Die aktuellen gesellschaftlichen Krisen stellen auch unter Jugendlichen Gewissheiten in Frage und gehen mit bisweilen existentiellen Verunsicherungen einher. Umso attraktiver werden autoritäre Angebote, die mit dem Versprechen von einfachen Antworten und Gemeinschaft Orientierung und Identität verschaffen. Dies spiegelt sich auch in rigiden Geschlechterrollen und normierenden Vorstellungen von Männlichkeit, wie Jonas Lang in seinem Artikel aufzeigt. Auf der Grundlage eines Werkstattgespräches der Landesarbeitsgemeinschaft Jungen*arbeit NRW formuliert er Ansätze für eine geschlechtersensible Arbeit mit Jungen*.
Der Begriff der „Krise“ erfährt im aktuellen pädagogischen Diskurs eine bedenkenswerte Form der Popularität. Charakteristisch für jugendliche Lebenswelten der Generation Z wird das Schlagwort der Krise wiederkehrend als prägendes Sozialisationsmerkmal genannt. Ob Gesundheitskrise im Zuge der Corona-Pandemie, die Klimakrise in all ihren Facetten, Sicherheitskrisen im Zuge des Überfalls der russischen Streitkräfte auf die Ukraine bis zur daraus resultierenden Wirtschafts- und Energiekrise, aber auch die hiermit verbundenen politischen Krisen, bzw. Demokratiekrisen, die sich im Erstarken und Aufbegehren rechtsextremer und neofaschistischer Bewegungen in Deutschland und Europa abzeichnen. Es erscheint, als verlieren sich Jugendliche in der Unübersichtlichkeit der suggerierten gesellschaftlichen Destabilisierungsprozesse. Doch nicht nur bei Jugendlichen, sondern auch bei pädagogischen Fachkräften beobachten wir zunehmend eine Form der Sprachlosigkeit, die symptomatisch für das beschriebene Krisenzeitalter erscheint. Dabei ist durchaus diskussionswürdig, ob die tatsächliche Häufigkeit von Krisen im Vergleich zu den vorangehenden Generationen so viel dichter ist, würde der Blick in die vergangenen Jahrzehnte offenlegen, dass Krisen ein kontinuierliches Strukturmerkmal moderner Sozialisationsprozesse in Deutschland, bzw. Europa darstellen. Exemplarisch dafür sind etwa die Wirtschafts- und Finanzkrise im Jahr 2008. Die Kriege in Syrien, Irak, Afghanistan, Kosovo, Jugoslawien, Bosnien. Die rechtsradikalen Gewaltserien von Rostock-Lichtenhagen über Solingen, Mölln, bis zur Terrorserie des NSU und den Attentaten in Halle und Hanau. Die Terroranschläge in New York, London, Barcelona. Die Nuklearkatastrophe in Tschernobyl 1986, der NATO Doppelbeschluss von 1979, die Ölpreiskrise von 1973, die Kubakrise von 1962 und der Kalte Krieg, und die Liste könnte noch fortgeführt werden.
Trotz der scheinbaren historischen Kontinuität von Krisen ist es m. E. dennoch unstrittig, dass zumindest die Häufung der Krisenszenarien im Sinne ihrer medialen Allgegenwärtigkeit in Zeiten von Web 2.0 und Social Media exorbitant höher ist. Waren die Krisenszenarien in herkömmlichen Medienformaten noch örtlich und zeitlich abhängig von Sendezeiten in Fernsehen und Radio oder von der Veröffentlichung in Printmedien, so sind sie nun jederzeit abrufbar und ungefiltert zugänglich. Hierin äußert sich einerseits revolutionäres Potenzial, wenn sich am Beispiel der Jasmin-Revolution in Tunesien oder der aktuellen Proteste im Iran in kürzester Zeit internationale politische Bewegungen in Gang setzten. Andererseits geht mit der medialen Entwicklung einher, dass die Suche nach „Wahrheit“ immer komplexer bis uneindeutiger wird. Das gezielte (oder auch unbeabsichtigte) Verbreiten und Streuen von Desinformation, Verschwörungserzählungen oder auch die Segregation von öffentlicher Kommunikation in Echokammern und Filterblasen bewirken, dass auch die Suche nach Erkenntnis als solche in die Krise gerät.
