Umgang mit problematischen Begriffen im Lernen zu Diskriminierung
8. Oktober 2020 | Diversität und Diskriminierung

Durch ungleiche Zugänge zu Sprachdebatten kann es selbst bei zivilgesellschaftlich engagierten Menschen vorkommen, dass sie problematische Begriffe verwenden. Sobald ein problematischer Begriff unwissentlich geäußert wird, entsteht eine emotional aufgeladene Situation, die mit Beschämung des Sprechenden einhergehen kann. Katharina Debus ermutigt zu einem verständnisvollen Miteinander beim Umgang mit diesen Fehlern und zeigt Möglichkeiten auf, wie man als Seminarleiter*in einen konstruktiven und respektvollen Zugang zu diskriminierungsfreier Sprache in Seminaren ermöglichen kann.

Ein Klassiker in der Bildungsarbeit (nicht nur) zu Diskriminierungsthemen mit heterogenen Gruppen: Menschen, die sich mit ganzem Herzen und oft gegen viele Widerstände gegen Diskriminierung engagieren, verwenden aus Mangel an Wissen diskriminierende Begriffe. Andere Teilnehmende, denen die Problematik des Begriffs bewusst ist, und oft auch die Leitung, werden unruhig. Wie kann das Problematische am Begriff angesprochen werden, ohne zu beschämen? Das Problem stellt sich verschärft, wenn das gleich in der Vorstellungsrunde am Anfang passiert, also noch nicht viel Vertrauen aufgebaut werden konnte.

Vorweg für eilige Leser*innen: Mit meinem Kollegen Olaf Stuve habe ich im Rahmen zweier Projekte zu geschlechterreflektierter Rechtsextremismus-/Neonazismusprävention (www.vms.dissens.de & www.gerenep.dissens.de) bei Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V. eine Methode dazu entwickelt, die ich am Ende dieses Texts vorstelle. Olaf Stuve, Chiara Bothe und ich haben sie hier als Methodenbeschreibung veröffentlicht. Bevor ich auf die Methode eingehe, beleuchte ich zunächst das Problem etwas eingehender, da die Qualität pädagogischen Handelns meist von der Qualität des Verständnisses der Ausgangssituation abhängt. In den Exkursen finden sich verdeutlichende Beispiele, die übersprungen werden können, ohne das Textverständnis zu beeinträchtigen.

Exkurs: Beispielhafte Situationen aus der Vorstellungsrunde

Olaf Stuve und ich haben die Methode anlässlich der folgenden Situation entwickelt oder jedenfalls erinnere ich sie mit mehreren Jahren Abstand folgendermaßen: An einer Fortbildungsreihe zu geschlechterreflektierter Rechtsextremismus-/Neonazismusprävention nehmen Pädagog*innen/Bildungsarbeiter*innen aus sehr unterschiedlichen Kontexten teil: Zugespitzt spannen sich die Pole auf zwischen einerseits Menschen, die in Berlin studieren und in linken Kreisen aktivistisch aktiv und sehr in Sprachdebatten eingebunden sind und andererseits Menschen, die in einer ostdeutschen Region mit starker rechter Präsenz sehr engagierte diskriminierungskritische Sozialarbeit machen, aber nicht so sehr in Sprachdebatten eingebunden sind. Eine von diesen Teilnehmenden verwendet in der Vorstellungsrunde das Wort „Asylanten“, mehrere andere Teilnehmende werden unruhig und es kommt unserer Wahrnehmung nach Spannung in die Gruppe.

Das Wort „Asylant“ ist aus rassismuskritischer Sicht in verschiedenerlei Hinsicht problematisch. Unter anderem hat die Endung „ant“ auf Deutsch oft eine negative Konnotation (zum Beispiel „Querulant“), der Begriff reduziert die Identität der Person auf dieses Merkmal, und er ist stark von rechtspopulistischen Diskursen aufgeladen. In der Methodenbeschreibung ist eine ausführlichere Diskussion mit der genannten Gruppe dazu dokumentiert.

