Wenn Kinder aus salafistisch geprägten Familien die Schule besuchen, kann es zu Konflikten innerhalb der Klasse und mit den Lehrkräften kommen. Worauf sollten Lehrkräfte in diesem Fall achten? Wen können sie um Rat fragen, wenn sie den Verdacht haben, dass das Kindeswohl gefährdet sein könnte? Wie kann die Resilienz von Kindern gestärkt werden? Kim Lisa Becker und Tobias Meilicke von der Beratungsstelle PROvention geben auf der Grundlage ihrer Erfahrungen mit salafistischen Familien einen Einblick.
Kinder aus salafistisch[1] geprägten Familien wachsen in der Regel innerhalb relativ geschlossener Familiensysteme auf, die unterschiedliche spezifische Risiko- und Schutzfaktoren mit sich bringen können.[2] Es ist zu vermuten, dass die Kinder in den ersten Lebensjahren häufig nur wenig Kontakt zu Menschen außerhalb der eigenen Familie oder Szene haben, da die Eltern die Kinder so lange und umfassend wie möglich von jeglichen Einflüssen fernzuhalten versuchen, die als schädlich oder gefährlich – und damit als verboten (ḥarām) – betrachtet werden. Dazu zählen bei einer strengen Glaubensauslegung auch all jene Menschen, die als außerhalb der eigenen Gruppe erachtet und als anders- oder nichtgläubig beziehungsweise nicht-muslimisch angesehen werden. Ideologisch wird dieses Verhalten im salafistischen Kontext vor allem aus dem Prinzip von Loyalität und Lossagung (al-walāʾ wal-barāʾ)[3] abgeleitet.
Mit Eintritt in die Kita und spätestens mit Einsetzen der Schulpflicht besuchen Kinder dieser Familien jedoch staatliche Bildungseinrichtungen.[4] Bereits zuvor greifen Eltern-, Kindes- und staatliche Rechte ineinander. Kommen die Eltern ihrem elterlichen Recht und ihrer Sorgepflicht nicht nach und schädigen (womöglich) das Wohl des Kindes, greift der staatliche Schutzauftrag (Art. 6 (2) GG und SGB VIII).[5] Zusätzlich wird in der Schule das elterliche Recht auf Erziehung um den staatlichen Erziehungsauftrag ergänzt, da die Schule unter Aufsicht des Staates steht (Art. 7 (1) GG). Für die Kinder können sich mit Schuleintritt in ihrem alltäglichen Erleben innere wie äußere Loyalitäts- und weltanschauliche Konflikte ergeben. So erleben sie mitunter starke kognitive Dissonanzen zwischen dem zentralen Stellenwert von Religion und Kollektiv einerseits sowie Säkularismus und Individualität andererseits.
Kim Lisa Becker ist Projektleiterin der Fachstelle Liberi – Aufwachsen in salafistisch geprägten Elternhäusern und Mitarbeiterin bei PROvention. Sie studierte Soziologie und Psychologie (BA).
Tobias Meilicke ist als Projektleiter von PROvention, der Präventions- und Beratungsstelle gegen religiös begründeten Extremismus in Schleswig-Holstein tätig. Meilicke studierte Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Naher Osten, Islamwissenschaft und Soziologie in Erlangen-Nürnberg, Istanbul und Kairo.
Dieser Beitrag soll pädagogische Fachkräfte darin unterstützen, Konfliktlagen der Kinder zu erkennen und Hinweise geben, wie solchen Konflikten mit Rückgriff auf die eigenen Fachkompetenzen und Ressourcen begegnet werden kann. Ziel ist es, mit den Eltern ins Gespräch zu kommen und die Kinder in ihrer Resilienz zu stärken, damit sie vor unterschiedlichen Risikofaktoren besser geschützt sind und diese in und nach Krisensituationen besser bewältigen können. Solche Krisen können sich dann für Kinder ergeben, wenn sie auf starke Widersprüche stoßen und innere Loyalitätskonflikte verspüren, die durch verschiede Konfliktlagen zu Tage treten können.