Ich selbst versuche mit meinen Überlegungen im nachfolgenden Text besser zu verstehen, warum bei allen gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen die autoritäre Formierung eine derartige Konjunktur erfährt und welche Bedeutung dem Begriff der Krise hierbei zukommt. Der angedeutete Neo-Autoritarismus macht sich bemerkbar im Erstarken rechtsradikaler Parteien in ganz Europa, der Verbreitung von Verschwörungserzählungen, der Ablehnung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und in sozialpolitischen Entsolidarisierungstendenzen. Bei diesen Entwicklungen nimmt die Inszenierung von Männlichkeiten und das Festhalten an tradierten Geschlechternormen an vielen Stellen eine Schlüsselrolle ein. Vor diesem Hintergrund veranstaltete die Landesarbeitsgemeinschaft Jungen*arbeit NRW im Dezember 2023 ein Werkstattgespräch mit Fachkräften aus unterschiedlichen Bereichen der geschlechtssensiblen Pädagogik. Der nachfolgende Text greift zentrale Aussagen und Ergebnisse aus diesem gemeinsamen Austausch auf und nähert sich damit folgenden Fragen an:
- Welcher Begriff von „Krise“ herrscht im pädagogischen Diskurs vor?
- Was haben Krisenszenarien mit Männlichkeiten zu tun?
- Mit welchen Bewältigungsmustern begegnen Jungen* aber auch pädagogische Fachkräfte krisenhaften Tendenzen und Krisenszenarien?
- Wie können angemessene Interventionen gestaltet werden?
Zum Begriff der „Krise“
Bei aller Rede von Krisen muss in einem ersten Schritt näher beleuchtet werden, wie vieldeutig der Begriff der „Krise“ eigentlich ist und in welchen Kontexten er auftauchen kann.
Der etymologische Ursprung des Krisenbegriffs geht zurück auf den griechischen Terminus κρίσις („krisis“) und bedeutet so viel wie „Streit, Urteil, gefährliche Entwicklung, Zuspitzung“, aber auch: „Wendepunkt“ und „Unterscheidung“.
Bei den einleitend genannten Krisenbeispielen geht es in erster Linie um makrosoziologische Phänomene. Sie lassen sich sozialwissenschaftlich deuten und mit gesellschaftlicher Analyse einordnen. Vielmehr noch: Sie sind letztlich die Entstehungsgrundlage für Sozialwissenschaft überhaupt. So kann die klassische Soziologie als „Wissenschaft von der Krise“ gekennzeichnet werden (vgl. Steg 2020: 486f). Beispielsweise findet sich die Krise bei Marx als ein in wiederkehrenden Zyklen auftauchendes ökonomisches Phänomen, das den Bewegungsgesetzen kapitalistischer Produktionsverhältnisse immanent ist. Émile Durkheim beschreibt Krise wiederum als Symptom einer moralischen Orientierungslosigkeit infolge des Bedeutungsrückgangs gesellschaftlich etablierter (in seinem Fall religiöser) Norm- und Wertsysteme, auch bezeichnet als „Anomie“. Durkheim durchleuchtete seinerzeit die Synthese aus gesellschaftlichen Entsolidarisierungsprozessen und innerpsychischen Folgewirkungen bis hin zum Suizid, der ein zentraler Bezugspunkt seiner soziologischen Analysen darstellt. In der Medizin beschreibt der Begriff der Krise den Höhepunkt einer Erkrankung, nach dem es entweder zur Genesung oder zum Tod kommt.
