In den Klassenräumen hiesiger Großstädte kann die Vielfalt der Religionen und Religionsausübungen Lehrkräfte verunsichern. Dass Verbote nicht zum Ziel eines respektvollen Klassenklimas führen, erklärt Mara Sommerhoff in diesem Beitrag. Sie stellt einige rechtliche Grundlagen zur Religionsausübung in der Schule vor und entwickelt Anregungen für die pädagogische Praxis.
Ein kalter Montag im November: Eine Gruppe 16-jähriger Jungen verrichtet in der Mittagspause ihr rituelles Gebet vor dem Schuleingang – im strömenden Regen. Einige Tage zuvor hatte diese Gruppe die Schulleitung darum gebeten, ihr rituelles Gebet in der Schule verrichten zu dürfen. Der Wunsch wurde abgelehnt mit dem Hinweis, Religion habe keinen Platz an der Schule. Daraufhin verabredeten sich die Schüler*innen, um demonstrativ vor dem Schuleingang zu beten, was von der Schulleitung als massive Provokation und Störung empfunden wurde.
In dem Beispiel scheint es vor allem um Religion zu gehen, und doch steckt mehr dahinter: Hier prallen ein fundamentales Grundrecht (auf freie Religionsausübung), Wertvorstellungen von Lehrkräften, Suchbewegungen von Jugendlichen, der Rahmen von Schule, Fragen nach Kommunikation und Schüler*innenpartizipation aufeinander.
Täglich wird in der Schule das gemeinsame Zusammenleben in Gesellschaft miteinander ausgehandelt, Menschen mit unterschiedlichsten Haltungen und Weltanschauungen treffen aufeinander. Das „Gespräch der Verschiedenen“ (Martha Nussbaum) ist zentral, um demokratische Wertvorstellungen sichtbar zu machen, zu fördern und zu entwickeln. Demokratie in Schule zu leben, bedeutet auch, einen produktiven Umgang mit Vielfalt und mit daraus resultierenden Konflikten zu finden, Toleranz und Respekt gegenüber anderen Menschen und Meinungen einzuüben, demokratische Verfahren einzuhalten und Konflikte gewaltfrei zu lösen. Welche rechtlichen und pädagogischen Eckpunkte sind nun im beschriebenen Konflikt zu beachten?
Rechtliche Grundlagen
Grundsätzlich gilt auf der Grundlage des Grundgesetzes das Recht auf freie Religionsausübung als auch eine weltanschauliche Neutralität der Schule: Der Staat muss sich in den Worten des Bundesverfassungsgerichts als „Heimstatt aller Bürger“ verstehen, unabhängig von ihrem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis. Der Staat und die staatlichen Institutionen selbst sind säkular und weltanschaulich-neutral. Allerdings bedeuten Säkularität und Neutralität in diesem Sinne nicht, sich von Religion zu distanzieren oder sie aus dem Bereich von Schule zu verweisen, sondern meinen „Heimstatt aller Bürger“ (BVerfG v. 27.01.2015). Dies bedeutet konkret, dass Menschen eine etwaige religiöse Überzeugung nicht an der Schultür abgeben müssen. Die Schüler*innen haben grundsätzlich das Recht zu beten, ein allgemeines Betverbot wäre nur bei konkreter Gefährdung des Schulfriedens zulässig (z.B. bei einer demonstrativen Inanspruchnahme schulischer Räume oder Missionierung). Gleichwohl gibt es kein Anrecht auf einen Gebetsraum, der nur oder vor allem einer Religion dient.
Zu beachten ist bei allem Recht auf Religionsausübung in der Schule das Primat des schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrags. Das bedeutet: Die grundlegende Organisation der Schule (wie z.B. Pausenzeiten) wird nicht an religiösen oder sonstigen Grundbedürfnissen ausgerichtet. Schüler*innen dürfen also nicht zu bestimmten Zeiten den Unterricht verlassen, um zu beten. Zweitens können schulische Inhalte oder Aufgaben nicht aus religiösen Gründen abgelehnt werden. Laut BVerwG sind Beeinträchtigungen der Glaubensfreiheit zunächst „typische Begleiterscheinungen des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags“ (BVerwG 6 C 25.12). So kann z.B. eine schulische Lektüre nicht einfach mit dem Hinweis auf religiöse (oder sonstige) Sensibilitäten abgelehnt werden. Wenn diese inhaltlich im Fachcurriculum verankert ist, gilt, dass alle Schüler*innen diese lesen.
Pädagogische Praxis
Fragestellungen und Konflikte rund um das Thema Religion sollten im Schulalltag vor dem Hintergrund des Grundrechts auf freie Religionsausübung einerseits und des Primats des schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrags andererseits stets individuell betrachtet werden. Bei Konflikten ist auszuloten, was die Beweggründe und Interessen der Beteiligten sind und ob ein Kompromiss möglich erscheint.