Konfliktlagen im Kontext Schule
Lehrkräfte erleben in der Schule immer wieder herausfordernde Konfliktsituationen, in denen einzelne Kinder mit Verweis auf ihre und/oder die elterliche Religiosität Unterrichtsinhalte oder gemeinsame Klassenaktivitäten ablehnen, sich provokativ äußern oder in eine starke Außenseiterrolle geraten und kaum Anschluss an Gleichaltrige finden. Lehrkräfte, Schulsozialarbeiterinnen und -sozialarbeiter sowie Schulleitungen sind insbesondere dann verunsichert, wenn sie selbst zwischen Religionsfreiheit und Sicherstellung der Vermittlung von Lerninhalten auf Basis der freiheitlichen demokratischen Grundordnung scheinbar abwägen müssen. Zusätzlich kommt Lehrkräften und staatlich anerkannten Schulsozialarbeiterinnen und -sozialarbeitern nach § 4 KKG[6] die Pflicht zu, im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung unterstützende Maßnahmen einzuleiten. Der spezielle Kontext kann auch hier zu Verunsicherungen führen: Ab wann kann ein (vermeintlich) religiös geprägtes Verhalten das Kindeswohl konkret gefährden?
Die Kultusministerien einiger Bundesländer haben auf diese Herausforderungen reagiert und entsprechende Handreichungen für Lehrkräfte herausgegeben, die jedoch inhaltlich unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Während zum Beispiel die niedersächsische Handreichung in erster Linie für das Phänomen Salafismus sensibilisiert und präventive Maßnahmen im Schulbereich aufzeigt, thematisiert die Broschüre aus Schleswig-Holstein vor allem die rechtlichen Rahmenbedingungen zum Umgang mit herausforderndem Verhalten von Schülern, Schülerinnen und Eltern.[7] Diese Rechtssicherheit für Lehrkräfte ist wichtig und hilfreich und setzt an der Basis an. Doch die Herausforderungen in der pädagogischen Arbeit mit den Kindern und das Führen von Elterngesprächen, gerade in Konfliktsituationen, gehen darüber hinaus. Sie können unter Umständen andere Formen der Unsicherheit auslösen und alle Beteiligten – auch die Lehrkräfte – stark belasten.
Die möglichen Konfliktlagen sind divers – auch bei Kindern, die in salafistisch geprägten Elternhäusern aufwachsen – und zum Teil bereits aus anderen Kontexten bekannt: Wie können Lehrkräfte damit umgehen, wenn Schülerinnen und Schüler nicht am Schwimmunterricht oder an Klassenfahrten teilnehmen, den Musikunterricht verweigern und Gesang oder Musik als religiös verboten (ḥarām) bezeichnen? Wie können sie reagieren, wenn Kinder im Kunstunterricht keine Menschen malen wollen, weil sie das als Anmaßung gegenüber Gott begreifen, welchem allein das Erschaffen von Menschen zustehe? Oder was tun, wenn die Teilnahme am Biologieunterricht durch die Eltern verhindert wird, weil die Kinder im Sexualkundeunterricht zu unmoralischem Verhalten verführt würden oder die Evolutionstheorie strikt abgelehnt wird?
Konfliktfelder können das alltägliche Lernen und Miteinander betreffen und reichen von unterschiedlichem Verständnis von Geschlechterrollen bis hin zu ideologisch aufgeladenen und (möglicherweise gewaltorientierten) Ungleichwertigkeitsvorstellungen, welche sich zum Beispiel in sexistischen, antisemitischen und homofeindlichen Äußerungen und Verhaltensweisen zeigen können. Für Lehrkräfte bedeuten solche Situationen eine – unter Umständen elementare – Störung ihres Unterrichts. Für die Kinder selbst kann ein solches Verhalten zur Ausgrenzung aus dem Klassenverband führen, damit vielleicht einhergehende Entwicklungshemmnisse im Sozialverhalten bedeuten und sich generell auch negativ auf den Lernerfolg auswirken.
Notwendige Differenzierung: Bewusst mit Vorurteilen umgehen
Vorurteile gegenüber Musliminnen und Muslimen sind in der Gesellschaft stark verbreitet und können sich entsprechend auch bei Lehr- und anderen Fachkräften wiederfinden.[8] Insbesondere in der Kinder-, Jugend- und Elternarbeit prägen diese Vorurteile Vorstellungen von patriarchalen Verhältnissen in den Familien und von restriktiver bis hin zu gewaltorientierter Erziehung im vermeintlich konservativ geprägten Kontext. Es ist für Lehrkräfte häufig kaum leistbar einzuschätzen, in welchen Fällen problematischen Verhaltens tatsächlich ein salafistisch oder islamistisch geprägter Familienkontext eine Rolle spielt. So kann es sein, dass sie Verhaltensweisen überschätzen und alarmistisch handeln oder dass sie es aufgrund von Ängsten vermeiden, Konflikte anzugehen. Ebenso kann es jedoch auch vorkommen, dass Lehrkräfte mit Verweis auf vermeintliche „kulturelle Unterschiede“ Konfliktsituationen unterschätzen und mitunter leichtfertig abtun. Unabhängig davon, ob tatsächlich ein salafistisch geprägter Familienhintergrund besteht, können Fachkräfte in herausfordernden Situationen jedoch auf ihre eigenen Ressourcen und Kompetenzen zurückgreifen und mit einer offenen Haltung ins Gespräch mit den Eltern oder auch mit dem Kind selbst gehen.
