Die nahostwissenschaftlichen Disziplinen sind in Deutschland bisher kaum mit der pädagogischen Arbeit zum Israel-Palästina-Konflikt verknüpft. Viele Jugendliche haben aber ein echtes Interesse an Informationen und ambivalenten Erzählungen zu Israel und Palästina. Tom Würdemann stellt Ansätze vor, wie Regionalwissenschaft und Pädagogik besser zusammenarbeiten können – und so einer weiteren Polarisierung der Debatte entgegenwirken.
Am 05. Februar 2024 veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung einen Kommentar von Prof. Dr. Michael Brenner, Professor für jüdische Geschichte und Direktor des Zentrums für Israel-Studien an der LMU München. Unter dem Titel „Woher sollen sie es wissen?“ beklagte Brenner den Mangel an Forschung und dementsprechend auch der kompetenten Lehre zu Israel und Palästina an deutschen Universitäten. Wer, fragt Brenner, sei denn in Deutschland schon verfügbar, um ein realistisches Bild über Israel zu lehren und zu verbreiten? Wie könne man sich da angesichts professioneller Propaganda in den sozialen Medien über einen Anstieg antisemitischer Verbrechen insbesondere nach dem Massaker vom 07. Oktober 2023 wundern? Als Teil einer dringend notwendigen gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Antisemitismus schlägt Brenner einen massiven Ausbau akademischer Forschung über den Staat und die Gesellschaft Israels vor (Brenner 2024).
Bereits am 26. November 2023 hatte Prof. Dr. Johannes Becke, Inhaber des Lehrstuhls für Israel- und Nahoststudien an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, gemeinsam mit dem Verfasser dieses Artikels, einen ähnlichen Aufruf in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht. Darin wird ein Mangel an Forschung zum arabischen und muslimischen Antisemitismus an deutschen Universitäten benannt: Die entsprechenden akademischen Disziplinen würden das Thema aus verschiedenen Gründen meiden. Am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin (neben einem Zentrum an der Katholischen Hochschule Aachen das einzige Institut mit einem Schwerpunkt zum Thema) beispielsweise beschäftige sich von 10 Forschungsprojekten im Jahr 2023 kein einziges explizit mit dem Thema Israel/Palästina. Hauptsächlich fehle es an genügend Wissenschaftler*innen in Deutschland, die eine Kombination aus historischen Kenntnissen und sprachlichen Kompetenzen im Hebräischen und/oder Arabischen einerseits, und einer kritischen Perspektive auf den Antisemitismus andererseits in ihre Forschung einbringen würden. Leidtragend sei der gesellschaftliche Kampf gegen den Antisemitismus (Becke/Würdemann 2023).
Dieser Artikel knüpft an dieser Kritik an und weitet sie in konstruktiver Weise auf die Arbeit im Rahmen der Präventionsarbeit gegen Antisemitismus aus. Wie relevant ist regionalspezifisches Wissen zu Israel und Palästina also für antisemitismus- und rassismuskritische Pädagogik und politische Bildung? Welche Beiträge kann die Regionalwissenschaft für die pädagogische Praxis leisten und welche Anpassungen wären für eine solche Transferleistung auf beiden Seiten nötig? Die Bearbeitung dieser Fragen geschieht unter Berücksichtigung der pädagogischen Erfahrung des Autors im Rahmen des jüdisch-muslimischen Dialogs.
Israel und Palästina in ihrer Komplexität gerecht werden: Die Aufgabe der antisemitismus- und rassismuskritischen Pädagogik
Die Kritik von Brenner (2023) sowie Becke und Würdemann (2023) trifft zweifellos zu, wenn man sich die deutsche Forschungslandschaft anschaut. Es existieren in Deutschland neben dem Ben-Gurion-Lehrstuhl für Israel- und Nahostwissenschaften an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg (die dem Zentralrat der Juden zugehörig ist) und dem Zentrum für Israel-Studien an der LMU München keine dezidierten universitären Forschungseinrichtungen für Israel/Palästina-Studien. Forschung über das moderne Israel und Palästina steht selten auf eigenen Beinen. Das ist zwar bei anderen regionalen Konflikten kaum anders, erzeugt aber trotzdem durch die mediale Dauerpräsenz ein auffallendes Gefälle zwischen politisch-gesellschaftlicher Relevanz und wissenschaftlicher Bearbeitung des Themas.