Wir finden auch, dass wir dieses Wort mit der Gruppe thematisieren sollten, wollen aber nicht gleich nach der Vorstellungsrunde verunsichern und vielleicht beschämen, da wir sehr sicher sind, dass es nicht um Vorsatz oder Ignoranz ging, sondern darum, dass dieses Wissen der Teilnehmerin bisher einfach nicht zugänglich war. Unter Umständen hätten wir es einfach später am Tag angesprochen oder am nächsten Tag, aber das konnten die jetzt unruhig gewordenen Teilnehmenden nicht wissen, es brauchte also eine schnellere Interventionsmöglichkeit.

In unserem letzten Projekt Interventionen für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt gab es ähnliche Situationen, wenn zum Beispiel in der Vorstellungsrunde von „Geschlechtsumwandlung“ gesprochen wurde – durch Teilnehmende, die mit vollem Engagement trans Schüler*innen den Rücken stärkten und sich angemeldet hatten, um mehr zu lernen.

Der Begriff „Geschlechtsumwandlung“ ist problematisch, weil er Geschlecht an den zu operierenden Körperteilen fest macht. Eine Person ist in der Logik des Begriffs so lange zum Beispiel Frau, bis sie ihr Geschlecht operativ durch Veränderung von Genitalien und Brustkorb zu Mann „umwandeln“ lässt. Aus einer Selbstbestimmungsperspektive ist es aber umgekehrt: Der Mensch ist bereits Mann, weil er von sich weiß, dass er ein Mann ist und das kommuniziert. Der operative Eingriff (den im Übrigen nicht alle trans Menschen vornehmen lassen, unter anderem weil nicht alle trans Menschen ihren Körper als falsch empfinden) vollzieht also keinen Wechsel des Geschlechts, sondern eine körperliche Angleichung an das bereits vorhandene Geschlecht. Die meines Wissens aktuell gebräuchlichen respektvollen Begriffe sind unter anderem körperliche Angleichung, Geschlechtsangleichung, geschlechtsbestätigende Operation (Anmerkung) .

Was macht es so kompliziert, mit diesen Situationen umzugehen?

Es kommt in diesen Situationen vieles zusammen. Im Folgenden einige Aspekte, die mir dazu durch den Kopf gehen:

Sprache strukturiert Wahrnehmung und Kommunikationsfähigkeit. Diskriminierende Sprache hat also negative Auswirkungen auf unsere Fähigkeit, Sachverhalte wahrzunehmen und über sie zu sprechen. Sie trägt so zur Schaffung bestimmter Wirklichkeiten bei, während sie andere verhindert oder erschwert.

Sprache, die diskriminierende Denkweisen und Alltagserfahrungen aufruft, kann verletzen, traurig oder wütend machen. Das kann dazu führen, dass manche Teilnehmende das Seminar nicht mehr gut als Lernraum für sich nutzen können, weil sie Energie auf den Umgang mit der Verletzung bzw. den Emotionen aufwenden müssen. Das kann im Rahmen eines diskriminierungskritischen Seminars besonders schmerzhaft und enttäuschend sein und unter Umständen zu Resignation beitragen.

Es gibt Menschen, die einfach zu bequem sind, sich empathisch mit der Wirkung ihrer Sprache auseinanderzusetzen. Hier braucht es tendenziell andere Interventionen als bei Menschen, die sich wirklich bemühen, aber noch keinen Zugang zu der jeweils konkreten Begriffsproblematisierung hatten. Am Anfang ist manchmal sehr klar einzuschätzen, ob es sich um mangelnden Zugang, Ignoranz oder gar Absicht handelt und manchmal gar nicht.

Gesellschaftliche Veränderung lässt sich nicht alleine durch Sprachpolitik bewirken. Es braucht auch materielle Veränderungen, praktische Solidarität etc. Ein Sprachfetisch im Umgang mit Diskriminierung kann viel Energie binden und dazu führen, dass die, die die sprachlichen Codes gut beherrschen, sich entspannt zurücklehnen und sonst wenig tun, während Menschen, die mit den Codes unsicher sind, aber auf anderen Ebenen sehr viel bewirken, sich minderwertig und eingeschüchtert fühlen (selbstverständlich gibt es auch viele Menschen, die versiert mit den Codes umgehen und gleichzeitig auf anderen Ebenen sehr engagiert sind – das ist kein Entweder-Oder).
Begriffslernen fällt nicht allen Menschen gleich leicht. Dabei können unter anderem Klassismus, Migration und Ableismus eine Rolle spielen (müssen aber nicht). Ein Fokus auf diskriminierungskritische Sprache kann also gerade Ausschlüsse für Menschen (re)produzieren, die ohnehin vielfältig von Diskriminierung betroffen sind.