Zentral bei der Lösung von Konflikten ist es, die Hintergründe für bestimmte Haltungen und Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schülern und ihrer Eltern offen zu hinterfragen und soziale Motive nachzuvollziehen (zum Beispiel Ängste, soziale und finanzielle Lebensverhältnisse, gesundheitliche Voraussetzungen). Dies klingt selbstverständlich, bleibt in der Praxis jedoch zu oft aus. Problematisch wird es, wenn Fachkräfte sich schon vor einem Gespräch Erklärungen für Handlungsweisen zurechtlegen und diese als Anschuldigungen an Eltern herantragen. Dies kommt gelegentlich vor, wenn Kinder nicht am Schwimmunterricht oder an Klassenfahrten teilnehmen (wollen). Hier kann es passieren, dass die Erklärung für dieses Verhalten, insbesondere wenn es sich um Kinder aus muslimisch geprägten Familien handelt, schon vor dem Elterngespräch in einem vermeintlich islamistischen Religionsverständnis oder patriarchalen Weltbild der Familie verortet wird. Diese und andere Annahmen können ein Elterngespräch vorbelasten und im schlimmsten Fall zu einer Verschärfung des Konflikts führen – beispielsweise, wenn sich Eltern persönlich angegriffen fühlen.
Entscheidend ist es, dass pädagogische Fachkräfte ihre möglicherweise vorhandenen Vorurteile bewusst reflektieren und auch andere mögliche Erklärungen für gegebenenfalls problematische Verhaltensweisen in Betracht ziehen. So kann das Fernbleiben vom Schwimmunterricht auch mit gesundheitlichen Gründen zu tun haben oder mit einer traumatisierenden Erfahrung. Gerade Familien mit Fluchtgeschichte, die häufig einen muslimischen Hintergrund mitbringen, haben möglicherweise miterleben müssen, wie Menschen ertranken. Einige von ihnen sind auf der Flucht auch Opfer von gewaltsamen, zum Teil sexualisierten, Übergriffen geworden. In diesen Fällen prägt mitunter die Angst vor dem Ertrinken oder vor sexualisierten Übergriffen in Umkleidekabinen das Verhalten der Eltern oder der Kinder.
Auch solche Gründe als Erklärung zu berücksichtigen heißt, die Sorge der Eltern anzuerkennen und in einen lösungsorientierten Diskurs auf Augenhöhe zu treten. So lässt sich zum Beispiel mit einer diffusen Angst vor dem Ertrinken auch für die Teilnahme am Schwimmunterricht argumentieren, sofern hier keine Traumatisierung vorliegt. Ängste können auch dadurch abgebaut werden, dass den Eltern die Rahmenbedingungen des Schwimmunterrichts, zum Beispiel getrenntgeschlechtliche Umkleidekabinen, erläutert werden. Auch für die Ablehnung einer Teilnahme an der Klassenfahrt muss nicht zwingend ein patriarchales Familienbild ursächlich sein. Finanzielle, zum Teil schambesetzte Fragen können ebenfalls eine Rolle spielen, genau wie bei nicht-muslimischen Familien. Hier können möglicherweise Hinweise auf entsprechende Unterstützungsleistungen des Staates weiterhelfen. So lassen sich zahlreiche individuelle Erklärungen für herausforderndes Verhalten von Eltern und Kindern finden, die nicht auf ein rigoros-religiöses Weltbild, sondern schlicht auf Sorge der Eltern um das Wohl ihres Kindes zurückzuführen sind.
Alle Eltern wollen in der Regel das Beste für ihr Kind, dies sollten Lehrkräfte und Schulleitungen sich stets in Konfliktsituationen ins Gedächtnis rufen. Es kann hilfreich sein, sich im Einzelfall die Frage zu stellen, wie man mit der Situation umgehen würde, wenn das Kind nicht aus einer muslimischen Familie käme. Sicherlich wird es auch Fälle geben, in denen eine Familie wirklich ein für Fachkräfte herausforderndes oder auch problematisches Weltbild mitbringt. Von vornherein andere Erklärungsmuster auszublenden, bedeutet aber, sich möglicherweise einfacher Lösungen zu berauben.
