Bauchfreie Mode oder Kopftücher stoßen bei manchen Lehrkräften auf Missbilligung. Maßnahmen im Schulbereich stellen für Mädchen* mit entsprechenden Kleidungsstilen einen demütigenden Eingriff in ihre Selbstbestimmung dar. Katharina Debus zeigt, welche diskriminierenden Wirkungen Pädagog*innen mit der Thematisierung von Kleidung auslösen können und entwickelt alternative Vorschläge pädagogischer Umgangsweisen, die ohne Eingriffe in die körperliche Autonomie von Mädchen* auskommen.
In den letzten Jahrzehnten gab es immer wieder Wellen der Empörung darüber, dass Mädchen* in bauchfreien Oberteilen in die Schule kommen oder Kopftücher tragen. Diese Skandalisierungen führen zum Teil zu schulischen Demütigungsmaßnahmen für bauchfrei in der Schule erscheinende Mädchen* (z.B. rosa T-Shirts in Übergröße drüberziehen oder nach Hause geschickt werden), während oft die gleichen Pädagog*innen Kopftücher als patriarchalen Zwang zur Verhüllung kritisieren.
In diesem Themenkomplex vermischen sich Sorgen gegenüber sexistischen Kleidungsnormen mit unterkomplexen Interpretationen der Beweggründe für verschiedene Kleidungsstile, Bevormundung von Mädchen*, Rassismus und weiteren diskriminierenden Logiken.
Ich diskutiere in diesem Beitrag die schulische Missbilligung gegenüber Kopftuch und bauchfreier Kleidung aus einer sexismus- und diskriminierungskritischen Perspektive, vervielfältige die Perspektiven auf Mädchen* mit entsprechenden Kleidungsstilen und entwickele alternative Vorschläge pädagogischer Umgangsweisen, die ohne Eingriffe in die körperliche Autonomie von Mädchen* auskommen.
Meine eigene Auseinandersetzung ist biografisch von einer Freude an bauchfreier Kleidung geprägt, die nie den skandalisierenden Zuschreibungen entsprach sowie von einer familiären sexismuskritischen Perspektive auf Selbstbestimmung und Körperlichkeit. Ich komme aus einer mehrheitsdeutschen, atheistischen Familie. Die Mädchen* und Frauen* mit muslimischen Bezügen, mit denen ich in der Schule und familiär zu tun hatte, trugen keine Kopftücher. Meine erste Begegnung fand im Schulbus statt, als ich mitbekam, wie ein Mädchen* wegen ihres Kopftuchs gemobbt wurde. Mich hat ihre Aussage schockiert, dass vor mir noch nie jemand interveniert hat. Dies hat meinen Blick dafür geöffnet, wie sich Diskurse über die Problematik von Kopftüchern gegen die Mädchen* wenden können, die doch angeblich vor Sexismus geschützt werden sollen. Ich habe beide Themen im Rahmen meiner späteren Mädchen* und Jugendbildungsarbeit sowie der Fachkräftebildung weiterverfolgt, mit meinen Adressat*innen diskutiert und zunehmend miteinander verknüpft.
Da ich über keine Erfahrungsexpertise in Bezug auf Diskriminierung rund um Kopftuch-Tragen verfüge, lege ich den Leser*innen nahe, ergänzend Texte von Erfahrungsexpertinnen* zu lesen. Ich verbinde trotz dieser eingeschränkten Perspektive die beiden Themen mit einem Fokus auf Sexismus, weil sie in meiner Wahrnehmung in dieser Hinsicht der gleichen Logik folgen: der schulischen Regulierung als weiblich geltender Körper. Aus ihrer Verknüpfung lässt sich meines Erachtens viel über Sexismus und Intersektionalität lernen, wobei andere Schwerpunktsetzungen, u.a. Rassismus, ergänzend vertieft werden sollten.
Exkurs: Mädchen*
Ich schreibe in diesem Text „Mädchen“ und andere Geschlechter meist mit einem Stern am Ende. Besonders relevant für diesen Beitrag sind die Erfahrungen von Menschen, die von anderen als Mädchen behandelt werden. Allerdings sind diese nicht immer real Mädchen, sondern können auch von sich wissen, dass sie Jungen, nicht-binär oder Inter* sind. Umgekehrt ist davon auszugehen, dass die besprochenen Kleidungsnormen und Diskurse auch auf Menschen wirken, die von sich wissen, dass sie Mädchen sind, obwohl die Umwelt sie als Jungen behandelt. Es ist eine offene Frage, ob Menschen, bei denen die Selbst- und Fremdwahrnehmung in Bezug auf (Nicht-)Mädchen-Sein nicht übereinstimmen, die entsprechenden Erfahrungen und Diskurse ähnlich oder anders verarbeiten als Menschen, bei denen diese übereinstimmen. Der Stern am Ende einer Geschlechtsbezeichnung markiert in diesem Artikel daher die Unschärfe der Reichweite meiner Aussagen. Ein Stern in der Mitte zwischen zwei Geschlechterformen (z.B. Schüler*innen) dient dazu, alle Geschlechter in einem Wort abzubilden, also Menschen, die sich als männlich, weiblich, nicht-binär und/oder inter* identifizieren.
