Streben nach Anerkennung – Radikalisierungsverläufe deutscher Syrien-Rückkehrer*innen
22. Januar 2025 | Jugendkulturen und Soziale Medien, Radikalisierung und Prävention, Religion und Religiosität, Unkategorisiert

Symbolbild; Bild: Serkan Göktay/pexels

Radikalisierung entsteht nicht in einem Vakuum. Es ist ein individueller Prozess, der verschiedene Ursachen und Bedingungen umfasst. Die Kriminologin und Soziologin Dr. Kristin Weber hat sich im Rahmen ihrer Forschung mit den psychosozialen Hintergründen befasst, die deutsche Syrien-Rückkehrer*innen in die Radikalisierung geführt haben. Grundlage dieser Analyse bildeten 36 Gerichtsprozessakten verurteilter Straftäter*innen, die detaillierte Einblicke in deren Lebensläufe gewährten. In diesem Beitrag stellt Weber ihre Forschungsergebnisse dar und zieht Schlüsse für die Präventionsarbeit.

Islamistische Radikalisierung[1] ist auch nach der Zersplitterung des Islamischen Staates (IS) in Syrien, aber besonders mit dem Erstarken des „IS Provinz Khorasan“ noch immer ein bedeutendes Thema, das auch aufgrund seiner Wandlungsfähigkeit weiterer Forschung bedarf. Islamistische Extremist*innen entwickeln stets neue Feindbilder, Narrative und Strategien, um empfängliche Personen und auch jüngere Generationen (u.a. in sozialen Netzwerken) anzusprechen. In diesem Beitrag gehe ich auf die psychosozialen Faktoren ein, die bei den Radikalisierungsverläufen der untersuchten Täter*innen eine bedeutende Rolle gespielt haben. An dieser Stelle ist es wichtig zu sagen, dass Radikalisierung ein individuell verlaufender Prozess ist. Personen können sich aus multikausalen Gründen einer Ideologie, radikalen Gemeinschaft oder Gruppe anschließen. Den in diesem Artikel beschriebenen Ergebnissen liegt eine Aktenanalyse mit Fokus auf den Lebensläufen und Radikalisierungsprozessen von sogenannten deutschen Syrien-Rückkehrer*innen zugrunde. Es handelt sich um die Analyse von verurteilten Personen, die sich ab 2014 u. a. dem IS angeschlossen und strafrechtlich relevante Handlungen durchgeführt haben. Dieser Artikel basiert auf meiner Dissertationsforschung „Islamistischer Terrorismus in Deutschland. Analyse der Täterprofile deutscher Syrienrückkehrer auf Basis von Gerichtsakten“, die im Zusammenhang mit dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt (X-Sonar: Extremistische Bestrebungen in sozialen Netzwerken) an der Deutschen Hochschule der Polizei durchgeführt wurde (vgl. Weber 2023).

Gerichtsakten deutscher Syrien-Rückkehrer*innen: Forschungsinhalte und Methodik

Im Fokus dieser Forschung standen Personen, die in Deutschland aufgewachsen und sozialisiert worden sind, sich radikalisiert und einer terroristischen Organisation im Ausland angeschlossen haben. Untersucht wurden ihre Biografien, Radikalisierungs- und Rekrutierungsverläufe und die dabei ablaufenden psychosozialen Prozesse, ebenso wie der Einfluss von radikal eingestellten Predigern auf die Täter*innen. Auch die Vernetzung dieser Personen und die Rolle bedeutsamer Schlüsselpersonen standen im Zentrum der Forschung. Die Einsicht in 36 Gerichtsprozessakten von verurteilten Straftäter*innen wurde vom Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof und weiteren (General-)Staatsanwaltschaften ermöglicht. Die Täter*innen wurden für folgende strafrechtlich relevante Handlungen (Zeitraum: 2014-2017) verurteilt:

  • Bildung einer terroristischen Vereinigung (§ 129a StGB)
  • kriminelle und terroristische Vereinigung im Ausland (§ 129b StGB)
  • Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (§ 89a StGB)
  • Aufnahme von Beziehungen zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (§ 89b StGB)
  • Terrorismusfinanzierung (§ 89c StGB)

Vorrangig haben sich diese Personen dem IS und seinen Vorgängerorganisationen, Jabhat al-Nusra, Jabhat al-Sham, Al-Shabab oder Jaisch al-Muhadschirin wal-Ansar angeschlossen. Diese haben sie auf diversen Wegen unterstützt, wie z.B. durch den Anschluss an eine der genannten Organisationen im Ausland oder die Anwerbung und anschließende Rekrutierung für den gewaltsamen Dschihad. Die Akten enthielten Vernehmungs-, Chat-, Telekommunikations- und Observationsprotokolle, aber auch Haftbefehle, Fotos, Anklageschriften und Urteile, welche tiefere Einblicke in die Radikalisierungsverläufe der Täter*innen geben konnten. Insgesamt konnten aus den Akten 58 Personen (53 Männer und fünf Frauen)[2] identifiziert werden. Die Täter*innen wurden anschließend aufgrund ihrer strafrechtlich relevanten Handlungen gruppiert: 40 Syrien-Rückkehrer*innen, die in Kriegsgebiete in Syrien, Afrika und den Irak ausgereist sind, sich militärisch haben ausbilden lassen und mehrfach aus Deutschland aus- und wieder eingereist sind. 14 Ausreisewillige: Personen, die eine Ausreisebestrebung hatten, sie aber nicht realisiert haben oder bei dem Versuch der Ausreise inhaftiert worden sind. Vier Unterstützer*innen: Diese Personen haben die Organisationen finanziell oder materiell, aber beispielsweise auch durch die Erstellung von Propaganda oder die Leistung von Strafgefangenenhilfe unterstützt.