Der Zugang zu Sprachdebatten wird auch durch Wohnort und Milieu strukturiert. Wenn diskriminierungskritische Sprachcodes vorausgesetzt werden, kann das Menschen privilegieren, die bereits einen sehr guten Zugang zu Austausch, Lerngelegenheiten und Organisierung gegen Diskriminierung haben. Möglicherweise werden (nicht nur) in Bildungsveranstaltungen so gerade die ausgeschlossen oder verunsichert, die vereinzelt gegen große Widerstände etwas bewegen wollen an Orten, an denen diskriminierungskritisches Engagement besonders Mangelware ist und wo sie besonders wenig Unterstützung und Lernbegleitung erhalten. Gerade diese Zielgruppen sollten nicht unter den Tisch fallen.

Viele Menschen, insbesondere Menschen mit Mehrfach-Diskriminierungserfahrungen (im Übrigen wurden wir alle als Kinder adultistisch diskriminiert), haben sehr schmerzhafte Demütigungserfahrungen mit Zurechtweisungen, Korrekturen und Bewertungen in der Schule gemacht. Wenn diese Erinnerungen aufgerufen werden, kann viel Schmerz hochkommen. Manche reagieren darauf mit Widerstand, andere werden klein. Beides ist der Nutzung eines Seminars als Lernraum nur bedingt zuträglich. Und wir sollten als Leitung in der Pädagog*innenbildung das vorleben, was wir uns als Haltung unserer Teilnehmenden mit ihren Zielgruppen wünschen. Oft haben unsere Teilnehmenden das auch rückgemeldet, dass sie viel Modell-Lernen bezüglich Haltung an uns erlebt haben, was sie auf die Arbeit mit ihren Zielgruppen übertragen wollen. Demütigung und Verletzung sind nicht Teil meines pädagogischen Ideals.

Gleichzeitig ist Sprache dennoch wichtig (siehe oben). All diese Problematisierungen sollen also nicht sagen, dass Sprache doch eigentlich egal ist.  In der oft gehörten Abwehr, bei Sprachpolitiken handele es sich lediglich um akademische Debatten aus dem Elfenbeinturm, kann einerseits ein Antiintellektualismus mitspielen, der (insbesondere in Deutschland) historisch eng mit Antisemitismus verbunden ist. Zum anderen ist diese Behauptung in vielen Fällen schlicht falsch: Viele diskriminierungskritische Begriffe und Begriffskritiken kommen nicht aus der Akademie, sondern aus dem Aktivismus, also aus dem Ringen von Menschen gegen Diskriminierung und Stigmatisierung und dem Bemühen, eine Sprache zu entwickeln, die einer gerechteren Gesellschaft und ihrem eigenen Empowerment zuträglich ist bzw. zumindest ihre eigene Realität besser abbildet als die üblicheren Bezeichnungen und Formulierungen. Und diese Kämpfe finden oft unter sehr prekären Bedingungen statt – sie kommen gerade nicht von oben, auch wenn das bei Menschen so ankommen mag, die sich sprachlich überfordert fühlen. Aufgrund dieser nicht-akademischen, sondern aktivistischen Herkunft im Ringen um Anerkennung sind viele dieser Begriffe auch nicht klar definiert oder eindeutig umrissen und abgegrenzt. Es handelt sich oft um Suchbewegungen, die immer in Diskussion bleiben.

Sprache steht in einem interaktiven Verhältnis zu Wirklichkeit: Sie prägt Wirklichkeit aktiv, aber sie bildet Wirklichkeit auch passiv ab. In einer diskriminierenden Gesellschaft, die zum Beispiel bestimmte Menschengruppen nicht als „normal“ oder gleichberechtigt anerkennt und auf Trennungen zwischen „uns“ und „den Anderen“ fußt, kann Sprache oft nur eine Suchbewegung sein. Nicht immer gibt es eindeutig diskriminierungsfreie Begriffe, manchmal muss zwischen geringeren Übeln abgewogen werden.