Dass es keine vereinheitlichte Definition von Krise als solche gibt, wird spätestens dann deutlich, wenn wir den Krisenbegriff erweitern um die innerpsychische Dimension. Wir erleben Krise hier als ein Spektrum von der alltäglichen Ausnahmesituation im Sinne einer Schaffenskrise, Identitätskrise, Glaubenskrise, Midlife-Krise, Sinnkrise, etc. bis hin zur traumatischen Episode. Somit ist Krise im psychologischen Sinne eine individuelle Überforderungssituation oder Störung im seelischen Gleichgewicht, die bis zur existentiellen Bedrohungslage reichen kann [1]. Johan Cullberg versuchte in den 1970er Jahren, den Verlauf einer psychischen Krise in einem Phasenmodell abzubilden, an dessen Ende nach Schock, Reaktion und Bearbeitung idealerweise die Neuorientierung steht (vgl. Cullberg 1978). Nach Erik H. Erikson ist die Krise sogar eine entwicklungspsychologische Notwendigkeit, die sich im psychoanalytischen Sinne aus dem Konflikt zwischen inneren Bedürfnissen/Wünschen und den Anforderungen der sozialen Umwelt ergibt. Aus diesen entwicklungsbedingten Krisen leitete Erikson acht aufeinander aufbauende Entwicklungsphasen ab, die die gesamte Lebensspanne umfassen [2] und macht gleichzeitig aufmerksam auf die Gefahr für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung, wenn autoritäre Erziehung oder aber unsichere Bindungsmuster überwiegen. Der Beitrag, den Erziehung zu einer gesunden Bewältigung der umrissenen „Krisenbewältigung“ leisten kann, besteht in der Schaffung eines sicheren Beziehungs- und Ermöglichungsrahmens. Diese Aufgabe wird allerdings herausgefordert, denken wir die psychologische Dimension mit den gesellschaftlichen Krisenszenarien zusammen.
Zur Vergeschlechtlichung von Krise
Rechte Bewegungen der Gegenwart haben sich geradezu darauf spezialisiert, gesellschaftliche Krisen nach ihren autoritären und faschistoiden Weltdeutungsmustern zu framen. Besonders drastisch wurde dies in Zeiten der Corona-Pandemie, bei der sich ein esoterischer Antiintellektualismus mit zumeist antisemitischen Verschwörungsnarrativen paarte. Ebenso wurde die Krise in der Ukraine seit dem Überfall Russlands schnell in sozialen Medien mit Desinformationskampagnen und autoritärer Kreml-Propaganda beantwortet. Die Energiekrise und der damit verbundene Diskurs um die Verschärfung sozialer Ungleichheiten scheint ähnlich wie die Bauernproteste von rechtsradikalen Strömungen gekapert. Teilweise werden Krisen auch durch rassistische Narrative erst erzeugt. So führte das ständige Heraufbeschwören der „Flüchtlingskrise“ ab 2015 zu einer massiven Diskursverschiebung um Flucht, Migration und Männlichkeiten, die zu Gesetzesverschärfungen im Asylrecht, einem Anstieg rassistischer Gewalt und letztendlich auch zur Grundlage des Projekts „Irgendwie hier“ der LAG Jungen*arbeit NRW als pädagogische Gegenerzählung führte.