Zwischen Absicht und Wirkung
Ich ordne im Folgenden Verbote und Missbilligungen von Kopftuch und Bauchfrei in gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse ein. Dabei unterscheide ich – inspiriert von
– zwischen Intention/Absicht und Effekt/Wirkung.Ich gehe bei vielen Pädagog*innen, die ein Unbehagen in Bezug auf Kopftuch und bauchfreie Kleidungsstücke haben und/oder auf weitere der beschriebenen Argumentationen zurückgreifen, von wohlwollenden Intentionen aus, z.B. davon, Mädchen* vor Diskriminierung oder Übergriffen zu schützen. Diese Intentionen treffen auf gesellschaftliche Deutungsangebote, die oft diskriminierenden Logiken folgen. Ohne intensivere kritische Beschäftigung ist dieser diskriminierende Gehalt aber oft nicht erkennbar, wenn wir selbst mit den gleichen Denkweisen aufgewachsen sind. So kann es schnell geschehen, trotz bester Absichten diskriminierende Wirkungen zu erzeugen. Das macht uns nicht zu bösen Menschen, wir sollten aber unsere guten Absichten ernstnehmen und kritisch hinterfragen, ob unsere Handlungen diesen Absichten gerecht werden oder ob wir im Sinne einer inklusiven und diskriminierungskritischen Pädagogik nachsteuern können.
„Wir müssen die Mädchen vor sexistischen Kleidungsnormen schützen!“
Patriarchat, Sexismus und weibliche* Körper
Es gibt gute Gründe für Kritik an verschiedenen Kleidungsnormen: Patriarchat ging historisch und geht noch heute in allen mir bekannten geografischen Räumen mit der Kontrolle als weiblich gelesener Körper einher. Diese ist – insbesondere gegenüber jugendlichen Mädchen* und jungen Frauen* – oft mit Sexualisierung verbunden, aus der sehr unterschiedliche Kleidungsnormen oder -vorschriften abgeleitet werden:
- Der Zwang oder die Norm, bestimmte Körperteile zu bedecken, die bei Frauen*/Mädchen* als „zu sexuell“ für die Öffentlichkeit gelten, während sie bei Männern*/Jungen* als unbedenklich empfunden werden, z.B. Haare, Gesicht, Beine, Brust (Oben-Ohne-Verbot in Schwimmbädern, BH-Pflicht an Schulen z.B. in den USA, Vorschriften zu Dekolletés) oder Bauch. Dies geht einher mit Anstandsnormen, die a) bestimmte Körperteile, Stylings und Verhaltensweisen als sexuell deuten und dabei die Fremd- vor der Selbstwahrnehmung privilegieren, und b) Frauen*/Mädchen* abwerten, die entsprechend dieser Logik „zu“ sexy, sexuell selbstbewusst oder „zu wenig“ schambehaftet auftreten (Schlampenbilder). Nicht zuletzt verlangt es c) Frauen*/Mädchen* ab, ihre Sexualität als zu verknappende Ware zur Steigerung des eigenen Werts auf dem Partnerschafts- bzw. Heiratsmarkt einzusetzen, anstatt selbstbewusst für den eigenen Genuss.
- Der Zwang oder die Norm, sich als attraktiv und/oder sexy darzustellen, z.B. durch Styling, Kleidungswahl und Entblößungen, die als weiblich gelesene Körper insbesondere für männliche Blicke attraktiv machen sollen. Dies zeigt sich z.B. in kulturellen Normen, medialen Botschaften und Kleidungsvorschriften in bestimmten Sportarten, Berufen etc. Dabei wird der Wert von Frauen*/Mädchen* anhand ihrer heterosexuellen Attraktivität bemessen, was im Zusammenhang mit ihrer historischen Abhängigkeit von Männern* zu sehen ist: Frauen* und Mädchen* mussten (mit Ausnahme weniger Nischen) in vielen Teilen der Welt inklusive Deutschlands über Jahrhunderte einen Mann gewinnen, um ihre ökonomische und rechtliche Existenz zu sichern.
Es ist also nicht aus der Luft gegriffen, sowohl Normen/Vorschriften von Sexyness als auch Bedeckungszwänge/-normen als patriarchal zu beschreiben. Beides kann und sollte aus feministischer Perspektive kritisch befragt werden. Allerdings: Daraus Vorschriften und Missbilligung gegen individuelle Entscheidungen abzuleiten, also als Autorität selbst ebenfalls die Körper und Bekleidung von Mädchen* und Frauen* zu regulieren und sich die Deutungshoheit über ihre Beweggründe anzueignen, folgt ebenso patriarchalen Logiken.
Mädchen* zuhören
Empowerment gegen Sexismus und patriarchale Einschränkungen erfordert u.a. die Stärkung der Selbstbestimmung, Urteils- und Kritikfähigkeit von Mädchen* und Frauen*. Autoritäre Eingriffe in ihre körperliche Selbstbestimmung, auch in Bezug auf Kleidung, bewirken das Gegenteil.
Der erste Schritt zur Stärkung der Selbstbestimmungsfähigkeit von Mädchen* und Frauen* ist, sie ernstzunehmen, auch wenn dies erfordert, sich auf Komplexität und Ambivalenzen einzulassen. Im Folgenden teile ich Aussagen aus über 20 Jahren Gesprächen mit Mädchen*/Frauen* und Lektüren zu Beweggründen für verschiedene Kleidungsstile (die Thesen zur Positionierung in weiblichen Hierarchien sind Interpretationen meinerseits).
