Umgang mit Konflikten um Religion in der Schule
28. Oktober 2021 | Demokratie und Partizipation, Religion und Religiosität

In den Klassenräumen hiesiger Großstädte kann die Vielfalt der Religionen und Religionsausübungen Lehrkräfte verunsichern. Dass Verbote nicht zum Ziel eines respektvollen Klassenklimas führen, erklärt Mara Sommerhoff in diesem Beitrag. Sie stellt einige rechtliche Grundlagen zur Religionsausübung in der Schule vor und entwickelt Anregungen für die pädagogische Praxis.

Ein kalter Montag im November: Eine Gruppe 16-jähriger Jungen verrichtet in der Mittagspause ihr rituelles Gebet vor dem Schulein­gang – im strömenden Regen. Einige Tage zuvor hatte diese Gruppe die Schulleitung darum gebeten, ihr ri­tuelles Gebet in der Schule verrich­ten zu dürfen. Der Wunsch wurde abgelehnt mit dem Hinweis, Religion habe keinen Platz an der Schule. Dar­aufhin verabredeten sich die Schüler*innen, um demonstrativ vor dem Schulein­gang zu beten, was von der Schul­leitung als massive Provokation und Störung empfunden wurde.

In dem Beispiel scheint es vor al­lem um Religion zu gehen, und doch steckt mehr dahinter: Hier prallen ein fundamentales Grundrecht (auf freie Religionsausübung), Wertvor­stellungen von Lehrkräften, Such­bewegungen von Jugendlichen, der Rahmen von Schule, Fragen nach Kommunikation und Schüler*innenpartizi­pation aufeinander.

Täglich wird in der Schule das ge­meinsame Zusammenleben in Ge­sellschaft miteinander ausgehandelt, Menschen mit unterschiedlichsten Haltungen und Weltanschauungen treffen aufeinander. Das „Gespräch der Verschiedenen“ (Martha Nuss­baum) ist zentral, um demokratische Wertvorstellungen sichtbar zu ma­chen, zu fördern und zu entwickeln. Demokratie in Schule zu leben, be­deutet auch, einen produktiven Um­gang mit Vielfalt und mit daraus resultierenden Konflikten zu finden, Toleranz und Respekt gegenüber an­deren Menschen und Meinungen ein­zuüben, demokratische Verfahren einzuhalten und Konflikte gewaltfrei zu lösen. Welche rechtlichen und pä­dagogischen Eckpunkte sind nun im beschriebenen Konflikt zu beachten?

Rechtliche Grundlagen

Grundsätzlich gilt auf der Grundla­ge des Grundgesetzes das Recht auf freie Religionsausübung als auch eine weltanschauliche Neutralität der Schule: Der Staat muss sich in den Worten des Bundesverfassungs­gerichts als „Heimstatt aller Bürger“ verstehen, unabhängig von ihrem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis. Der Staat und die staatlichen Institutionen selbst sind sä­kular und weltanschaulich-neutral. Allerdings bedeuten Säkularität und Neutralität in diesem Sinne nicht, sich von Religion zu distanzieren oder sie aus dem Bereich von Schule zu verweisen, sondern meinen „Heimstatt aller Bürger“ (BVerfG v. 27.01.2015). Dies bedeu­tet konkret, dass Menschen eine et­waige religiöse Überzeugung nicht an der Schultür abgeben müssen. Die Schüler*innen haben grundsätzlich das Recht zu beten, ein allgemeines Betverbot wäre nur bei konkreter Gefährdung des Schulfriedens zulässig (z.B. bei einer demonstrativen Inanspruchnahme schulischer Räu­me oder Missionierung). Gleichwohl gibt es kein Anrecht auf einen Ge­betsraum, der nur oder vor allem ei­ner Religion dient.

Zu beachten ist bei allem Recht auf Religionsausübung in der Schule das Primat des schulischen Bildungs­- und Erziehungsauftrags. Das bedeu­tet: Die grundlegende Organisation der Schule (wie z.B. Pausenzeiten) wird nicht an religiösen oder sons­tigen Grundbedürfnissen ausgerich­tet. Schüler*innen dürfen also nicht zu bestimmten Zeiten den Unter­richt verlassen, um zu beten. Zwei­tens können schulische Inhalte oder Aufgaben nicht aus religiösen Grün­den abgelehnt werden. Laut BVerwG sind Beeinträchtigungen der Glau­bensfreiheit zunächst „typische Be­gleiterscheinungen des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags“ (BVerwG 6 C 25.12). So kann z.B. eine schulische Lektüre nicht einfach mit dem Hinweis auf religiöse (oder sonstige) Sensibilitäten abgelehnt werden. Wenn diese inhaltlich im Fachcurriculum verankert ist, gilt, dass alle Schüler*innen diese lesen.

Pädagogische Praxis

Fragestellungen und Konflikte rund um das Thema Religion sollten im Schulalltag vor dem Hintergrund des Grundrechts auf freie Religions­ausübung einerseits und des Primats des schulischen Bildungs- und Er­ziehungsauftrags andererseits stets individuell betrachtet werden. Bei Konflikten ist auszuloten,  was die Beweggründe und Interessen der Be­teiligten sind und ob ein Kompro­miss möglich erscheint.