Bei all diesen Instrumentalisierungsversuchen erscheint die Inszenierung von Männlichkeiten als ein grundlegendes Strukturmerkmal. Im Diskurs um Fluchtmigration beispielsweise werden Männer* mit Fluchterfahrung und of Color als Bedrohungs- bzw. Überfremdungsszenario missbraucht. Sie werden – mit Raewyn Connell gesprochen – marginalisiert, um die hegemoniale Ordnung weiß-cis-männlicher Vorherrschaft zu stabilisieren. In dieser Gleichzeitigkeit der rassistischen Leitmotive aus „Genderwahn“ und „schützt unsere (weißen) Frauen vor sexualisierter Gewalt“ hat das rechte Framing dazu geführt, den feministischen Diskurs zu pervertieren. Das Schüren von Überfremdungsängsten wendet sich auch in einen konservativen Rückzug hin zu einem überkommenen Nationalismus, von dem bereits Adorno wusste, dieser sei „deshalb so böse, weil er im Zeitalter der internationalen Kommunikation und der übernationalen Blöcke sich selbst gar nicht mehr so recht glauben kann und sich ins Maßlose übertreiben muss, um sich und anderen einzureden, er wäre noch substantiell.“
Mit Blick auf die Klimakrise fällt auf, dass auch hier die patriarchale Gegendarstellung schnell Raum eingefordert hatte. Einerseits in wiederkehrenden sexistischen Verbalisierungen gegen prominente FLINTA*-Vertreterinnen (Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen) der Klimaproteste wie Greta Thunberg oder Luisa Neubauer, andererseits aber auch in der Verteidigung klimaschädlicher Lebensstile als männliche Dominanz- und Machtdemonstrationen. Das Verbindende dieser Männlichkeitsinszenierungen erscheint im Heilsversprechen des „Altbewährten“, in einem Rückzug in die vermeintliche Eindeutigkeit angesichts der immer unsicherer anmutenden Zukunftsprognosen Heranwachsender. Propagiert wird eine essentialistische Männlichkeit der Härte, die vielen Jungen* Sicherheit vortäuscht und gleichzeitig zum Bedrohungsszenario für diejenigen Jungen* wird, die von diesem Bild abweichen. Diese Form der Männlichkeitsdarstellung ist zutiefst missbräuchlich, denn – auch das wusste Adorno – sie „wurde längst zum Deckbild eines Masochismus, der – wie die Psychologie dartat – mit dem Sadismus nur allzu leicht sich zusammenfindet. Das gepriesene Hart-Sein, zu dem da erzogen werden soll, bedeutet Gleichgültigkeit gegen den Schmerz schlechthin.“
Selbstverständlich sind es auch die kriegerischen Auseinandersetzungen der Gegenwart, die als mediale Schauplätze der Männlichkeitsinszenierung rezipiert werden. Der Überfall Russlands auf die Ukraine war gleich in mehrfacher Hinsicht begleitet von gewaltvollen Männlichkeitsdarstellungen. Zum einen nutzte die russische Regierung für den Überfall selbst perfide Vergewaltigungsmetaphern, zum anderen führte die Verteidigung auf Seiten der Ukraine zu einer Reaktivierung militaristischer Männlichkeitskonzepte, aus der auch unter Fachkräften ein schwer lösbarer und bis heute andauernder Konflikt um das Verhältnis zwischen Notwehr und Pazifismus hervorging.
Ähnlich polarisieren die aktuellen Entwicklungen in Nahost seit dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel und der sich anschließenden Gegenoffensive der israelischen Armee. Angesichts der ausufernden Menschenrechtsverletzungen und dem daraus abgeleiteten Druck, einseitig Position zu beziehen, finden sich sowohl Jugendliche als auch Fachkräfte eher in der Sprachlosigkeit wieder, als ihrer emotionalen Betroffenheit oder gar persönlichen Unsicherheit Raum und Sprache geben zu können. Dabei kann es gerade eine Stärke der Jungen*arbeit sein, Ambivalenzen und Widersprüche nicht „wegmachen“ zu wollen (Jantz 2003: 10), sondern die Spannungen als solche in ihrer Uneindeutigkeit wahrzunehmen und besprechbar zu machen. Hierin begründet sich für eine kritisch-emanzipatorische Jungen*arbeit Herausforderung und Chance zugleich.
Jungen*arbeit als Krisenintervention
Bei der Planung einer angemessenen Form der pädagogischen Intervention angesichts der oben umrissenen Krisen gilt es, sich zunächst zu vergegenwärtigen, dass Jungen*, die uns begegnen, unterschiedliche Formen der Betroffenheit von diesen aufweisen können.
Die Wechselwirkung aus gesellschaftlichen Krisenszenarien und innerpsychologischen Krisen wurde seitens teilnehmender Fachkräfte des Werkstattgesprächs häufig genannt. Die Corona-Pandemie beispielsweise führte insbesondere bei Jungen* mit psychischer Vorbelastung infolge der Isolationstendenzen zu einer massiven Verschlechterung ihrer mentalen Gesundheit. Gleichsam stieg die Zahl der innerfamiliären Krisen und damit verbundenen Kindeswohlgefährdungen messbar in die Höhe.