Gründe, bauchfrei oder kurze Röcke/Hosen zu tragen:
- Mediale oder lebensweltliche Vorbilder starker, selbstbewusster Frauen, die sich entsprechend kleiden – von manchen werden sie als Vorbilder bzgl. nicht-sexueller Themen empfunden, von anderen wegen ihres selbstbestimmten Umgangs mit Sexualität
- Freude am eigenen Körper und/oder sich schön fühlen
- ästhetische Vorlieben, modisch/modern sein
- Freude daran, sich sexy zu fühlen
- Freude an Wind und Sonne auf der Haut bzw. Wohlbefinden, wenn es heiß/warm ist, weniger Gewicht der Kleidung/Leichtigkeit, weniger Stoff auf der Haut
- Bewegungsfreiheit
- Den Freund*innen gefallen, Mode/Styling als Vergemeinschaftungserfahrung unter Mädchen*/Frauen*, (jugend-/sub-/…)kulturelle Zugehörigkeit und/oder Anpassungsdruck in der Peergroup
- In Hierarchisierungen unter Mädchen*/Frauen* bzgl. Sexyness/körperlicher Attraktivität oben stehen können und das genießen
- Einer bestimmten Person gefallen, für eine bestimmte Person sexy sein
- Komplimente, Bewunderung oder Begehren genießen
- Sexuelles Interesse signalisieren
- Sich nicht durch Blicke von Jungen*/Männern* einschränken lassen wollen, sich nicht den Raum nehmen lassen wollen, feministische positive Umdeutung von Schlampenbildern
- Rebellion gegen Negativbewertungen durch Autoritäten
Gründe, den Körper stärker zu bedecken (diese Gründe habe ich sowohl von Menschen gehört/gelesen, die insgesamt weniger körperbetonte Kleidung bevorzugen, als auch von Menschen, die ein Kopftuch tragen):
- Mediale oder lebensweltliche Vorbilder, die einen bedeckenderen Kleidungsstil z.B. mit Selbstbewusstsein und/oder Ernstgenommen-Werden verbinden oder aus anderen Gründen Vorbild sind
- Ästhetische Vorlieben, modisch/modern sein
- Ein kuscheligeres/geschützteres Körpergefühl, das Gewicht von Kleidung als Körpergefühl mögen – generell oder insbesondere wenn es kalt ist
- Bewegungsfreiheit, weil nichts peinlich verrutschen kann
- Sich vor Blicken schützen, Teile des Körpers der Begutachtung entziehen, weniger als Körper wahrgenommen und objektifiziert werden wollen, sich vor Abwertungen als Schlampe etc. und vor Übergriffen schützen
- Scham über das Aussehen des eigenen Körpers
- Große Teile des Körpers werden als zu privat für die Öffentlichkeit wahrgenommen, Scham bei Sichtbarkeit, manchmal verbunden mit Anstandsvorstellungen
- Verbote oder Missbilligung gegenüber weniger bedeckenden Kleidungsstilen durch die Familie oder andere Instanzen, ggf. auch Einschränkung des (finanziellen) Zugangs zu entsprechender Kleidung
- In Hierarchisierungen unter Mädchen*/Frauen* bzgl. beispielsweise Anstand oben stehen können und wollen und andere Mädchen*/Frauen* als Schlampen etc. abwerten
- Den Freund*innen gefallen, (jugend-/sub-/…)kulturelle Zugehörigkeit, Anpassungsdruck in der Peergroup oder der (z.B. auch familiären oder schulischen) Lebenswelt
- Einer bestimmten Person gefallen, ggf. Teile des Körpers bzw. bestimmte Bekleidungsstile für eine bestimmte Person reservieren
- Einen bestimmten (z.B. seriösen, vernünftigen, anständigen etc.) Eindruck erwecken und Anerkennung dafür genießen
- Sich nicht durch Sexyness-Normen einschränken lassen, Kritik an diesen Normen, ggf. Rebellion gegen diese Normen
Gründe, die ich zusätzlich zum oben genannten v.a. für Kleidungsstile gehört habe, die im deutschen Kontext als bürgerlich gelten:
- Mediale oder lebensweltliche Vorbilder, die einen bedeckenderen Kleidungsstil u.a. mit Seriosität oder Erfolg verbinden
- Sich vor klassistischen Abwertungen (siehe unten) schützen
- In Hierarchisierungen unter Mädchen*/Frauen* bzgl. beispielsweise Seriosität oder einer bürgerlichen Selbstdarstellung oben stehen können und wollen und andere Mädchen*/Frauen* als ungebildet, unemanzipiert, unintelligent etc. abwerten
Gründe, die ich von muslimischen Mädchen*/Frauen* zusätzlich zum oben genannten für das Tragen von Kopftüchern gehört habe:
- Religiöse und/oder kulturelle Zugehörigkeit, Ausleben des eigenen Glaubens
- Abgrenzung von rassistischen Normen, die Kopftücher negativer bewerten als andere geschlechtsbezogene Kleidungsnormen, Rebellion gegen Autoritäten oder Mehrheitsgesellschaft, die Kopftücher und/oder den Islam und/oder muslimische Menschen abwerten
- Familiäre Zugehörigkeit
Es wird klar: Keine der skandalisierenden Zuschreibungen kann als Wahrheit vorausgesetzt werden – weder die These, es ginge v.a. um Selbstobjektifizierung bei bauchfreier Kleidung, noch die These, Kopftücher seien immer familiär erzwungen oder ein Zeichen besonderer Unterdrückung. Vielmehr ergibt sich das Bild eines komplexen und widersprüchlichen Spannungsfeldes, wo entgegengesetzte Gründe zu gleichen Kleidungsstilen führen können oder gleiche Gründe zu unterschiedlichen Stilen. Außerdem fällt auf, dass es deutliche Überschneidungen zwischen dem Kopftuch-Tragen und anderen bedeckenderen Kleidungsstilen gibt. Pädagogisch rate ich daher zu einer bescheidenen Haltung in der Interpretation von Kleidungsstilen – es ist ein Zeichen pädagogischer Kompetenz, zu wissen, dass wir vieles nicht wissen.