In diesen Abwägungen sollte den jeweils diskriminierten Menschen zugehört werden. Allerdings sind sich selbstverständlich auch von einem bestimmten Diskriminierungsverhältnis betroffene Menschen oft überhaupt nicht einig (Diskriminierungskritik heißt auch, sich von homogenisierenden Bildern von Menschengruppen zu verabschieden). Es müssen also dennoch immer Entscheidungen getroffen werden. Wenn Menschen aber nur aus einer Community oder Strömung Anregungen erhalten, kann es sein, dass sie gar nicht wissen, dass ein bestimmter Begriff auch unter jeweils diskriminierten Menschen umstritten ist, sondern vertreten ihn unter Umständen als unumstößliche Wahrheit (es gibt aber auch Begriffe, bei denen sich wirklich ziemlich alle einig sind, zum Beispiel beim N-Wort).

Exkurs: Beispiele für Begriffskontroversen in aktivistischen Communities

Um nur einige Beispiele zu nennen:

  • Im Kontext der Slut Walks (Anmerkung) war es unter Frauen sehr umstritten, ob dieser Begriff subversiv angeeignet werden kann oder besser komplett aus dem Sprachgebrauch gestrichen werden sollte.
  • Nicht alle im Rassismus Diskriminierten wollen gerne als People of Color bezeichnet werden, auch wenn viele das einen guten Begriff finden.
  • Es gibt einen sehr aufgeladenen Streit in trans Communities über die Begriffe transsexuell, transgeschlechtlich, trans*, transgender, transident etc.
  • Unter Sinti*zze, Rom*nja und weiteren Gruppen gibt es eine sehr engagierte Debatte über die Begriffe „Antiromaismus“, „Antiziganismus“, „Rassismus gegen Sinti und Roma“, „Gadsche-Rassismus“ etc.
  • Intersektional gibt es weitere Spannungsfelder, zum Beispiel bzgl. des (insbesondere ausgesprochenen) Gendersterns hinter Juden* (Aussprache zum Beispiel Juden-Stern oder Juden-Sternchen – ich denke, das Problem ist offensichtlich) oder bezüglich des Unsichtbarwerdens des besonders mit Verfolgung verbundenen und auch heute oft als Schimpfwort gebrauchten Worts „Jude“ in der gegenderten Formulierung „Jüd*innen“.

Meine/ unsere Umgangsweise

Es ist also ganz schön komplex, sowohl auf einer inhaltlichen als auch auf einer emotionalen Ebene. Und dann gibt es noch eine strategische Ebene: Wenn wir Pädagogik und Gesellschaft inklusiver gestalten wollen, dann brauchen wir viele Menschen, die tatkräftig mitwirken. Dem ist es weder zuträglich, wenn die einen aussteigen, weil sie erschöpft von den ständigen Verletzungen sind, noch wenn die anderen aussteigen, weil sie aus Angst vor Fehlern, Schuld und Scham ihr Selbstbewusstsein und ihre Handlungsfähigkeit verlieren (die unter Umständen schon vorher durch die wirklichen Gegner*innen von Diskriminierungskritik unter Beschuss standen). Und viele Menschen machen beide Erfahrungen auf einmal.

Gleichzeitig gibt es keine einfachen Lösungen, es bleibt eine Herausforderung und es geht immer mal schief. Ich schließe dennoch mit drei Herangehensweisen, die ich gemeinsam mit verschiedenen Kolleg*innen der Projekte www.jus.dissens.de, www.vms.dissens.de, www.gerenep.dissens.de und www.interventionen.dissens.de entwickelt und als entlastend für mich und den Gruppenprozess erlebt habe:

Einführung am Seminaranfang: Solidarische Kritik

Direkt am Anfang eines Seminars sage ich mittlerweile fast immer, dass wir in einer Gesellschaft leben, die von Diskriminierung durchzogen ist und dass wir daher alle diskriminierende Sprache, Denk- und Handlungsweisen verinnerlichen. Das heißt, dass eine Person, der Fehler passieren, nicht böse ist, aber dass wir uns gemeinsam auf den Weg machen müssen, Dinge umzulernen und zu verbessern. Ich schlage vor, zwischen Intention und Effekt zu unterscheiden, also anzuerkennen, dass etwas ganz wunderbar gemeint sein kann, aber wenn es auf einen diskriminierenden Hintergrund trifft, kann es dennoch diskriminierende Wirkung entfalten und für die sollten wir Verantwortung übernehmen.