Bei Jungen* in Armutsverhältnissen bewirkten ökonomische Krisen eine drastische Verschlechterung ihrer ohnehin eingeschränkten gesellschaftlich-kulturellen Teilhabemöglichkeiten, die durch die coronabedingte Schließung vieler kostenfreier Treffpunkte und Begegnungsräume noch verstärkt wurde. Hinzu kommt die Nichterreichbarkeit von Sozialämtern und Jobcentern, wenn es um die Beantragung von Leistungen zur Existenzsicherung geht. Armutsbetroffene Jungen* sind in pädagogischen Räumen dementsprechend häufig unsichtbar, da sie ihre soziale Lage entweder verheimlichen oder aber ganz fernbleiben. Die Dimension des Klassismus, die sich an diesem Beispiel aufspannt, findet im pädagogischen Diskurs nach wie vor zu wenig Beachtung.
Im Kontext von Flucht und Migration treffen wir auf Jungen*, die kriegerische Auseinandersetzungen und Katastrophen unmittelbar erlebt haben können. Neben der möglichen traumatischen Belastung sind sie gleichzeitig Objekte der oben beschriebenen rassistischen Diskurse und der institutionellen Diskriminierung, sei es durch Polizeigewalt oder durch die gesetzlich legitimierte Verweigerung von Teilhabemöglichkeiten durch die willkürliche Einstufung in sichere oder unsichere Bleibeperspektiven. Sie werden im pädagogischen System häufig entweder als potentielle Bedrohung oder aber als verwertbares Humankapital für Mangelberufe angesprochen, nicht aber als emotional verletzlich und schutzbedürftig.
Es wird für all diese exemplarisch aufgeführten Herausforderungen keine allgemeingültigen Rezepte hin zu einer gelingenden Praxis geben. Wohl aber können Fachkräfte eingeladen sein, sich in ihrer professionellen Haltung und ihren Angeboten zu vergegenwärtigen, dass sie mit Jungen* arbeiten, die sowohl unterschiedliche Fragen zu als auch unterschiedliche Betroffenheiten von Krisen aufweisen. Unter dem Paradigma der Angemessenheit helfen die hier angestellten Überlegungen möglicherweise dabei zu verstehen, dass das Wechselspiel aus gesellschaftlicher Analyse und affektiver Betroffenheit ein Spannungsfeld eröffnet, in dem die pädagogische Intervention zur gemeinsamen Suchbewegung wird. Bei Jungen*, die eine hohe emotionale Betroffenheit von Krisen aufweisen, kann es unter Umständen wenig hilfreich sein, nur auf der Sachebene zu verharren und gesellschaftliche Analyse zu betreiben, anstatt eine gemeinsame Sprache für die dahinterliegenden Emotionen zu finden, wohingegen es bei Jungen*, die beispielsweise Verschwörungsideologien anhängen, unzureichend sein kann, die Ebene der Emotionalisierung und Moralisierung überzubetonen, anstatt gemeinsam zu ergründen, woher Informationen kommen und wie Wissen zustande kommt. Wichtigste Grundvoraussetzung bleibt in beiden Varianten den Kontakt und die pädagogische Beziehung aufrecht zu erhalten.