Ein Großteil der fachlichen Sekundärliteratur zum Thema Israel und Palästina ist durch die Sprachbarriere ins Englische bereits etwas schwieriger für bildnerisches Personal zugänglich, als es deutschsprachige Literatur wäre. Hochwertige Standard-Einführungen zum Israel/Palästina-Konflikt wie die von Alan Dowty oder Ian Black sind bis heute nicht auf Deutsch erhältlich (Black 2017, Dowty 2023). Die Einführung von Wolfgang Kraushaar (Israel: Gaza – Hamas – Palästina, 2025) schließt diese Lücke ein wenig.
Für die Pädagogik ist das bedeutsam, weil Ansätze aus der regionalspezifischen Wissenschaft positiven Einfluss auf die antisemitismus- und rassismuskritische Pädagogik haben können. Die für die Bekämpfung gerade des israelbezogenen Antisemitismus hilfreiche Perspektive der Israel- und Palästina-Studien findet man in der deutschen Pädagogik bisher selten. Die Komplexität des Themas erfordert, mehr als bei manchen anderen Bildungsthemen, nicht einfach nur Allgemeinbildung und gesunden Menschenverstand, vielmehr setzt sie politische Urteilsfähigkeit und fachliche Kompetenzen voraus. Bedingt ist das durch die umfassende Präsenz des Themas Israel/Palästina in den sozialen Netzwerken. Tatsächliche oder vermeintliche Realitäten in Israel/Palästina spielen auch für Jugendliche nämlich oft schon eine größere Rolle als bei weniger hyperfokussierten Themen – Begriffe wie „Genozid“ oder „Apartheid“ eröffnen komplexe und unsichere Realitätsfelder, in denen Pädagog*innen es nicht leicht haben. Jugendliche haben aber ein echtes Interesse an Fakten und Erzählungen über die Geschichte des Israel-Palästina-Konflikts. Ambivalente Fakten funktionieren da besser als Lobesreden auf Israels Demokratie, Menschenrechte, Streitkultur und Technologiesektor. Glücklicherweise bieten Geschichte und Gegenwart der Region genügend ambivalente Fakten. Und die seriöse Israel- und Palästina-Forschung kann diese liefern.
Trotzdem ist die existierende deutschsprachige Wissenschaft mit Regionalbezug bisher wenig mit der Pädagogik verknüpft. Die Wissenschaft bietet der Pädagogik daher auch nicht die notwendige Orientierung, um sich in diesen Diskussionen zurechtzufinden, worunter wiederum die pädagogische Arbeit leiden kann. Diese Lücke ist zu oft mit wenig wissenschaftlichen und zum Teil einseitig pro-israelischen Bildern gefüllt worden. Das geschieht zwar meist mit der guten Absicht der Verteidigung des Staates Israel gegen dämonisierende oder delegitimierende Kritik. Es kann aber dazu führen, dass das Ziel verfehlt wird.
Grundsätzlich kann sich dieser Mangel an konkretem Wissen in der Bildungsarbeit zu Israel und Palästina negativ auswirken – wenn Pädagog*innen beispielsweise unkritisch problematische historische Narrative des palästinensischen Nationalismus wiedergeben oder in einer (meist historisch begründeten) einseitigen Parteinahme die Identifikation mit Israel erzwingen wollen und dabei ihre Multiperspektivität verlieren.