Miteinander sprechen: In der päda­gogischen Praxis kann man auf viel­fältige Weise auf den oben geschil­derten Wunsch nach dem Gebet an der Schule reagieren. Die Situation könnte Anlass für disziplinarische Maßnahmen sein –  dabei wäre aber zu fragen, ob dann nicht die Chan­ce verpasst wird, die Schule gemein­sam als Lern- und Lebensort zu ge­stalten. Zentral sind hier aus meiner Sicht der Kontakt und ein offenes Gespräch: So können die Lehrkräf­te etwas über Themen der Schü­ler*innen und die Schüler*innen etwas über den durch Schule gesetzten Rahmen ler­nen. Wichtig ist, dass die Schüler*innen in ihrem Anliegen gehört werden und dass geklärt wird, was vonseiten der Schule möglich ist und was nicht. Klar ist in diesem Fall, dass das Ge­bet nur außerhalb der Unterrichts­zeiten stattfinden kann und wenn es andere nicht stört beziehungswei­se das Gebet nicht demonstrativ abgehalten wird. Die Schule hingegen könnte überlegen, an welchen Orten sie ein Gebet für möglich hält. Ge­meinsam müssten Schule und Schü­ler*innen über Bedingungen einer Erlaub­nis (keine großen Gruppen, keine Missionierung etc.) reden und im Ge­spräch hierüber bleiben.

Haltung entwickeln: Zuweilen wird gefordert, Schule als religionsfrei­en Raum zu gestalten. Ich plädiere hingegen dafür, Schule als einen le­bendigen Diskursraum zu gestalten, in den Menschen ihre unterschied­lichen Haltungen, Werte und Positionen einbringen und in dem offe­ne Gespräche möglich sind – über Gemeinsamkeiten und Unterschiede und über Fragen des gesellschaftli­chen Zusammenlebens. Religion an der Schultür abzugeben, löst kein Problem – Religion wird dadurch nicht verschwinden, sondern ledig­lich nicht offen thematisiert. Wenn Schüler*innen vehement Religi­on in den Vordergrund stellen, über ihre religiöse Auffassung diskutieren möchten und sich in verschiedenen Kontexten auf Religion beziehen, ist zunächst zu fragen, was hinter die­sen Fragen und dem Anbringen des Themas „Religion“ steht. Vielleicht geht es um Aufmerksamkeit? Viel­leicht spürt der Jugendliche genau, dass Religion der „blinde Fleck“ der Lehrkraft ist? Vielleicht geht es mehr um Provokation und identitäre Such­bewegungen als um Propaganda? Das Ignorieren oder Verdrängen von Reli­gion kann also nicht Teil der Lösung von möglichen Konflikten um Religi­on sein. Lehrkräfte und Schulgemein­schaft sollten sowohl eine reflektierte Haltung zum Thema Religion entwi­ckeln und hierzu sprechfähig sein als auch um die Grundrechte wissen.

Regelungen verabreden: Schule braucht aus meiner Sicht also neben der individuellen Betrachtung von Einzelfällen einen lebendigen und of­fenen Diskurs über Werte und Hal­tungen. Auf Basis dieses Diskurses können dann allgemeine Regelungen für die Schulgemeinschaft werteba­siert getroffen werden. So ist es z.B. für den Sportunterricht zentral, dass alle Schüler*innen am Unterricht teil­nehmen können und sportgerechte Kleidung tragen. Hierzu kann auch eine religiöse Kopfbedeckung zählen, solange die Sicherheitsbestimmun­gen beachtet werden (z.B. ein Kopf­tuch nicht mit Nadeln befestigt ist). Die Fachschaft Sport benötigt solche Regelungen, die alle Sportlehrkräfte gleichermaßen unaufgeregt kommu­nizieren und durchsetzen. Eine wei­tere schulische Regelung wäre, die hohen Feiertage verschiedener Religi­onen im Schuljahreskalender sichtbar zu machen und je nach Schüler*innenschaft auf die höchsten Feste bei der Jahres­planung Rücksicht zu nehmen. Solch ein Feiertagskalender könnte auch durch eine Arbeitsgemeinschaft oder eine Lerngruppe betreut werden.

Keine Angst vor Religion: Mit dem Thema Religion ist die Frage verbun­den, wo Sinnfragen eigentlich ihren Platz an der Schule haben. Religion kann eine Ressource für das Indivi­duum, aber auch in Bildungsprozes­sen sein, und gerade Jugendliche setzen sich mit Religion auseinander und experimentieren mit Bindungen, Nähe, Distanz und Zugehörig­keiten. Wo ist es für Schüler*innen möglich, über Themen zu sprechen, die ihnen wichtig sind, ihnen am Herzen liegen? Welche Zeiträume kann die Schule hierfür anbieten? Welche Gesprächspartner stehen be­reit? Es muss nicht ständig und im­mer um Religion gehen. Aber wenn es viele Konflikte um Fragen der Re­ligion und Religionsausübung gibt, braucht es einen schulinternen Dis­kurs, Regelungen sowie eine gemein­same Sprache. Zu den Regelungen gehört auch, sich über Grenzen des Diskurses und rote Linien zu verständigen.

Grenzen erkennen: Zu den Regelun­gen gehört auch, sich über Gren­zen des Diskurses und rote Linien zu verständigen. Werden ausgren­zende, menschenverachtende oder antidemokratische Grundpositionen deutlich, gilt es zu reagieren, päd­agogisch verantwortet mit solchen Fragestellungen umzugehen und ge­gebenenfalls externe Unterstützung einzubeziehen. Wenn Mitschüler*in­nen z.B. aufgrund ihrer Religionszu­gehörigkeit oder anderer Merkmale ihrer Identität ausgeschlossen oder gar gemobbt werden, ist eine klare Intervention erforderlich.

Dieser Beitrag erschien zuerst 2019 in der Fachzeitschrift: Pädagogik (Ausgabe 9/2019, Thema: Regeln –  Grenzen – Konsequenzen) des BELTZ-Verlages. Wir danken dem Verlag und der Autorin, diesen Beitrag hier wiederveröffentlichen zu dürfen.ufuq.de, Februar 2021.

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