Umgang mit salafistisch geprägten Familien
Beim Kontakt mit salafistisch geprägten Familien wird es jedoch auch herausfordernde Verhaltensweisen von Kindern und Eltern geben, die ideologisch fundiert oder geprägt sind. Mit diesen Eltern ins Gespräch zu kommen, scheint oft schwierig und ist bei Fachkräften mit großen Unsicherheiten und zum Teil auch Ängsten verbunden. Grundlage für offene und lösungsorientierte Ansätze ist eine interessierte und sorgende Haltung der schulischen Akteure und Akteurinnen, die keineswegs im Widerspruch zum rechtlichen Rahmen stehen muss. In der Praxis hat sich jedoch oft gezeigt, dass es wenig hilfreich ist, Elterngespräche mit Verweis auf das Schulrecht beziehungsweise den schulischen Frieden zu beginnen oder den Problemaufriss direkt offen religiös zu verorten.
Im Gegenteil: Gerade in Gesprächen mit vermeintlich schwierigen Eltern sollte stets das Wohl des betroffenen Kindes in den Mittelpunkt gestellt werden. Denn dieses ist das gemeinsame Interesse von Schule sowie Eltern und daher primärer Anknüpfungspunkt für pädagogische Lösungen. Dabei ist es wichtig, den Eltern die herausfordernde Situation darzulegen und mögliche Folgen für das Kind genau zu verdeutlichen. Auf Wertungen über den vermeintlichen Erziehungsstil oder die Religiosität der Eltern sollten Fachkräfte dabei verzichten, um Eltern nicht zu vermitteln, sie seien das Problem. Vielmehr können positive Aspekte konkret benannt werden, um den Eltern von Beginn an wertschätzend zu begegnen. Eltern können primär als Ressource verstanden werden, die zur Lösung des Problems beitragen können.
Es ist demnach wichtig, dass – auch salafistisch geprägten – Eltern eine Möglichkeit eingeräumt wird, ihre Bewertung der Problemlage zu äußern. Ängste der Eltern müssen dabei ernst genommen werden – und sind damit auch im Prozess der Problemlösung zu berücksichtigen. Dies gelingt am besten, indem bei den Eltern aktiv Lösungsvorschläge abgefragt und im gemeinsamen Gespräch konkretisiert werden. Dabei muss allerdings stets deutlich gemacht werden, dass die allgemeine Schulpflicht oder die inhaltliche Unterrichtsgestaltung nicht zur Disposition stehen.
Die Erfahrung in der Arbeit von Präventions- und Beratungsstellen im Bereich des religiös begründeten Extremismus zeigt, dass Eltern auch hier durchaus Lösungsvorschläge einbringen und anbieten, mit ihren Kindern Konfliktsituation wie die oben genannten zu besprechen. Ob den Kindern durch die Eltern in diesen Fällen nur vermittelt wird, dass sie sich in der Schule anpassen sollen, um weitere Probleme für die Familie zu vermeiden, ist nicht immer klar. Fest steht jedoch: Es ist nicht die Aufgabe der schulischen Fachkraft, die Eltern von ihren bisweilen stark dogmatischen bis hin zu extremistischen Weltbildern abzubringen. Im Fokus der Schule steht vielmehr, Angebote bereitzuhalten, die Kinder allgemein in ihrer Persönlichkeitsentwicklung stärken.
Diejenigen Kinder, die besonderen Risikofaktoren oder Herausforderungen ausgesetzt sind, wie es bei Kindern aus salafistisch geprägten Elternhäusern häufig der Fall ist, gilt es in ihrer Resilienz zu stärken, damit sie mit bestehenden kognitiven Dissonanzen und aufkommenden Loyalitätskonflikten umzugehen lernen. Denn nur dadurch wird die Basis geschaffen, Kinder darüber hinaus auch konkret darin zu befähigen, demokratie- und menschenfeindliche Weltbilder kritisch zu hinterfragen.
Gespräche mit Eltern aus dem salafistischen Spektrum können für Lehrkräfte und Schulleitungen trotz allem mit Unsicherheiten behaftet sein. Es ist in diesem Fall möglich, Fachleute von entsprechenden Beratungsstellen hinzuzuziehen, die über Ideologie und Szene aufklären und dabei unterstützen können, Gespräche vor- und nachzubereiten oder die im Einzelfall moderierend mitwirken können.