Denn wenn Pädagog*innen in die Arbeit zum israelbezogenen Antisemitismus selbst mit einseitigen historisch-politischen Narrativen hineingehen, vergeben sie die besten Chancen der Pädagogik, israelfeindlichen Weltbildern etwas entgegenzusetzen. Am meisten erreicht man bei der Bekämpfung von israelbezogenem Antisemitismus, wenn man ein dem wissenschaftlichen Forschungsstand entsprechendes, ambivalentes Bild des Konflikts vermittelt. Im Folgenden soll anhand von konkreten Beispielen erläutert werden, welche Chancen sich antisemitismus- und rassismuskritischer Bildung erschließen, wenn sie regionalspezifisches Wissen stärker in die Bearbeitung von Fragestellungen zu Israel und Palästina einbezieht.
Der Vorwurf der „Apartheid“
Immer wieder begegnet Pädagog*innen und politischen Bilder*innen die Aussage, in den besetzten palästinensischen Gebieten oder in ganz Israel herrsche „Apartheid“, also ein dauerhaftes System rassistischer Ungleichberechtigung mit dem Ziel, die Vorherrschaft einer bestimmten Gruppe zu sichern. Dieser Begriff ist in der Öffentlichkeit seit längerem umstritten; zum Teil wird er als sachliche Beschreibung, zum Teil als Übertreibung und zum Teil als antisemitische Dämonisierung betrachtet. Beispielhaft für letzteres kann stehen, wie verschiedene Materialien mit dem Begriff der „israelischen Apartheid“ umgehen. Eine Reihe von bildnerischen Quellen von z. B. der Bundeszentrale für politische Bildung, der Amadeu Antonio Stiftung, dem Mideast Freedom Forum Berlin, der Otto-Brenner-Stiftung und RIAS betrachten die Verwendung des „Apartheid“-Begriffs für die Lage im Westjordanland oder ganz Israel als Form von israelbezogenem Antisemitismus (Amadeu Antonio Stiftung 2023, Rensmann 2021, Kummer 2023, Kraske 2023, S. 32-33, RIAS 2022, S. 10).
Zwar ist klar, dass der Vorwurf der „Apartheid“ nicht selten im Kontext von Aufrufen zur kompromisslosen Bekämpfung Israels bis zur Zerstörung verwendet wird, was in pädagogischen Materialien unbedingt problematisiert werden muss. Auf die reale Komplexität der Diskussion um den legalen und humanitären Status der Besatzung wird in den erwähnten Materialien aber an keiner Stelle eingegangen (was schon Rosa Fava kritisiert hat, Fava 2019 u. 2022). Ebenso sind die vielschichtigen Stimmen im israelischen Diskurs selbst in diesen Materialien meist abwesend – exemplifiziert z. B. durch Wissenschaftler wie Benny Morris, die selbst den „Apartheid“-Begriff für die Situation in den besetzten Gebieten verwenden (Jerusalem Fund 2023). Wie gerade durch den Debattenbeitrag von Morris gezeigt wird, muss der Vorwurf der „Apartheid“ an die Situation im Westjordanland keine Delegitimierung jüdischer Selbstbestimmung bedeuten. Er kann sowohl eine ernst gemeinte Kritik darstellen oder – und das wird in der praktischen Pädagogik wichtig – an erster Stelle ein Ausdruck zur Beschreibung tatsächlicher Erfahrungen sein, z. B. von palästinensischen Menschen unter der Besatzung. Durch eine Gleichsetzung des Begriffs mit „Dämonisierung“ oder „Delegitimierung“ gehen wertvolle Zonen der Ambiguität verloren. Dem Staat Israel gegenüber negativ eingestellten Personen wird so automatisch unterstellt, eine antizionistische Position einzunehmen, anstatt zum Beispiel eine politische Reform des Staates Israel zu wünschen. Und genau das müsste das Ziel der Pädagogik sein: Nicht zur Identifikation mit politischen Positionen Israels aufzurufen, sondern ein Angebot zum Frieden mit Israel für alle Positionalitäten und Identitäten anzubieten.