„Das lenkt die Jungs ab…“
Zum Teil wird das bauchfreie Erscheinen von Mädchen* in der Schule mit der Begründung missbilligt, „die Jungen“ (gemeint ist immer: ein Teil der Jungen*) könnten sich dann nicht benehmen oder zumindest nicht konzentrieren. Teilweise ist das Anliegen, Mädchen* vor Übergriffen zu schützen, teilweise geht es um einen ungestörten Unterrichtsablauf. Es ist eine weitere Figur patriarchaler Zuschreibungen, Mädchen* und Frauen* für das Fehlverhalten von Jungen* und Männern* verantwortlich zu machen und diese aus der Verantwortung für Selbstdisziplin zu entlassen.
Schlampenbilder und Zuweisung der Verantwortung für männliche* Grenzüberschreitungen
Bereits in der Kindheit hören viele Mädchen* den Spruch „Jungen/Männer sind halt so“, z.B. wenn sie von Jungen* geärgert oder an den Haaren gezogen werden, wenn Jungen* sie ohne ihre Zustimmung anfassen, ihnen die Röcke runterziehen, sexualisierende Kommentare machen etc. Dieser Spruch ist auch für Jungen* und Männer* problematisch. Er enthält die implizite Botschaft, dass sie, wenn sie sich respektvoll verhalten, keine „richtigen“ Jungen* und Männer* sind. Vor allem aber enthält er die Botschaft, dass Mädchen* und Frauen* nicht einfordern können, dass ihre Grenzen geachtet und sie respektvoll behandelt werden. Diese Logik spitzt sich in Schlampenbildern und Vergewaltigungsmythen zu, die Mädchen*/Frauen* die Schuld daran zuweisen, wenn Jungen*/Männer* ihre Grenzen überschreiten, verbunden mit dem Bild von der Frau* als „Verführerin“, das tief in den monotheistischen Religionen verankert ist. Es zeigt sich u.a. in Kleidungs- und Verhaltensregulierungen von Mädchen* „zu ihrem eigenen Schutz“ bei gleichzeitiger Normalisierung übergriffigen Verhaltens von Jungen*/Männern*.
Mädchen* und Jungen* wird u.a. die Botschaft vermittelt, dass Jungen* nicht anders können und bei bestimmten „sexuellen Reizen“ die Kontrolle verlieren, dass sie durch Grenzüberschreitungen Interesse zeigen, dass selbst erwachsene Autoritäten eher Mädchen* regulieren, als Jungen* Grenzen zu setzen, und dass Mädchen*/Frauen* Jungen*/Männer* pädagogisieren und Übersetzungsleistungen für ihr Verhalten aufbringen müssen, anstatt sie für ihr Fehlverhalten zur Verantwortung zu ziehen. Es kann dann nicht verwundern,
- wenn es diesen Mädchen* jetzt oder später als Frauen* schwerfällt, Grenzen zu ziehen
- wenn sie Sexismus im Job hinnehmen, ohne z.B. gegen sexuelle Belästigung zu klagen
- wenn sie freiwillig ihren Bewegungsradius einschränken, um sich zu schützen
- wenn sie denken, wer a sagt, muss auch b sagen, weil ein gewisser „sexueller Reiz“ quasi als Versprechen auf Sex erscheint, selbst wenn eine gar nicht (mehr) will
- wenn sie übergriffiges und/oder gewalttätiges Verhalten als Zeichen von Zuwendung deuten und/oder sich nicht aus gewalttätigen Beziehungen lösen können
- wenn sie nicht solidarisch mit anderen Frauen*/Mädchen* sind, die Übergriffe erleiden.
Unterrichtsstörungen und Zuweisung der Verantwortung für männliches* Benehmen
In der Schule finden wir teils eine besondere Spielart der Verantwortungszuweisung an Mädchen* zur Prävention oder Kompensation von Fehlverhalten durch Jungen* vor. Teilweise wird argumentiert, die Mädchen* sollten sich „anständig“ kleiden, damit die Jungen* sich konzentrieren können und den Unterricht weniger stören. Häufig können wir auch jenseits von Kleidungsnormen eine Instrumentalisierung von Mädchen* zur Kompensation von Unterrichtsstörungen, Undiszipliniertheit oder mangelnder Motivation einiger Jungen* beobachten, z.B. wenn ein Mädchen* zwischen zwei störende Jungen* gesetzt wird, obwohl sie lieber woanders sitzen möchte, oder indem Arbeitsgruppen grundsätzlich gemischtgeschlechtlich besetzt werden, weil die Erfahrung zeigt, dass dann mit höherer Wahrscheinlichkeit die Ergebnisse stimmen (nicht selten, weil Mädchen* im Zweifelsfall den Löwinnenanteil der Arbeit oder zumindest Verantwortung übernehmen). Mädchen* wird dadurch vermittelt, dass sie ihre eigenen Interessen, ihre eigene Demotivation oder Impulsivität etc. zurückstellen müssen, um als „reif“ gelobt zu werden und der Lehrkraft den Job abzunehmen, für einen funktionierenden Unterrichtsablauf zu sorgen – die feministische Schulforschung spricht in diesem Kontext von Mädchen* als sozialem Schmierstoff. Auch hier werden Botschaften vermittelt, die sowohl während als auch nach der Schulzeit schädigende Effekte haben (können).