Ich spreche davon, dass wir für diesen Weg des Umlernens und Alternativen-Entwickelns andere Menschen brauchen, die uns Lernangebote machen. Entsprechend schlage ich vor, solidarische Kritik als Geschenk und Lernangebot anzubieten und zu verstehen (auch wenn das selbstverständlich nach der x-ten Mikroaggression nicht immer geht, selbst wenn diese Mikroaggression nicht intentional war). In diesem Sinne schlage ich einen Lernraum vor, der Fehlerfreundlichkeit mit engagierter Verantwortungsübernahme verbindet. Und ich erzähle oft eine eigene wahre Geschichte, dass ich durch solidarische Kritik von Teilnehmenden viel lernen konnte, unter anderem, dass „mauscheln“ ein antisemitischer Begriff ist (das kommt von „wie Moischele sprechen“ und „Moischele“ stand historisch für Jüd*innen), und dass ich sehr dankbar bin, darauf hingewiesen worden zu sein, weil ich das Wort sehr oft verwendet habe.

In meiner Erfahrung ist es sehr hilfreich, all das ganz am Anfang zu sagen, bevor es einen Anlass gibt, sodass es noch niemand persönlich auf sich beziehen kann. Das hat einerseits den Nachteil, dass das Seminar-Intro verlängert wird, und zum anderen, dass Teilnehmende, die eine Kultur gegenseitiger solidarischer Kritik nicht kennen (entweder: nur vernichtende Kritik oder: Harmoniegebot), dadurch erstmal verunsichert sind. Es ist also wichtig, vorher und nachher nach Möglichkeit eine warme Atmosphäre zu schaffen und Kennenlernangebote zu machen, die den Vertrauensaufbau fördern. Das löst nicht alles, aber doch einiges. Wenn es eine große Anspannung in der Gruppe gibt, kann es auch viel Potenzial haben, zu eigenen Erfahrungen mit Kritik und Feedback zu arbeiten – eine selbstreflektierte Haltung zu diesen Themen ist einer professionellen Pädagogik sehr zuträglich – aber das fordert Zeit und die Leitung sollte in der Lage sein, den möglicherweise dadurch aufgerufenen Schmerz auch aufzufangen. All diese Vorgehensweisen sind also auch Abwägungsfragen.

Feedback-Wünsche

In den letzten Jahren haben wir zudem öfter mit Wünschen an Feedback und Kritik (auch über Begriffe hinaus) gearbeitet, die wir auf einer Flipchart in den Raum gehängt haben. Dazu gehören unter anderem Ich-Botschaften (anstatt Zuschreibungen wie „Du bist…“ oder Verallgemeinerungen „man fühlt sich dann schlecht“) und Konkretion (also: Worum genau geht es und warum finde ich das problematisch? Nehme ich einen problematischen Effekt an? Wenn ja: Welchen? Steht es mit einem mir wichtigen Wert in Konflikt? Gibt es einen historischen Kontext? Gibt es gerade einen Interessens- oder Bedürfniskonflikt? Dann lieber „Ich hätte jetzt gerade xyz gebraucht“ als „Das war falsch“). Auch dieses Vorgehen hat viel entlastet, erfordert aber auch immer wieder Übung.

Stille Diskussions- und Austauschwand

Zumindest in längeren Gruppenprozessen arbeite ich meistens mit einer Wand, an der jenseits der frontalen Plenumssituation ein Austausch zu Begriffen stattfinden kann. Es können also jenseits der Frontalsituation Begriffe problematisiert oder als Schreibgespräch diskutiert werden und es besteht die Möglichkeit, einzelne dieser Diskussionen auch wieder im Plenum aufzugreifen. Das beschreiben wir in der Methodenbeschreibung „Begriffe Diskutieren“ unter gerenep.dissens.de/geschlechterreflektierte-neonazismuspraevention/methoden.