Gerade darum ist die Differenzierung so wichtig. Pädagogik, die eine einseitige Position zu kontroversen Diskussionen um den Staat Israel einnimmt, hat keinen präventiven, sondern einen polarisierenden Effekt. Wer als pädagogisches Ziel nicht Toleranz, sondern Parteinahme für Israel erreichen will, kann damit einen Gegeneffekt hervorrufen und die Feindschaft noch zuspitzen. Wer beispielsweise belegen möchte, dass es in jedem Fall falsch und antisemitisch sei, Israel eine „Apartheid“ vorzuwerfen, müsste dies auch auf sehr komplexe Fälle anwenden können, die aber den Alltag von Palästinenser*innen prägen können. Ein Beispiel dafür ist die Situation im Westjordanland. Ich erlebte einmal eine entsprechende Situation vor drei Jahren in einer Moschee mit einer Gruppe von Jugendlichen. Die Mehrheit der Gruppe fand anfänglich, man müsse gegen Israel kämpfen und war der Hamas gegenüber positiv eingestellt, wenngleich ohne besonders differenziertes Bild davon, wie dieser Kampf aussehen solle. Ein palästinensischer Jugendlicher war besonders beteiligt. Er sagte: „Wir fahren zum Sommerurlaub nach Palästina (Westjordanland, Anm.). Wir wurden auf dem Weg vom Dorf in die Stadt (zwischen Nablus und Ramallah, Anm .d. Verf.) zwei Mal durchsucht und dabei beleidigt. Weil wir Palästinenser sind. Für mich ist das Apartheid.“ Erklärt man diesem Jugendlichen nun, dass die Praxis der Besatzung im Westjordanland hauptsächlich ein System zum Schutz der israelischen Zivilbevölkerung vor terroristischen Anschlägen sei, so wird man kaum Gehör finden. Diese Argumentation hat nicht nur wenig Aussicht auf Erfolg, sondern läuft auch sehr schnell auf eine Relativierung tatsächlich völkerrechtswidriger Praxis hinaus.
Stattdessen konzentrierte ich mich in dieser Situation auf eine höhere Ebene: „Wäre es besser, wenn die israelischen Soldaten weg wären? Dann wäre die Zweistaatenlösung eine sinnvolle Sache für deine Familie. Und du solltest die Hamas ablehnen. Die ist nämlich dagegen und möchte ewigen Krieg.“ Natürlich kann man in einer solchen Situation nur Impulse geben und nicht jede Reflexionsfrage wird unmittelbar in eine sozial erwünschte Reaktion münden. Dennoch wurde in diesem Fall eine Diskussion nur möglich, weil die palästinensische Perspektive des Gegenübers ernst genommen wurde.
Historisches Wissen kann Empathie fördern
Mit einem zweiten Beispiel möchte ich zeigen, dass die Beschäftigung mit jüdischer und/oder palästinensischer Geschichte bei der Förderung von Empathie hilfreich sein kann. Bei zwei Vorträgen für ein muslimisches Publikum nach dem 07. Oktober 2023 zum Thema „Geschichte von Israel und Palästina“ machte ich die Erfahrung, dass das Hinterfragen von Schwarz-Weiß-Bildern das größte Interesse hervorrief. Gerade, weil ich nicht einfach die Farben vom „bösen“ Israel zum „bösen“ Palästina umgekehrt habe, sondern die Ambiguität von Identitäten und Gefühlen in den Fokus stellte, in der man die historische Perspektive beider Seiten oft nachvollziehen kann, ohne sie selbst teilen zu müssen.