Lösungsansätze im Umgang mit Kindern: Resilienzförderung
Das Wort Resilienz ist abgeleitet vom englischen „resilience“, das übersetzt „Spannkraft“ oder „Elastizität“ bedeutet. Der Begriff bezieht sich auf die „psychische Widerstandsfähigkeit von Kindern gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken“.[9] Resilienz ist dabei nicht angeboren, sondern erlernbar und beschreibt eine persönliche Eigenschaft, die es erlaubt, schädigenden Auswirkungen von Risikosituationen – unter anderem im Aufwachsen – vorzubeugen, sie zu minimieren oder auch zu überwinden. Kinder meistern risikobehaftete Situationen demnach besser als erwartet, wenn sie auf innere und äußere (also sozial vermittelte) Ressourcen – sogenannte Schutzfaktoren – zurückgreifen können.
Hierzu zählen unter anderem innere Überzeugungen und Glaubenssätze („Es wird alles gut werden“), gute Kommunikationsfähigkeiten, unterschiedliche Lösungs- und Bewältigungsstrategien, bei denen Selbstwirksamkeitserfahrungen gemacht werden, aber auch emotional-stabile Beziehungen zu vertrauensvollen Bezugspersonen, Vorbilder, die Hilfe und Unterstützung durch Erwachsene oder auch Freundschaften zu Gleichaltrigen. Da Schutzfaktoren für all jene Kinder stärkend wirkend können, die unterschiedlichsten Risikofaktoren ausgesetzt sind, ergibt sich zusätzlich der Vorteil eines integrativ wirkenden Ansatzes: So profitieren beispielsweise im schulischen Kontext alle Kinder von resilienzfördernden Angeboten.
In der Schule können sowohl Gruppen- als auch Einzelangebote Kinder in der Entwicklung von Resilienz unterstützen. Gruppenangebote sollten dabei stets darauf abzielen, bereits vorhandene Ressourcen innerhalb der Klassengemeinschaft zu stärken sowie Gemeinsamkeiten der Schülerinnen und Schüler hervorzuheben. Auch Übungen, die den allgemein wertschätzenden Umgang miteinander trainieren, sind von Vorteil (zum Beispiel „Was magst du an deiner Mitschülerin am liebsten? Mache ihr ein Kompliment“). Vor allem mit Blick auf die Gefahr der Isolation von Schülerinnen und Schülern aus salafistisch geprägten Familien bietet es sich an, sowohl das Gemeinschaftsgefühl der gesamten Klasse als auch Peer-Kontakte zu stärken. Primär können Einzelangebote darauf abzielen, vorhandene Loyalitätskonflikte der Kinder aufzufangen. Kinder sollten ihre Unsicherheiten aussprechen können, Pädagoginnen und Pädagogen sollten in der Lage sein, diese auszuhalten. Damit können sie den Kindern vermitteln, dass es in Ordnung ist, sich unsicher zu sein und sich damit vertrauensvoll an jemanden zu wenden.
Aus der Resilienzforschung ist bekannt, dass die Bindung zu mindestens einer emotional stabilen Bezugsperson bereits eine sehr wertvolle Unterstützung für Kinder darstellen kann, die besonderen Risikofaktoren ausgesetzt sind. Auch Lehrkräfte und/oder Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter können solch vertrauensvolle Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner sein, die in regelmäßigem Kontakt zum Kind stehen. Sie sollten darauf achten, aktives Lösungsverhalten zu fördern und Selbstwirksamkeitserfahrungen zu ermöglichen. Kinder können so bereits früh in ihrem Selbstwert bestärkt und in ihren individuellen Fähigkeiten gefördert werden.
Kindeswohlgefährdung erkennen und handeln
Lehrkräfte können viele Konfliktsituationen durch Rückgriff auf ihre eigenen Kompetenzen und Ressourcen, beispielsweise im Austausch mit dem Kollegium oder durch den eigenen individuellen Erfahrungsschatz, lösen. Es gibt jedoch auch Situationen, in denen konkrete Annahmen zur Gefährdung des Kindeswohls bestehen. Sollten Fachkräfte akute oder andauernde Hinweise für eine Kindeswohlgefährdung bemerken, ist bei Kindern aus salafistisch geprägten Familien genauso wie bei allen anderen Kindern zu handeln, die sich in verschiedenen Gefährdungslagen befinden (könnten).[10]
Auch wenn das Kindeswohl und eine Kindeswohlgefährdung unbestimmte Rechtsbegriffe sind, was bedeutet, dass stets der Einzelfall individuell beurteilt werden muss, können sich Lehr- und andere Fachkräfte hier an klassischen Gefährdungslagen orientieren, die das Wohl des Kindes körperlich, psychisch oder seelisch beeinträchtigen können. Neben dem Verdacht auf Gewalt (Beobachtung, Erleben oder eigene Anwendung) können auch Vernachlässigung, gesundheitliche Gefährdungen, Autonomiekonflikte oder die Verhinderung von Schulbesuch allgemeine Gefährdungslagen darstellen, in denen überprüft werden muss, ob das Wohl des Kindes gefährdet ist. In vielen Schulen existieren für diese Situationen Notfallordner, die das Vorgehen für Lehrkräfte nachvollziehbar und klar darstellen.