Miteinander sprechen: In der pädagogischen Praxis kann man auf vielfältige Weise auf den oben geschilderten Wunsch nach dem Gebet an der Schule reagieren. Die Situation könnte Anlass für disziplinarische Maßnahmen sein – dabei wäre aber zu fragen, ob dann nicht die Chance verpasst wird, die Schule gemeinsam als Lern- und Lebensort zu gestalten. Zentral sind hier aus meiner Sicht der Kontakt und ein offenes Gespräch: So können die Lehrkräfte etwas über Themen der Schüler*innen und die Schüler*innen etwas über den durch Schule gesetzten Rahmen lernen. Wichtig ist, dass die Schüler*innen in ihrem Anliegen gehört werden und dass geklärt wird, was vonseiten der Schule möglich ist und was nicht. Klar ist in diesem Fall, dass das Gebet nur außerhalb der Unterrichtszeiten stattfinden kann und wenn es andere nicht stört beziehungsweise das Gebet nicht demonstrativ abgehalten wird. Die Schule hingegen könnte überlegen, an welchen Orten sie ein Gebet für möglich hält. Gemeinsam müssten Schule und Schüler*innen über Bedingungen einer Erlaubnis (keine großen Gruppen, keine Missionierung etc.) reden und im Gespräch hierüber bleiben.
Haltung entwickeln: Zuweilen wird gefordert, Schule als religionsfreien Raum zu gestalten. Ich plädiere hingegen dafür, Schule als einen lebendigen Diskursraum zu gestalten, in den Menschen ihre unterschiedlichen Haltungen, Werte und Positionen einbringen und in dem offene Gespräche möglich sind – über Gemeinsamkeiten und Unterschiede und über Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Religion an der Schultür abzugeben, löst kein Problem – Religion wird dadurch nicht verschwinden, sondern lediglich nicht offen thematisiert. Wenn Schüler*innen vehement Religion in den Vordergrund stellen, über ihre religiöse Auffassung diskutieren möchten und sich in verschiedenen Kontexten auf Religion beziehen, ist zunächst zu fragen, was hinter diesen Fragen und dem Anbringen des Themas „Religion“ steht. Vielleicht geht es um Aufmerksamkeit? Vielleicht spürt der Jugendliche genau, dass Religion der „blinde Fleck“ der Lehrkraft ist? Vielleicht geht es mehr um Provokation und identitäre Suchbewegungen als um Propaganda? Das Ignorieren oder Verdrängen von Religion kann also nicht Teil der Lösung von möglichen Konflikten um Religion sein. Lehrkräfte und Schulgemeinschaft sollten sowohl eine reflektierte Haltung zum Thema Religion entwickeln und hierzu sprechfähig sein als auch um die Grundrechte wissen.
Regelungen verabreden: Schule braucht aus meiner Sicht also neben der individuellen Betrachtung von Einzelfällen einen lebendigen und offenen Diskurs über Werte und Haltungen. Auf Basis dieses Diskurses können dann allgemeine Regelungen für die Schulgemeinschaft wertebasiert getroffen werden. So ist es z.B. für den Sportunterricht zentral, dass alle Schüler*innen am Unterricht teilnehmen können und sportgerechte Kleidung tragen. Hierzu kann auch eine religiöse Kopfbedeckung zählen, solange die Sicherheitsbestimmungen beachtet werden (z.B. ein Kopftuch nicht mit Nadeln befestigt ist). Die Fachschaft Sport benötigt solche Regelungen, die alle Sportlehrkräfte gleichermaßen unaufgeregt kommunizieren und durchsetzen. Eine weitere schulische Regelung wäre, die hohen Feiertage verschiedener Religionen im Schuljahreskalender sichtbar zu machen und je nach Schüler*innenschaft auf die höchsten Feste bei der Jahresplanung Rücksicht zu nehmen. Solch ein Feiertagskalender könnte auch durch eine Arbeitsgemeinschaft oder eine Lerngruppe betreut werden.
Keine Angst vor Religion: Mit dem Thema Religion ist die Frage verbunden, wo Sinnfragen eigentlich ihren Platz an der Schule haben. Religion kann eine Ressource für das Individuum, aber auch in Bildungsprozessen sein, und gerade Jugendliche setzen sich mit Religion auseinander und experimentieren mit Bindungen, Nähe, Distanz und Zugehörigkeiten. Wo ist es für Schüler*innen möglich, über Themen zu sprechen, die ihnen wichtig sind, ihnen am Herzen liegen? Welche Zeiträume kann die Schule hierfür anbieten? Welche Gesprächspartner stehen bereit? Es muss nicht ständig und immer um Religion gehen. Aber wenn es viele Konflikte um Fragen der Religion und Religionsausübung gibt, braucht es einen schulinternen Diskurs, Regelungen sowie eine gemeinsame Sprache. Zu den Regelungen gehört auch, sich über Grenzen des Diskurses und rote Linien zu verständigen.
Grenzen erkennen: Zu den Regelungen gehört auch, sich über Grenzen des Diskurses und rote Linien zu verständigen. Werden ausgrenzende, menschenverachtende oder antidemokratische Grundpositionen deutlich, gilt es zu reagieren, pädagogisch verantwortet mit solchen Fragestellungen umzugehen und gegebenenfalls externe Unterstützung einzubeziehen. Wenn Mitschüler*innen z.B. aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit oder anderer Merkmale ihrer Identität ausgeschlossen oder gar gemobbt werden, ist eine klare Intervention erforderlich.
Dieser Beitrag erschien zuerst 2019 in der Fachzeitschrift: Pädagogik (Ausgabe 9/2019, Thema: Regeln – Grenzen – Konsequenzen) des BELTZ-Verlages. Wir danken dem Verlag und der Autorin, diesen Beitrag hier wiederveröffentlichen zu dürfen.ufuq.de, Februar 2021.