Mittlerweile hat sich die Methode so weiterentwickelt, dass die Wand auch für gemeinsames Nachdenken, Fragen, Diskussionen, Empfehlungen (zum Beispiel von Materialien) und Austausch, zum Teil auch für Verabredungen genutzt wird, ergänzend zur formalen Seminarstruktur. Und auch ich interagiere als Leitung manchmal an der Wand durch eigene Problematisierungen, Fragen, die Beantwortung von Fragen oder Materialempfehlungen.

Oft wirkt dieses Vorgehen entlastend auf die Teilnehmenden, die einen Begriff oder ähnliches problematisch finden, aber nicht wissen, ob sie das jetzt sagen dürfen oder nicht. Und auch für mich ist es eine gute Möglichkeit, wenn eine Frage oder Problematisierung gerade nicht gut in die Situation passt, diese dennoch später zu platzieren, ohne unbedingt etwas Großes im Plenum draus machen zu müssen (mündliche Interventionen durch Leitung oder Teilnehmende sind selbstverständlich aber auch weiterhin möglich).

Viele Teilnehmende, denen in dieser Weise Lernangebote gemacht wurden, waren sehr dankbar für die Lerngelegenheiten und einige haben gesagt, dass es für sie leichter ist, sich das in Ruhe durchzulesen, darüber nachzudenken und vielleicht auch reagieren zu können, als vor der Gruppe beim Hören der Kritik plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Außerdem fällt es vielen Teilnehmenden auch leichter, halbanonym auf der Wand Fragen zu Dingen zu stellen, von denen sie annehmen, dass die anderen das alle schon wissen.

Es kann allerdings auch schief gehen. Ich teile das, weil ich glaube, wir können auch aus unserem Scheitern lernen: Ich erinnere eine Situation in, ich glaube, einem kürzeren Seminar mit wenig vorherigem Vertrauensaufbau, wo ein Teilnehmer die Formulierung „von der Polizei gefickt werden“ verwendet hatte. Ich habe an der Pinnwand aufgeschrieben, dass ich das problematisch finde, weil es patriarchale und heteronormative Ordnungen wiederholt, denen zufolge „jemanden ficken“ ein aggressiver Akt und „gefickt werden“ demütigend ist und dass das Figuren sexualisierter Gewalt aufruft. Der Teilnehmende hat diese Kritik als „an den Pranger gestellt werden“ empfunden, weil er nicht aufhören konnte, immer wieder draufzuschauen. Wir haben dann die Wandzeitung abgenommen und eine neue angefangen und ich war froh, dass er das ehrlich rückgemeldet hat, sodass wir die Situation verändern konnten. Ich kann mir vorstellen, dass der Zeitpunkt im Seminar eine Rolle gespielt haben könnte und/oder dass ich als Leitung das rangeschrieben habe, während die Gruppe untereinander sich keinerlei kritisches Feedback gegeben hat und/oder dass das eine lange Kommentierung war und/oder dass eines der aufgerufenen Themen besonders schmerzhaft für den Teilnehmenden war bzw. besonders angreifend für sein Selbstkonzept. Vielleicht hat auch etwas ganz anderes eine Rolle gespielt. Ich erwähne dieses Beispiel, um deutlich zu machen, dass diese Methode – wie ziemlich alle Methoden – auch Risiken und Nebenwirkungen hat.

Wie gesagt: Diese Situationen sind so komplex, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Aber ich glaube, wir können viel über uns selbst, über die anderen Beteiligten, über Bildungsprozesse, über Dynamiken von Diskriminierung und Widerstand und über Möglichkeiten von Wachstum, Solidarität und Inklusion lernen, wenn wir sie als Spannungsfeld begreifen und – da schließt sich der Kreis – als Lerngelegenheiten für uns als Pädagog*innen/Bildungsarbeiter*innen.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dissens.de. Wir danken dissens.de und der Autorin für ihre Erlaubnis, den Beitrag hier wieder zu veröffentlichen.

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