Das darunterliegende Problem ist ein Schulsystem, dass für Schüler*innen wie auch Lehrkräfte problematische Lehr- und Lernbedingungen schafft. Anstatt die Verantwortung an das nächstschwächere Glied in der Kette weiterzugeben, sollten andere Umgangsweisen und Lösungen entwickelt werden. Neben individuellen Gestaltungsspielräumen von Lehrkräften, Kollegium sowie Kooperationen mit Schulsozialarbeit, Kinder- und Jugendhilfe und außerschulischen Trägern wird meines Erachtens das Potenzial einer gemeinsamen politischen Organisierung aller an Schule Beteiligten für bessere Lehr-/Lernbedingungen bislang bei Weitem nicht ausgeschöpft.
Diskriminierende Wirkungen von Kopftuch- und Bauchfrei-Missbilligungen
Unter Rückbezug auf meine obige Einführung zur Unterscheidung zwischen Intention und Effekt mache ich im Folgenden Reflexionsangebote zum Abgleich der eigenen positiven Absichten mit möglicherweise nicht intendierten diskriminierenden Wirkungen, die in der Regel aus der gesellschaftlichen Normalisierung von Ungleichheit und Diskriminierung erfolgen.
Sexismus/Patriarchat
Wie bereits erörtert, folgen Einschränkungen von Mädchen* bzgl. des Umgangs mit ihrem Körper sexistischen Logiken. Am offensichtlichsten ist dies, wenn die Einschränkungen mit dem Fehlverhalten von Jungen* begründet werden. Aber auch entmündigende Schutzimpulse folgen patriarchalen Logiken. Nicht zuletzt werden Mädchen* und Frauen* durch solche Regeln in Zwickmühlen zwischen Bekleidungsnormen in Peergroup, Familie, Medien und Schule gebracht, denen Jungen* und Männer* nicht ausgesetzt sind. Im Fall von Bauchfreiverboten bzw. -missbilligung werden dabei ihre Körper sexualisiert, also die Aufmerksamkeit der Mädchen* darauf gelenkt, dass ihre Körper von anderen als sexuelle Objekte wahrgenommen werden und dass deren Wahrnehmung handlungsleitender für Autoritäten ist als die Selbstwahrnehmung der Mädchen*. Das empfinden viele in doppelter Weise als erniedrigend und es kann nachhaltig ihr Verhältnis zu ihrem eigenen Körper beeinträchtigen und Ekel hervorrufen. Im Fall von Kopftuchverboten bzw. -missbilligungen werden Mädchen* dazu gezwungen bzw. unter Druck gesetzt, sich den Blicken anderer Menschen in stärkerem Maße auszusetzen, als sie das möchten und/oder sich von Zugehörigkeiten bzw. religiösen Prinzipien abzugrenzen, die ihnen wichtig sind. In beiden Fällen machen Mädchen* die Erfahrung, dass ihre Körper und deren Sichtbarkeit zum Gegenstand der Verhandlungen anderer Menschen werden, dass sie selbst nicht gefragt bzw. gehört werden und dass ihnen die körperliche Autonomie der Entscheidung über die eigene Kleidung und körperliche Sichtbarkeit abgesprochen wird.
Rassismus
In der deutschen Mehrheitsgesellschaft wird Mädchen* ab einem bestimmten Alter die Entblößung bestimmter Körperteile verboten oder zumindest davon abgeraten, weil diese sexuell konnotiert werden. Diese Logiken unterscheiden sich meines Erachtens nicht wesentlich von religiösen Normen, das Haar zu bedecken. Was sich unterscheidet, ist zum einen das Maß der vorgeschriebenen Bedeckung und die damit möglicherweise einhergehenden Einschränkungen, und zum anderen der kulturelle Kontext. Es ist meines Erachtens kein Zufall, dass Bedeckungsnormen, die in Teilen der (oft bereits vor mehreren Generationen) zugewanderten, von Rassismus betroffenen Bevölkerung verbreitet sind, skandalisiert werden, während mehrheitsdeutsche Verhüllungsvorschriften und -normen normalisiert werden.
Ich sehe hier ein Spannungsfeld: Staatliche, religiöse oder familiäre Kopftuchzwänge werden von vielen betroffenen Frauen*/Mädchen* aus meiner Sicht zu Recht als sexistisch angeprangert und Solidarität sowie Unterstützung für die Betroffenen ist wichtig. Kopftuchverbote an deutschen Schulen können evtl. manchen Mädchen* den Rücken gegen familiären oder religiösen Zwang stärken, aber auch zu Zerrissenheit zwischen schulischen und familiären Vorschriften und Schuldistanziertheit bzw. dem Abbruch der schulischen Bildung führen. Außerdem treffen sie die Mädchen* viel schärfer als die, die sie möglicherweise unter Druck setzen. Wie oben dargelegt, tragen aber auch viele Mädchen*/Frauen* aus anderen Gründen ein Kopftuch. Kopftuchverbote oder -missbilligung entmündigen sie und erschweren ihren Zugang zum öffentlichen Raum und zur Schule.