Analysiert wurden die Akteninhalte mithilfe eines Methodenmix aus Inhaltsanalyse und Grounded Theory (tiefenanalytische Bearbeitung durch intensive Auseinandersetzung mit dem Material) sowie einer Netzwerkanalyse[3].

Radikalisierung entsteht nicht in einem Vakuum. Vielmehr ist sie bei den untersuchten Täter*innen sowohl an gruppendynamische Prozesse als auch an psychosoziale Faktoren gebunden. Insbesondere auf die psychosozialen Faktoren geht dieser Artikel näher ein und leitet anschließend Implikationen für die Präventionspraxis ab, indem er auf die vielfältigen Ursachen und Bedingungen hinweist, die eine dschihadistische Radikalisierung begünstigen können.[4]

Zusammenspiel psychosozialer Faktoren für die Radikalisierung

Der Großteil der Täter*innen wies mehrfach und in unterschiedlicher Intensität Identitäts- und Lebenskrisen sowie Belastungssituationen (Suchtverhalten – u.a. Betäubungsmittel, Spielsucht -, geistige Unreife oder psychische Störungen[5], Aufwachsen in belasteten Familien[6]) auf, die sich negativ auf ihre Entwicklung und ihren Lebensverlauf ausgewirkt haben. Diese Erlebnisse haben ihre Resilienz und Coping-Strategien überfordert und sie in der Zusammenschau maßgeblich für die dschihadistische Radikalisierung empfänglicher gemacht.

Suche nach Signifikanz, Anerkennung und Zugehörigkeit

Es zeigt sich, dass das biografische Scheitern (schulisches, berufliches Scheitern[7], Scheitern zwischenmenschlicher Beziehungen) für die Täter*innen einen Faktor darstellte, der dazu geführt hat, dass sie Anschluss an eine radikale Gemeinschaft gesucht haben. Durch diese multiplen Krisen erlebten sie Gefühle der Orientierungslosigkeit, biografischer Stagnation und des Verlustes des Selbstwertgefühls. Die Suche nach Signifikanz, Anerkennung und Zugehörigkeit erwies sich bei den untersuchten Täter*innen als ein leitendes Kernmotiv der Radikalisierung. Biografische Fehlschläge, Orientierungslosigkeit und Frustration steigern das Bedürfnis nach Sinn und Bedeutung, ebenso den Wunsch, die eigene Bedeutsamkeit wiederherzustellen. Das Märtyrertum stellt bei den Täter*innen das ultimative Symbol (auch über den eigenen Tod hinaus, durch die Glorifizierung durch die Gruppe) zur Wiederherstellung der Signifikanz dar und vermag das Gefühl der Bedeutungslosigkeit zu kompensieren. Durch ihre Orientierungslosigkeit entstand bei den Täter*innen auch der Wunsch nach der Reduktion von Ungewissheit durch den Anschluss an eine Gruppe mit strikten Regeln, religiösen Normen, Geboten und Verboten. Der Anschluss an eine dschihadistische Gruppe ermöglichte den untersuchten Personen die Wiedererlangung der Signifikanz. Sie erzielten Anerkennung und das Gefühl der Zugehörigkeit durch das Einhalten des religiösen Normen- und Belohnungssystems[8] und seiner Regeln, erhielten einfache und eindeutige Lösungen für das bisher frustrierende Leben und erlangten so Sicherheit und Orientierung. Dieses System entlastete die Täter*innen von individuellen Entscheidungen hin zu kollektivistischen, die ihnen sowohl die Eingliederung in das radikale Milieu vereinfachten, als auch die Bindung an die als elitär empfundene Gruppe verstärkten.

Ein weiterer prägender Faktor war bei 20 Männern und einer Frau die Abwesenheit des Vaters. Fehlende Vaterfiguren können einen Einfluss auf die Entwicklung des Selbstbewusstseins, Rollen- und Geschlechtsvorstellungen, Bewältigungs- und Konfliktlösungsstrategien und auf das Verantwortungsbewusstsein nehmen.[9] Vorbilder und Orientierung wurden bei der untersuchten Gruppe vorrangig bei Gleichgesinnten und im Besonderen bei dschihadistisch eingestellten Predigern gesucht und auch gefunden. In der dschihadistischen Szene, ihrer Ideologie und ihren Narrativen werden traditionelle Geschlechterrollen und Heroismen (u.a. Kämpfer/Macherin von Kämpfern) glorifiziert und damit unreife und ideologisierte Vorstellungen von Männlich- bzw. Weiblichkeit gefördert.