Inwieweit war der Staat Israel, der immense Macht über Palästinenser ausübt, eine Reaktion auf den Antisemitismus, und damit jüdische Machtlosigkeit? Zur Vermittlung dieser Ambivalenz verwendete ich das Gedicht „In der Stadt des Tötens“ des zionistischen Dichters Chaim Nachman Bialik (1906). Das Gedicht behandelt Pogrome im russischen Zarenreich und die Verzweiflung der jüdischen Diaspora. Der eindrücklichste Teil thematisiert die jüdische Hilflosigkeit angesichts der judenfeindlichen Gewalt. Die Lösung dieses Zustandes der Hilflosigkeit sieht das Gedicht – implizit – im Zionismus. Die wütenden Emotionen des Gedichts stießen auf hohe Akzeptanz beim Publikum und wurden teilweise auch in Relation zu eigenen Rassismuserfahrungen gesetzt. Damit eröffnet sich potenziell eine völlig neue Ebene der Empathie für die Idee des Zionismus. „Wenn ihr an Bialiks Stelle wärt, würdet ihr euch verteidigen wollen?“ Ein einstimmiges „Ja“ war die Antwort. Dann, erklärte ich dem Publikum, hätten sie den ursprünglichen Impetus des Zionismus bereits auf einer menschlichen Ebene verstanden. Denn der Zionismus war an erster Stelle eine Nationalbewegung und keine „Verschwörung“, ob nun eine westliche oder eine jüdische.
Diese menschliche Empathie kann unabhängig vom Konflikt der Gegenwart stehen und verlangt keinerlei politische Zustimmung zum politischen Handeln des Staates Israel. Ihr Zweck ist nicht die Zerstörung einer pro-palästinensischen Identifikation, sondern eine Empathie mit den existenziellen Gefühlen des Anderen. Und das, nur scheinbar paradox, funktioniert in diesem Beispiel nicht über Frieden und Freundlichkeit, sondern über Wut und Zorn.
Ambivalenzen herausarbeiten
Mein drittes Beispiel soll verdeutlichen, dass Fachexpertise helfen kann, Ambivalenzen herauszuarbeiten und zu zeigen, dass es keine einfachen Antworten auf komplexe Fragen gibt. In einer pädagogischen Übung in einer Moschee im Jahr 2022 hatte ich versucht, Ambivalenz bereits in die Fragestellung einzubauen: Die Jugendlichen sollten in Gruppen zwei Aussagen fact-checken und ihre Ergebnisse danach vor der Gruppe (und mir) belegen können. Anstatt einfach zwei antisemitische und israelfeindliche Aussagen auszusuchen, wählte ich bewusst ein anti-israelisches Narrativ (erfundene Aussagen über israelische Massenerschießungen im Gaza-Krieg 2014) und eine anti-palästinensisches Narrativ (die Journalistin Shireen Abu Aqleh wurde von der Hamas erschossen). Dadurch konnte im Fact-Checking ein „Gleichstand“ erreicht werden. Das ist notwendig, denn die radikale Dämonisierung der israelischen Seite bis zur Vorstellung, es könne mit ihr unter keinen Umständen ein Zusammenleben geben, ist zentraler Bestandteil jener politischer Ideologien, die für den aktuellen Stillstand bei der Lösung des Konflikts mit verantwortlich sind.