Zudem vermitteln die Skandalisierung bzw. das Verbot von Kopftüchern Mädchen* und Frauen*, die diese freiwillig oder unfreiwillig tragen, die Botschaft, dass sie nicht ernstgenommen werden, dass ihre eigenen Deutungen nicht zählen und sie als Kollektiv bevormundet werden, anstatt als Individuum bei Bedarf solidarische Unterstützung für ihre Entscheidungen für oder gegen ein Kopftuch zu erhalten. Stattdessen wird ihnen das Leben durch abwertende Blicke, Mobbing, Beschämung oder die paternalistische Konstruktion als unmündiges, unemanzipiertes Opfer erschwert.
Adultismus, Klassismus und Lookismus
Die Tendenz, Kindern und Jugendlichen Selbstbestimmungsfähigkeit abzusprechen, steht auch in Zusammenhang mit Adultismus, also der Entrechtung von Kindern und Jugendlichen. Im Kontext dieses Artikels empfehle ich das Gedankenspiel, welche Reaktionen es nach sich zöge, wenn die Leitung einer Pädagog*innenfortbildung ohne Sachgründe (z.B. Arbeitsschutz, Sportkleidung) den teilnehmenden Pädagog*innen eine Kleiderordnung vorlegen bzw. sie für ihren Kleidungsstil beschämen würde. Es ist in Bezug auf Kleidungsvorschriften zu berücksichtigen, dass die Schule für Schüler*innen eine sozial komplexe Zwangsgemeinschaft darstellt, die von Identitätsverhandlungen, Gruppendynamik und Bewertung geprägt ist. Sie lässt ihnen, anders als Erwachsenen, die immerhin in der Regel Wohnort und Beruf etwas freier wählen können, keine Wahl, wessen Blicken sie sich in welchem Maße aussetzen. Gerade für Mädchen*, für die sich die Problematik einer sexistischen Gesellschaft in der Zwangsgemeinschaft Schule zuspitzt, sind daher Gestaltungsspielräume besonders wichtig, die ihnen durch solche Bevormundungen abgesprochen werden.
Meinem Eindruck nach sind darüber hinaus Eingriffe zumindest in Bezug auf bauchfreie Kleidung besonders verbreitet an Schulen, an denen Kinder und Jugendliche lernen, die gesellschaftlich erschwerte Ausgangsvoraussetzungen haben und sollten daher auch im Zusammenhang mit Klassismus betrachtet werden. Gerade an diesen Schulen fallen in meiner Beobachtung besonders häufig entmündigende und beschämende Argumente, u.a. mit der Begründung, die Kinder müssten lernen, was angemessene Bekleidung ist. Die Eltern an diesen Schulen haben oft weniger Ressourcen zur Durchsetzung einer respektvollen Haltung gegenüber ihren Kindern.
Auffällig sexy konnotierte Kleidung wird in bürgerlichen Kreisen häufig als „vulgär“ abgewertet. Bildungsbürgerliche Weiblichkeitsnormen fordern „subtilere“ Mittel der Selbstdarstellung ein. Diese sind nicht minder sexistisch, sie erfordern aber oft mehr kulturelles und teils mehr ökonomisches Kapital. Sie sind gut für die Distinktion (also sich positiv als „classy“ abheben) von bürgerlichen Mädchen* und Frauen* gegenüber prekarisierten bzw. proletarischen Mädchen* und Frauen* und zur Beschämung letzterer geeignet. Dazu kommt, dass aufgrund von Rassismus im deutschen Kontext auch muslimische Kopftücher als nicht vereinbar mit bürgerlicher Weiblichkeit gelten – sie sind in akademischen Berufen wesentlich weniger gerne gesehen als beim Putzpersonal. Viele Lehrkräfte haben ohne böse Absicht diese Normen verinnerlicht und geben damit klassistische Abwertungen an ihre Schüler*innen weiter.

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Schließlich verschränken sich Bauchfrei-Missbilligungen zum Teil mit Lookismus, also der Diskriminierung entlang von Aussehensnormen. So werden Mädchen*, die den jeweils gängigen Schlankheitsnormen nicht entsprechen, besonders häufig für bauchfreie Kleidungsstücke beschämt, ihnen wird dadurch noch mehr als allen Mädchen* beigebracht, dass sie ihre Körper verstecken müssen, weil sie sonst Abwertung oder Ekel auslösen.
Pädagogischer Transfer: Kritik, Empowerment und Befähigung ohne Bevormundung
Ich habe gezeigt, welche diskriminierenden Wirkungen Pädagog*innen mit der Thematisierung von Kleidung (auch unintendiert) auslösen können. Das bedeutet aber nicht, dass Kleidungsnormen nicht zum legitimen Ansatzpunkt pädagogischer Interventionen werden können. Solche Interventionen können verschiedene Anliegen verfolgen:
Förderung von Kritikfähigkeit
Die Förderung von Kritikfähigkeit ist ein wichtiger Ansatz in der Arbeit gegen Diskriminierung und für Selbstbestimmung. Diese kann in Bezug auf Kleidungsnormen u.a. durch historisch und geografisch vergleichende Perspektiven gestärkt werden. Es kann also u.a. ein Blick auf verschiedene geschlechtsbezogene Kleidungsnormen in unterschiedlichen historischen Epochen und geografischen Räumen und auch innerhalb eines geografischen Raums auf intersektionale Unterschiede (z.B. zwischen Schichten/Klassen/Statusgruppen, verschiedenen Altersgruppen, verschiedenen politischen Milieus, verschiedenen Communities, ethnischen oder religiösen Gruppen etc.) geworfen werden – ohne zu homogenisieren, vielmehr sollte auch die Kontroversität innerhalb jeder Gruppe sichtbar werden. Dabei empfiehlt es sich, diese verschiedenen Bekleidungsnormen/-vorschriften auch im Kontext u.a. rechtlicher Regulierungen von Geschlechterverhältnissen (Frauenrechte zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten) und politischer Kämpfe zu betrachten (z.B. kann anhand der Slut-Walk-Bewegung gut mit Fotos von den Demos gearbeitet werden). Sie sollten zudem auch im Kontext intersektionaler Ungleichheit besprochen werden (z.B. kontroverse Diskussionen zu Kopftüchern, Selbstbestimmung, Feminismus und/oder zur Regulierung rassistisch sowie weiblich markierter Körper). Aus einer solchen Analyse sollte ein komplexes Bild entstehen, in dem sichtbar wird, dass die meisten Kleidungsstile Potenzial für Unterdrückung und für Widerständigkeit bieten.