In allen Fällen von allgemeiner oder fachspezifischer Schulabstinenz können sich Lehrkräfte rechtlich auf die Schulpflicht berufen. Eine (systematische) Schulverweigerung beispielsweise ist als Gefährdungslage für das Kindeswohl deshalb zu prüfen. In unklaren Situationen ist es ratsam, sich zunächst mit Kolleginnen und Kollegen auszutauschen. Vielfältige Perspektiven auf eine oder verschiedene Problemlagen erweitern den Blick – vorhandene Kompetenzen können so genutzt werden. Ein solcher Austausch kann einen Verdacht mitunter ausräumen oder Sicherheit darin geben, dass dieser sich erhärtet und dass weitere Schritte eingeleitet werden müssen. Auch das Gespräch mit den Eltern ist häufig einer der ersten Schritte. Dabei sollten Möglichkeiten zur Abwendung von Gefahren für das Kindeswohl offen erörtert und entsprechende Unterstützungsangebote, wie beispielsweise Hilfen zur Erziehung[11] erläutert werden, die die Eltern beim Jugendamt beantragen können.
Wenn eine Lehrkraft erfährt oder sieht, dass einem Kind oder Jugendlichen zu Hause gegenwärtig Gewalt angetan wird, dass es Gewalt beobachtet oder dass ihm Gewalt angedroht wird, muss sie das Jugendamt einschalten. Im Normalfall sollte zunächst ein Gespräch mit dem Kind oder den Eltern erfolgen. Es können jedoch Unsicherheiten bestehen, ob ein Gespräch mit den Eltern stattfinden kann, oder ob das Kind selbst in solche Situationen einbezogen werden kann, weil hierdurch möglicherweise eine Gefahr für das Kind entsteht. In diesem Fall ist es ratsam, dass die Lehrkraft oder die Schulleitung sich an eine Fach- oder Beratungsstelle wendet oder in akuten Situationen direkt das Jugendamt verständigt, ohne zuvor Eltern (und/oder das Kind) mit einzubeziehen. Die Abwendung von Gefährdungssituationen für das Kind gilt als das höhere Gut und ermöglicht eine Übertragung von personenbezogenen Daten von einer Schule an das Jugendamt (KKG §4)[12].
Sollten Konfliktsituationen extremistisch konnotiert sein (wenn Eltern, Jugendliche oder Kinder zum Beispiel extremistische beziehungsweise gewaltvolle Propagandamaterialien zeigen, Ausreisepläne äußern et cetera), kann es hilfreich sein, sich in unsicheren Fällen zunächst an Fachkräfte aus entsprechenden Fach- und Beratungsstellen im Bereich religiös begründeter Extremismus zu wenden.[13]
Diese wissen insbesondere thematisch spezifische Verhaltensweisen ideologisch einzuordnen und können fachberatend oder als „insofern erfahrene Fachkräfte“ bei der Beurteilung der möglichen Gefahrensituation hinzugezogen werden. Denn sollte der Verdacht einer Kindeswohlgefährdung nach dem Austausch mit den eigenen Kolleginnen und Kollegen nicht ausgeräumt werden können, haben Schulen gemäß § 8b SGB VIII[14] den Anspruch, eine „insofern erfahrene Fachkraft“ oder auch „Kinderschutzfachkraft“ zur Einschätzung der Gefährdungslage mit hinzuzuziehen, bevor bei Erhärtung des Verdachts eine Meldung beim Jugendamt erfolgt. Diese Fachkräfte können zum Beispiel über Kinderschutzzentren oder themenbezogen auch über entsprechende Fach- und Beratungsstellen zum Themenfeld religiös begründeter Extremismus abgerufen werden. Kontaktdaten sind unter anderem beim schulpsychologischen Dienst oder bei den zuständigen Jugendämtern abrufbar[15].
In akuten Gefährdungssituationen ist eine Anzeige beim Jugendamt rechtlich verpflichtend, da lediglich das Jugendamt bei akutem Handlungsbedarf befugt ist, gesetzliche Maßnahmen zur Hilfe einzuleiten und in Akutfällen zu handeln, bevor ein richterlicher Beschluss vorliegt. Wenn der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung nach Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen in der Schule und dem Hinzuziehen einer insofern erfahrenen Fachkraft Bestand hat und auch durch Elterngespräche nicht ausgeräumt werden konnte, muss das Jugendamt ebenfalls informiert werden.