Ebenfalls können Pädagog*innen sich auf historische Ambivalenzen beziehen. Ein Beispiel: Die fatale britische Kolonialpolitik, die beide Seiten zu unterschiedlichen Zeiten bevorzugte und zur Eskalation des Konflikts massiv beitrug. Oder die historische und auch genetisch belegbare Verwandtschaft von Palästinenser*innen und Jüd*innen. Oder die sich mit der palästinensischen Nakba spiegelnden Flucht- und Leidensgeschichten von Jüd*innen in der arabischen Welt. Das funktioniert aber nur, wenn es auch ein Angebot für eine demokratische und auf Koexistenz abzielende palästinensische Gegenerzählung gibt. Pädagogisch das „1:0 für Israel“ zu schießen wird bei jenen, die dafür nicht jubeln wollen, das Bedürfnis hervorrufen, ein Gegentor zu schießen. Stattdessen sollte man die Idee vermitteln, dass man dieses Spiel gar nicht erst spielen sollte – gerade in Zeiten der Zerstörung wie dem gegenwärtigen Gaza-Krieg. Die Idee eines friedlichen Zusammenlebens zwischen Israelis und Palästinenser*innen muss auch weiterhin konsequent vertreten werden. Die grundsätzliche Vorstellung, dass der Konflikt mit Israel überhaupt in einem friedlichen Kompromiss enden könne, ist die Krux einer auf Israel bezogenen antisemitismuskritischen Bildungsarbeit, wie der Verfasser sie kennengelernt hat. Insbesondere im Umgang mit palästinensischen/arabischen/muslimischen Jugendlichen aber muss vermieden werden, ihre Identität zu „widerlegen“ oder sie zu dämonisieren. Das ist zwar in der Pädagogik ein Konsens, aber in den Hintergrundmaterialien zum israelbezogenen Antisemitismus wird – wie am Beispiel der „Apartheid“ gezeigt – nicht selten ein so einseitiges Narrativ vertreten, dass der Effekt der gleiche sein kann. Statt Begeisterung für den jüdischen Staat ist das Ziel daher eine Grundempathie für seine Einwohner*innen als Menschen.
Natürlich braucht es für solche Diskussionen zusätzlich zur Ambiguitätstoleranz ein gutes Wissensfundament. Mehr noch: Nur ein gutes Wissensfundament bietet eine Chance, den weit verbreiteten einseitigen Bildern – in die eine oder andere Richtung – zu entkommen. Dieses Wissensfundament beruht beim Verfasser auf der universitären Ausbildung in den Israel- und Nahost-Studien, die er genießen durfte. Und die Früchte dieser Ausbildung in der antisemitismuskritischen Pädagogik weiter zu verbreiten, ist das Anliegen dieses Artikels.
Fazit
Wie können also in Zukunft Regionalwissenschaft und pädagogische Praxis bestmöglich zusammenfinden? Welche Anpassungen müssen eventuell vorgenommen werden, um regionalspezifisches Wissen bestmöglich in pädagogische Kontexte einspeisen zu können?
Der wichtigste konkrete Schritt wäre sicherlich eine weitergehende Vernetzung von Wissenschaft und pädagogischer Praxis. Das kann konkret die Einrichtung wissenschaftlicher Beiräte bedeuten, oder die Veranstaltung vernetzender Konferenzen zwischen den Israel- und Palästina-Studien einerseits und antisemitismuskritisch-pädagogischen Akteur*innen in Deutschland andererseits. Pädagogische Träger könnten sich beim Thema Israel und Palästina der Expertise von etablierten Expert*innen anvertrauen, deren Kenntnisse tatsächlich fundiert sind. Die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg beispielsweise verfügt über einen Lehrstuhl für Israel- und Nahostwissenschaft, sowie eine Professur für jüdische Religionspädagogik – aber Vernetzung zwischen diesen beiden Feldern besteht auch dort nur wenig. Hier ein Gespräch zu starten, wäre ein erster Ansatz. Die Leistung der Israel/Palästina-Studien wäre dann, der Pädagogik ein Netzwerk aus Wissensbausteinen zur Verfügung zu stellen. Mit diesem könnte auf Elemente des israelbezogenen Antisemitismus ebenso wie auf kontroverse Statements zum Israel-Palästina-Konflikt adäquat geantwortet werden, ohne dabei in die Untiefen der sogenannten „Israeldebatten“ zu kommen. So können dann sowohl die israelische als auch die palästinensische Perspektive mit der notwendigen Empathie betrachtet werden, ohne dabei die Notwendigkeit harter Fakten zu vernachlässigen. Wenn von der Wissenschaft aus mehr Informationen und Fakten zur Verfügung gestellt werden könnten, die aus sich heraus Vorurteile abbauen und Frieden fördern, wäre viel erreicht.