Dabei sollte zwischen der Analyse gesellschaftlicher Strukturen und Normen einerseits und der Bewertung persönlichen Handelns andererseits unterschieden werden. Die Kritik sollte sich an die gesellschaftlichen Einschränkungen von Gestaltungsfreiheit und abwertende bzw. diskriminierende Interaktionen zwischen Individuen richten, nicht aber an die persönlichen Kleidungsentscheidungen der Einzelnen.
Förderung von Selbstbestimmung
Neben Kritik ist es sinnvoll, Gelegenheit zu Selbstbeschäftigung und Austausch in Bezug auf diverse persönliche Bedeutungen, Vor- und Nachteile verschiedener Kleidungsstile zu geben. Pädagog*innen sollten den Kindern und Jugendlichen einen wertschätzenden und grenzachtenden Umgang mit individuellen Kleidungsstilen vorleben und sie in ihrer Selbstbestimmungsfähigkeit stärken, anstatt Normierungs- und Abwertungslogiken zu normalisieren.
Eine Verkleidungseinheit, in der verschiedenes erprobt werden kann, kann interessant sein und Spaß machen – dabei ist auf Freiwilligkeit zu achten. Es kann u.a. in Verbindung mit unterschiedlichen Kleidungsstilen nach individuell verschiedenen (Körper-)Empfindungen und Stimmungen gefragt werden (z.B. Gefühl auf der Haut, Temperaturempfinden, Bewegungsfreiheit, Förderung/Einschränkung bestimmter Körperhaltungen, Geschütztheit, Selbstbewusstsein/Souveränität, Erfolg/Macht, Attraktivität, Nahbarkeit/Distanziertheit, Alterskonnotationen, Verspieltheit, Aufgeregtheit, Scham, Spaß, Lust etc.). Dies kann mit der Erprobung verschiedener Körperhaltungen verbunden werden (z.B. unterschiedlich geschlechtlich konnotierte Körperhaltungen wie schmal oder breit stehen, Gewicht zwischen den Füßen oder Standbein/Spielbein, breit oder schmal sitzen, lächeln oder ernst schauen, Becken nach hinten oder vorne kippen etc.). Die Grundstimmung sollte dabei neugierig auf die unterschiedlichen individuellen Wahrnehmungen sein, nicht wertend.
Es kann auch ein Austausch über verschiedene Erfahrungen mit unterschiedlichen Kleidungsstilen initiiert werden, z.B. dazu, wer wofür schon Komplimente oder Negativbemerkungen erhalten hat; ob in der Familie bestimmte Kleidungsstücke nahegelegt, gekauft, belächelt, missbilligt oder verboten werden; ob es Vorbilder für bestimmte Kleidungsstile gibt; ob es Gewalt- oder Abwertungserfahrungen gab, für die der Kleidungsstil relevant war; ob es ermutigende oder beglückende Erfahrungen gab, die mit bestimmten Kleidungsstücken/-stilen verbunden werden; wer manchmal Sorge hat, sich „das Falsche“ anzuziehen etc. Wenn dabei schmerzhafte Themen angesprochen werden, sollte danach dazu gearbeitet werden, wie mit Abwertungserfahrungen und Einschränkungen der Selbstbestimmung umgegangen werden kann.
Förderung von Grenzachtung und Konfliktfähigkeit
Anstatt Mädchen* beizubringen, dass sie sich einschränken müssen, um Übergriffe durch Jungen* oder Männer* zu verhindern, sollte mit Menschen aller Geschlechter am Thema Grenzen gearbeitet werden. Dazu gehört u.a. die Sensibilisierung für eigene Grenzen, die Wahrnehmung der Grenzen anderer Menschen, ein Unrechtsbewusstsein gegenüber Grenzüberschreitungen und die Fähigkeit, mit Unsicherheit sowie Fehleinschätzungen und daraus folgenden Verletzungen umzugehen. Nicht zuletzt ist die Erarbeitung von Strategien zum Umgang mit Grenzüberschreitungen, Übergriffen und Abwertungen wichtig – sowohl bei selbst erlebten als auch bei beobachteten Grenzüberschreitungen. Dazu gehört auch die Stärkung von Kritik- und Konfliktfähigkeit sowie Optionen solidarischen Handelns.
Es empfehlen sich zum Erlernen entsprechender Methoden Fortbildungen aus den Bereichen Gewaltprävention, Prävention von sexualisierter und Partnerschaftsgewalt, Selbstbehauptung, Zivilcourage, Umgang mit Diskriminierung sowie Kooperationen mit entsprechenden außerschulischen Trägern.
