finden. Das ist das Ziel der politischen Bildung. Dabei müssen wir auch unsere eigene Haltung und die Wirkung unseres Handelns reflektieren, aber auch die strukturelle Ebene im Blick behalten: Inwiefern verursachen wir auch auf institutioneller Ebene Verletzungen und tragen zu Verhärtungen in der Debatte bei. Letztlich kann man die Serie auch gut in Fortbildungen nutzen, um sich mit Alltags- und strukturellem Rassismus auseinanderzusetzen.

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