Das Aktenstudium erwies nachweislich, dass radikal dschihadistisch eingestellte Prediger bei der Radikalisierung und Rekrutierung für den gewaltsamen Dschihad eine wichtige Rolle gespielt haben. Sie stellten einen niedrigschwelligen Zugang zur dschihadistischen Ideologie und zu radikalen Milieus dar. Durch religiös-moralische Weisungen und strategisch gesetzte Manipulation war es ihnen möglich, empfängliche Personen (u.a. mit psychosozialen Problemen) zu radikalisieren und sie letztendlich zur Ausreise zu bewegen. Mehr noch haben sie die untersuchten Täter*innen sowohl während ihrer Eingliederung und Sozialisierung in den Dschihadismus, bei der Ausreiseplanung als auch beim Anschluss an eine terroristische Organisation durch sogenannte „Empfehlungsschreiben“ unterstützt und den Organisationen somit neue Kämpfer zukommen lassen. Es zeigt sich, das dschihadistische Prediger selbst Mitglied des IS oder anderer Organisationen gewesen sind und weitaus mehr Einfluss auf die Täter*innen genommen haben, als es die Funktion eines bloßen Radikalisierungskatalysators gekonnt hätte.

Implikationen für die Präventionspraxis

Die Tatsache, dass viele der untersuchten Täter*innen Identitäts- und Lebenskrisen, schulisches und berufliches Scheitern sowie belastende Familienverhältnisse erfahren haben, verdeutlicht die Notwendigkeit, psychosoziale Unterstützung für junge Menschen in Krisen zu fördern (innerhalb und außerhalb der Schule).

Auch der Kontakt zu Personen, die sich einst radikalisiert haben, kann noch immer dabei unterstützen, Narrative zu dekonstruieren und junge Menschen vor den Gefahren von extremistischen Ideologien zu warnen. Zusätzlich ermöglicht es jungen Menschen in die Lebenswirklichkeit von Personen zu blicken, die sich einst in radikalen Milieus aufgehalten haben. Dadurch wird auch ermöglicht, Propaganda und die tatsächliche Realität, die Personen im dschihadistischen Mileu und bei terroristischen Organisationen erwartet, voneinander zu trennen und zu entglorifizieren.

Der Großteil der Täter*innen ist auf der Suche nach Identifikationsfiguren gewesen. Hier besteht die Möglichkeit, Mentor*innenprogramme anzubieten, die junge Menschen während ihrer vulnerablen Phasen unterstützen und Orientierung bieten. Zusätzlich können durch ein solches Programm mit einer festen Ansprechperson auch Resilienz und Lebenskompetenz gefördert, sowie alternative Lebenswege (Scheitern als Bestandteil des Lebens, lernen mit Frustrationen umzugehen, neue Wege finden) aufgezeigt werden.

Es bedarf zudem auch einer Weiterbildung und Sensibilisierung von Pädagog*innen und Multiplikator*innen sozialpädagogischer Berufe, so dass diese Radikalisierungstendenzen, Krisensituationen und psychosoziale Problemlagen frühzeitig erkennen können. Maßnahmen der Prävention könnten hier Beratungsangebote, Kriseninterventionsprogramme und spezielle Unterstützungsprogramme in Schulen, Berufsschulen und Berufsausbildungen umfassen, die auf individuelle Herausforderungen und familiäre Belastungen eingehen.

Fußnoten

[1] Für weitere Informationen bezüglich des Themas Radikalisierung siehe Weber (2024), Weber (2023), Weber (2020), Weber & Hamachers (2020).

[2] Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass die Anzahl der Personen nicht mit der der Akten identisch ist. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass mehrere Personen innerhalb einer Akte als Täter:innen geführt wurden.

[3] Für nähere Informationen zu dem Thema und Ergebnissen der Netzwerkanalyse siehe Weber (2023) sowie Weber (2024).

[4] Für mehr Informationen zu den anderen erwähnten Faktoren siehe Weber (2023).

[5] Darunter Narzissmus, Zwangsverhalten, Suizidalität, Depressionen, bipolare und dissoziale Störungen.

[6] Unter anderem: (psychische) Störung/Krankheit eines Elternteils, Drogenabhängigkeit eines Familienmitgliedes, Vernachlässigung und Gewalterfahrungen.

[7] Unter anderem: Schwierigkeiten einen Ausbildungsplatz zu finden, mehrfaches Abbrechen einer Ausbildung, Zwischen- oder Abschlussprüfung nicht bestanden, Kündigung des Ausbildungsverhältnisses.

[8] Das Einhalten der religiösen Gebote führte für diese Personen zu Akzeptanz und Anerkennung. Ebenso bot es eine Erklärung für das bisherige Scheitern (unreligiöse Lebensführung) und zeichnete den Weg vor, um die göttliche Belohnung (Jenseits, Märtyrertum) zu erhalten.

[9] Hardtmann (2007), Schäuble (2011), Weber (2023).

© Bildnachweis Serkan Göktay/pexels

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