Eine Forschung, die Israel und Palästina als miteinander verknüpfte, gleichwertige Subjekte betrachtet, wäre dafür prädestiniert, diese konzeptuelle Lücke im Thema Israel/Palästina zu füllen. Derek Penslar, Direktor des Zentrums für jüdische Geschichte in Harvard, hat das Konzept „verknüpfter Israel- und Palästina-Studien“ („an entangled field of Israel/Palestine studies“) vorgelegt, das genau diesen Ansatz verfolgt. Aus dieser Sicht leitet das Konzept dann einen Imperativ für Koexistenz ab (Penslar 2020, S. 173ff). Diese Sicht, in der Gemeinsamkeiten (sowohl positive als auch negative) der beiden Seiten betont werden, ist prädestiniert für einen pädagogischen Ansatz. Sie lotet den Raum für Frieden auch in den tieferen historischen Schichten aus, und erschöpft sich nicht in oberflächlichen Aussagen über „Koexistenz“. Kern ist die Annahme einer Interdependenz von Israelis und Palästinenser*innen, und der Fokus auf die Suche nach dem konstruktiven Gehalt eines Forschungsfeldes, das Israel und Palästina gemeinsam denkt.
Ein positives Beispiel für die Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis ist beispielsweise das Projekt „Israel-Palästina“ von Gesellschaft im Wandel und Transaidency e.V.. Die Videos sollen einen offenen Austausch über Israel und Palästina anregen und versuchen, das Nullsummenspiel des Konflikts zu überwinden. Aber auch aus dem recht neuen Arbeitsfeld der Islamismusprävention lässt sich einiges über eine gezielte Verzahnung von Wissenschaft und pädagogischer Praxis lernen.
Im Kern kann das realistische Ziel politischer Bildung nicht die Verherrlichung Israels sein, sondern die Herstellung von Toleranz gegenüber politischer jüdischer Selbstbestimmung, und eine Basis von Empathie mit Jüd*innen. Das ist zwar in der pädagogischen Theorie bereits Konsens, in der Praxis aber nicht immer so. Das ideale Ergebnis ist dann nicht die Aufgabe palästinensischer, arabischer oder muslimischer Solidarisierung mit den Palästinenser*innen und die Erzwingung der Identifikation und aktiven Solidarität mit Israel. Das wäre pädagogisch weder möglich noch zulässig. Das Ziel ist, den Weg zu einer sinnvollen Solidarität zu weisen, die für eine Friedenslösung offen ist. Denn nur diese kann beiden Völkern eine bessere Zukunft ermöglichen. Aber vor allem wäre damit ein Kernelement des Antisemitismus verunsichert: Der Glaube, mit den Jüd*innen bzw. ihrem Staat könne es keinen „Frieden“ geben.
Die sprunghafte Zunahme des Antisemitismus in Deutschland nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 hat die Aufmerksamkeit für das Thema erhöht. Vielleicht führt das dazu, dass sich die deutsche Forschungslandschaft zum Thema Israel/Palästina belebt. Noch wichtiger wäre aber, dass die dringend nötige Verknüpfung der bereits bestehenden Wissenschaft mit politischer Bildung und Pädagogik in den Themenbereichen Antisemitismus, Rassismus, Israel und Palästina endlich stattfindet und diese so nachhaltig stärkt.
Literatur
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Kummer, Imke (2023). Antizionismus ohne Antisemitismus ist nicht mehr zu haben. Ein Gespräch mit Ulrike Becker, Michael Spaney und Philip Schaper vom Mideast Freedom Forum. In: Belltower News, 3. Januar 2023. URL: https://www.belltower.news/interview-antizionismus-ohne-antisemitismus-ist-nicht-mehr-zu-haben-144969/.
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Kraushaar, Wolfgang (2024). Israel: Hamas – Gaza – Palästina: Über einen scheinbar unlösbaren Konflikt. Hamburg: CEP Europäische Verlagsanstalt.
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