Fazit
In der Konfrontation mit Krisen können Jungen* empfänglich für einfache Antworten und Wahrheiten werden. Dahinter steht das Bedürfnis nach Komplexitätsreduktion angesichts der zugrunde liegenden Verunsicherung. Es ist daher verständlich, dass insbesondere reaktionäre Heilsversprechen, die die Welt in einfache Muster aufteilen und am vermeintlich „Altbewährten“ festhalten, derartige Erfolge zu verzeichnen scheinen. Annäherungen an klassische entwicklungspsychologische Modelle können verstehen helfen, warum diese Bedürfnisse mit einem pädagogischen Beziehungsangebot zielführender beantwortet werden können als mit bloßer Gegendarstellung und Wissensvermittlung. Uneindeutigkeit und Widersprüchlichkeit können hierbei von der aufzulösenden Dissonanz umgedeutet werden in eine Entlastung vom Druck, einseitig Position beziehen oder eindeutige Lösungen formulieren zu müssen. Diese Entlastung gilt beidseitig sowohl für begleitete Jungen* als auch für begleitende Fachkräfte. Letztere müssen nicht als allwissende Erklärer*innen auftreten, sondern als Vertrauens- und Ansprechpersonen, die mit Jungen* in die gemeinsame Suchbewegung gehen und eine Sprache für dahinterliegende Bedürfnisse und Emotionen finden. Damit verbunden sollten Fachkräfte aktuell besonders sensibel sein für die Wechselwirkungen aus gesellschaftlichen Krisenszenarien und den individualpsychologischen Krisen von Jungen* mit besonderer Vulnerabilität.
Die Stärke von Jungen*arbeit und geschlechtsbezogener Pädagogik allgemein besteht im Aushalten von Uneindeutigkeit und Widersprüchen. Es ist daher Entwicklungsaufgabe und pädagogische Chance zugleich, den hier skizzierten Krisenbegriff in seiner Vielschichtigkeit und Dialektik zu begreifen.
Anmerkungen
[1] Dementsprechend wird eine Krise laut ICD 10 als akute Belastungsreaktion oder Anpassungsstörung kodiert:
• F43.0 – Akute Belastungsreaktion bei psychisch nicht manifest gestörten Menschen, die im Allgemeinen nach Stunden oder Tagen abklingt)
• F43.2 – Anpassungsstörung nach einschneidenden Lebensereignissen und Veränderungen (z.B. Emigration, Trennung, Todesfall, Verlust des Arbeitplatzes)
• F43.8 – Sonstige Reaktionen auf schwere Belastung
• F43.9 – Reaktionen auf schwere Belastung, nicht näher bezeichnet
[2] Die acht Phasen der psychosozialen Entwicklung nach Erikson (vgl. ebd. 1973): 1. Ur-Vertrauen vs. Ur-Misstrauen (1. Lebensjahr), 2. Autonomie vs. Scham und Zweifel (2. bis 3. Lebensjahr), 3. Initiative vs. Schuldgefühl (4. bis 6. Lebensjahr), 4. Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl (6. Lebensjahr bis Pubertät), 5. Identität vs. Identitätsdiffusion (Pubertät), 6. Intimität und Solidarität vs. Isolation (frühes Erwachsenenalter), 7. Generativität vs. Stagnation und Selbstabsorption (Erwachsenenalter), 8. Ich-Integrität vs. Verzweiflung (reifes Erwachsenenalter).
Literatur
Adorno Theodor W. (1966): Erziehung nach Auschwitz. In: ders.: Erziehung zur Mündigkeit, Vorträge und Gespräche mit Hellmuth Becker 1959 – 1969. Herausgegeben von Gerd Kadelbach. Frankfurt am Main, 92–109
Cullberg J (1978): Krisen und Krisentherapie. Psychiatrische Praxis, 5, 25-34
Erikson, Erik H. (1973): Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Suhrkamp Verlag.
Jantz, Olaf (2003): Männliche Suchbewegungen – Antisexistisch und parteilich? Jungenarbeit zwischen Begegnung und Veränderung. In: Jantz, Olaf; Grote, Christoph (Hrsg.): Perspektiven der Jungenarbeit. Konzepte und Impulse aus der Praxis. Leske/Budrich
Steg, Joris (2020): Was heißt eigentlich Krise? In: Soziologie · Jg. 49 · Heft 4: 423-435
© Bildnachweis: KI-generiertes Bild mit Midjourney
Der Beitrag erschien ursprünglich in der Zeitschrift Junge*Junge - das Magazin der LAG Jungenarbeit NRW (Dez. 2024). Wir danken dem Autor und der LAG Jungenarbeit NRW für die Erlaubnis, den Beitrag hier wiederzuveröffentlichen.