Wichtig ist es stets, Beobachtungen im Zusammenhang mit einer potenziellen Kindeswohlgefährdung möglichst konkret zu dokumentieren. Da es die eine „salafistische Erziehung“ nicht gibt, gibt es auch keine generalisierbaren Gefährdungslagen. Somit muss eine salafistisch geprägte Erziehung per se keine Kindeswohlgefährdung mit sich bringen. Vielmehr sind es typische Tendenzen, die im Kontext unterschiedlichster Gefährdungslagen auftreten können – von Schulabstinenz über Autonomiekonflikte bis hin zu Gewaltverherrlichung oder -anwendung. Diese können mithilfe von Fachkräften aus den Beratungsstellen im Themenfeld religiös begründeter Extremismus auch ideologisch eingeordnet und für den betreffenden Einzelfall beurteilt werden.
Fazit
Das Phänomen „salafistisch geprägte Familien“ scheint auf den ersten Blick neue Herausforderungen, auch und vor allem für Schulen, mit sich zu bringen. Besinnen sich pädagogische Fach- und Lehrkräfte jedoch auf bereits vorhandene Erfahrungen, Kompetenzen und Handlungswege, gehen bewusst mit Ängsten und möglichen Vorurteilen um und holen sich entsprechende Beratung und Unterstützung – gerade in Fällen, in denen eine mögliche Kindeswohlgefährdung im Raum steht – so können sich auch hier Lösungsansätze, beispielsweise in Gesprächen mit Eltern, ergeben. Denn zentrales Ziel aller beteiligten Personen ist es, Kinder (auch aus salafistisch geprägten Elternhäusern) in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu stärken und vor konkreten Gefahren zu schützen.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei der Bundeszentrale für politische Bildung und wurde unter der Creative Commons Lizenz „CC BY-NC-ND 3.0 DE“ veröffentlicht. Wir danken den Autor*innen und der Bundeszentrale für die Möglichkeit, ihn hier wiederzuveröffentlichen.
Anmerkungen
1. Beim Salafismus handelt es sich um islamische bzw. islamistische Bewegungen, deren Anhänger und Anhängerinnen ihr Islamverständnis stark am Handeln und Denken Mohammeds und der ersten Muslime des 7. Jahrhunderts orientieren. Die Ideologie ist geprägt durch ein literalistisches Koranverständnis, wodurch auch jegliche Interpretationen, sowie Weiterentwicklungen islamischer Theologie abgelehnt werden. Ein solches Religionsverständnis steht dadurch in Teilen im Widerspruch zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung (vgl. Pfahl-Traughber (2015)). Ideologie und Szene sind hierbei deutlich von Heterogenität innerhalb der konkreten Ausrichtung gekennzeichnet, für Hinwendungsgründe wiederum sind im Einzelfall neben gesamtgesellschaftlichen Faktoren vor allem auch individuelle biografische Faktoren zu betrachten. Auch deshalb ist maximal von einer „salafistischen Prägung“ auszugehen, nicht jedoch von vermeintlich einheitlich „salafistischen Familien“.
2. Unter spezifischen Risikofaktoren, insbesondere für Kinder, können eine Bandbreite unterschiedlichster Bedingungen verstanden werden, die mit einem salafistisch geprägten Religions- oder auch Politikverständnis einhergehen können, wie zum Beispiel Isolation und Ausgrenzungserfahrungen, Loyalitätskonflikte, hoher Leistungsdruck sowie eine von Angst und Schuld geprägte Alltagsrealität. Schutzfaktoren, die in solchen Kontexten ebenfalls häufiger vorkommen können, sind unter anderem ein großes Interesse und Auseinandersetzen mit Fragen rund um das Thema Erziehung im Allgemeinen und hohes Schutzbedürfnis der Eltern vor schädlichen Einflüssen wie Alkohol, Drogen oder pornographischem Material. Hinzu kommen oft strukturierte Tagesabläufe und verlässliche Handlungsmuster (vgl. Becker/Meilicke (2019) und Schermaier-Stöckl/Nadar/Clement (2018)).
3. „Obwohl [das Prinzip von Loyalität und Lossagung] zunächst nur von heterodoxen Muslimen benutzt und von hanbalitischen Rechtsgelehrten als unzulässige, religiöse Neuerung missbilligt wurde, begannen spätere Gelehrte, die heute Gewährsmänner der Salafisten sind, wie Ibn Taimīya, sich die Doktrin zu eigen zu machen. Es ist anzunehmen, dass der Grund hierfür darin lag, dass hiermit ein ideales Konzept vorlag, durch welches sie dem angenommenen koranischen Erfordernis, loyal zum Islam zu sein und Abstand zu allem sonstigen zu halten, einen geeigneten Rahmen geben konnten“ (vgl. Wagemakers (2014), S. 76).