Förderung informierter Abwägungsfähigkeit in Bezug auf Kleidungsstile und Risiken
Da sich Kinder und Jugendliche jetzt und in ihrem späteren Leben im Rahmen einer Gesellschaft bewegen müssen, in der sexistische, professionelle, milieuspezifische und weitere Kleidungsnormen von Bedeutung sind, ist es meines Erachtens für die Stärkung ihrer Selbstbestimmung wichtig, ihre Abwägungsfähigkeit im Umgang mit diesen Rahmenbedingungen zu fördern.
Freizeitkleidung versus professionelle Kleidung
Zur Förderung der Abwägungsfähigkeit in Bezug auf beruflich angemessene Kleidung eignen sich z.B. Interview- bzw. Rechercheaufträge zu Kleidungsnormen und -vorschriften in verschiedenen beruflichen Feldern. Dabei kann u.a. gefragt werden, in welcher Hinsicht unter den jeweiligen Fachkräften Einigkeit oder Meinungsverschiedenheiten zu finden sind.
Darauf aufbauend kann in einer Projektwoche oder regelmäßig (z.B. einen Monat lang jeden Freitag) der Auftrag erteilt werden, mit Kleidung in die Schule zu kommen, die die Jugendlichen als angemessen für ein bestimmtes Berufsfeld oder Bewerbungsgespräch empfinden, ggf. unter Einbeziehung der Faktoren Styling und/oder Körpersprache. Die Ergebnisse werden gemeinsam (neugierig-forschend, nicht beschämend-bewertend) ausgewertet. Dabei kann auch über den Umgang mit Hürden gesprochen werden, z.B. über kostengünstige Zugänge zu geeigneter Kleidung und den Umgang mit Spannungen zwischen beruflichen Normen und persönlichem Ausdruck (z.B. in Bezug auf Kopftuch, Tattoos, Piercings oder die Norm, als Frau* Röcke zu tragen bzw. sich zu schminken). Wenn das Ziel die Förderung der Abwägungsfähigkeit ist, dann werden keine Rezepte vorgeschrieben, sondern Ressourcen erarbeitet, mit deren Hilfe eigene Wege erschlossen werden können.
Umgang mit dem Risiko sexistischer Übergriffe
Bzgl. des Risikos sexistischer Übergriffe kann für Mädchen* ein Austausch zu Umgangsweisen sehr hilfreich sein – auch hier gemeinsam abwägend, nicht wertend. Grundlage sollte sein, dass niemand selbst daran schuld ist, wenn andere sich übergriffig verhalten, dass es aber trotzdem nötig ist, bewusste Umgangsweisen mit einer sexistischen Welt zu entwickeln. Es kann für Mädchen* hilfreich sein, wenn verschiedene ältere Mädchen* bzw. Frauen* ihre eigenen Strategien und Abwägungen teilen, sodass eine Vielfalt verschiedener Möglichkeiten und der damit verbundenen Vor- und Nachteile sichtbar wird (z.B. Vermeidung bestimmter Kleidungsstile, Räume oder Interaktionen; bestimmte Räume nicht alleine nutzen; sich Räume nicht nehmen lassen und sich selbstbewusste und/oder ausweichende Strategien für den Umgang mit übergriffigem Verhalten aneignen; Provokationen; in heiklen Situationen Nähe zu anderen Mädchen*/Frauen* suchen; Hilfe holen; Check-Ins vereinbaren, wenn eine sich in heiklere Situationen begibt; kritische Interventionen in Institutionenkultur oder Sozialraum etc.). Ein solcher Austausch, in dem nicht gewertet, sondern im Bewusstsein einer ungerechten Situation zwischen verschiedenen Möglichkeiten neugierig-forschend abgewogen wird, kann die Solidarität und Handlungsfähigkeit der Mädchen* fördern.
Im Umgang mit Kleidungsnormen, -verboten und -missbilligungen durch Eltern oder andere Autoritäten kann es sinnvoll sein, zu den eigenen Rechten zu arbeiten und verschiedene Umgangsweisen mit Konflikten mit Autoritäten in- und außerhalb der Familie zu erarbeiten und abzuwägen (inkl. des Kennenlernens von Unterstützungsstrukturen und Beratungsstellen bei familiärer Gewalt oder Problemen mit Autoritäten z.B. in Schule, Sport oder Religion). Bei allem, was die Familie betrifft, ist zu beachten, dass die Familie für die meisten Jugendlichen von zentraler Bedeutung ist und es für viele sehr bedrohlich sein kann, das Wohlwollen ihrer Familie oder sogar den Kontakt zu ihr zu riskieren. Daher sollte hier besonders behutsam und grenzachtend vorgegangen werden. Darüber hinaus sollte auch zu möglichen Umgangsweisen mit Peer-Group-Normen und Abwertungen unter Kindern und Jugendlichen gearbeitet werden, auch dies bedarf aufgrund der Anwesenheit der Peergroup besonderer Umsicht und Freiwilligkeit.
Es gibt also viele Möglichkeiten, Kinder und Jugendliche im Umgang mit Sexismus und mit Kleidungsnormen zu stärken, die auf Bevormundung verzichten und ihnen und ihren Motivationen wertschätzend begegnen. Ich habe oft berührende Momente erlebt, wenn wir uns in der Pädagogik für die Anliegen der Adressat*innen interessiert und sie ernstgenommen, klare Grenzen gegen Grenzüberschreitungen und Abwertungen gesetzt und auf dieser Grundlage Reflexions- und Erprobungsangebote gemacht haben, mit denen die Kinder bzw. Jugendlichen ihre Haltung und Praxis weiterentwickeln konnten.