4. Da die Kinder in relativ geschlossenen Glaubens- und Familiensystemen aufwachsen und meist so lange wie möglich zu Hause bleiben, wird weniger erwartet, dass Konfliktfälle im Kontext Kita zentral sein werden. Von Einzelfällen kann jedoch durchaus auch ausgegangen werden.
5. Deutscher Bundestag: Grundgesetz und Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz: Sozialgesetzbuch, Abruf am 11.12.2019.
6. Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz: Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz, Abruf am 11.12.2019.
7. u. a. Schleswig-Holstein. Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (2018); Niedersächsisches Kultusministerium (2019).
8. Vgl. hierzu Hafez/Schmidt (2015) und Decker/Brähler (2018), S. 224 ff. und Schiffauer (2015), S. 68 ff.
9. Wustmann (2004), S. 192.
10. Vgl. Fritzsche/Puneßen (2017).
11. Steffen Wasmund: SGB VIII, 27-35, Abruf am 11.12.2019.
12. Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz: Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz, Abruf am 11.12.2019.
13. In Deutschland unterstützen bei der Einschätzung von Gefährdungslagen und im Umgang mit diesen in Kontext religiös begründeter extremistischer Bezüge unter anderem die Fachstelle Liberi – Aufwachsen in salafistisch geprägten Familien sowie das Beratungsnetzwerk Radikalisierung des BAMF und seiner zivilgesellschaftlicher Partner.
14. Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz: Sozialgesetzbuch, Abruf am 11.12.2019.
15. In der „Bundesweiten Übersicht der Anlaufstellen“ des Infodienstes Radikalisierungsprävention sind zahlreiche Beratungsstellen zu finden.
Literatur
Becker, Kim Lisa/Meilicke, Tobias (2019): Kinder in salafistisch geprägten Familien. Aufwachsen mit Risiko- und Schutzfaktoren. (Stand: 03.12.2019)
Decker, Oliver/Brähler, Elmar (Hrsg.) (2018): Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft, Die Leipziger Autoritarismus-Studie.
Fritzsche, Nora/Puneßen, Anja (2017): Aufwachsen in salafistischen Familien – Herausforderung für die Jugendhilfe zwischen Religionsfreiheit und möglicher Kindeswohlgefährdung. (Stand: 03.12.2019)
Hafez, Kai/Schmidt, Sabrina (2015): Die Wahrnehmung des Islams in Deutschland. Religionsmonitor – verstehen was verbindet, Gütersloh.
Niedersächsisches Kultusministerium (2019): Neo-Salafismus, Islamismus und Islamfeindlichkeit in der Schule – Wie kann Schule präventiv handeln? (pdf), Hannover (Stand: 03.12.2019)
Pfahl-Traughber, Armin (2015): Salafismus – Was ist das überhaupt, Defintion – Idiologiemerkmale – Typologisierung. (Stand: 03.12.2019)
Schermaier-Stöckl, Barbara/Nadar, Maike/Yuzva, Clement David (2018): „Die nächste Generation?“ Religiös-rigoristische Erziehung im salafistischen Kontext als Herausforderung für die erzieherische Kinder- und Jugendhilfe. In: Fachzeitschrift Forum Jugendhilfe. Heft 3/2018.
Schiffauer, Werner (2015): Schule, Moschee, Elternhaus, Eine ethnologische Intervention
Schleswig Holstein. Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (2018): Religion Islamismus Salafismus in Schulen. FAQs und Handlungsleitlinien für Schulleitungen und Lehrkräfte zum Umgang mit besonderen Verhaltensweisen in diesem Kontext (pdf), Kiel. (Stand: 03.12.2019)
Wagemarkers, Joas (2014): Salafistische Strömungen und ihre Sicht auf al-wala´wa-l bara´ (Loyalität und Lossagung). In: Said, Behnam/ Fouad, Hazim (Hrsg.): Salafismus, Auf der Suche nach dem wahren Islam, Bonn. S.55 ff.
Wustmann, Corina (2005): Die Blickrichtung der neueren Resilienzforschung. Wie Kinder Lebensbelastungen bewältigen. In: Zeitschrift für Pädagogik 51, H. 2, S. 192-206.
Zander, Margaritha (Hrsg.) (2011): Handbuch Resilienzförderung. Wiesbaden.