„Wenn wir von Schulfrieden sprechen, ist die Pädagogik gescheitert“ – ein Interview mit Rechtsanwalt Tobias Schieder zum Begriff des „Schulfriedens“
21. Juni 2022 | Demokratie und Partizipation, Religion und Religiosität

Bild: Jonne Huotari / unsplash.com

Der Begriff „Schulfrieden“ taucht sowohl in den Medien als auch in schulisch-pädagogischen Kontexten immer wieder auf. Oft ist dann von einer „Störung des Schulfriedens“ durch das öffentliche Bekunden der eigenen Religion, beispielsweise durch das Tragen eines Kopftuchs, die Rede. Rechtsanwalt Tobias Schieder klärt mit uns im Interview, was hinter dem Begriff steckt und ob er sich eignet, um über Konflikte in der Schule zu sprechen.

ufuq.de:

Herr Schieder, könnten Sie den Begriff „Schulfrieden“ für uns einführen? Woher stammt der Begriff, was bedeutet er?

Tobias Schieder:

Es ist interessant, dass es eigentlich keine wirklich griffige Definition des Schulfriedens gibt. Wenn man sich die Begriffsgeschichte anschaut, dann findet man zuerst die Beschreibung eines Zustands, in dem schulpolitische Konflikte beigelegt wurden. Es gab in der Geschichte der Bundesrepublik politische Kämpfe um Schulformen, zum Beispiel um Bekenntnisschulen. Wenn solche als „Schulkampf“ beschriebenen Zustände politisch gelöst wurden, sprach man häufig von Schulfrieden.

ufuq.de:

Wie wird der Begriff heute gebraucht?

Tobias Schieder:

In der heutigen Diskussion ist „Schulfrieden“ eher ein Begriff, der im Zusammenhang mit Einschränkungen von bestimmten Handlungen an der Schule gebraucht wird, er beschreibt also ein schulordnungsrechtliches Problem. In dieser Bedeutung wurde mit dem Begriff „Schulfrieden“ zuerst das Thema politische Betätigung an der Schule verhandelt. In den 80er Jahren kamen ein paar Fälle in Bayern auf, bei denen Schüler „Stoppt Strauß“-Plaketten trugen. Das führte wohl zu einigen Irritationen, sowohl von Mitschüler*innen als auch von Lehrer*innen. In der Folge kam es zu Rechtsstreitigkeiten, inwiefern politische Äußerungen an der Schule überhaupt erlaubt seien. In diesem Zusammenhang haben dann die Verwaltungsgerichte, vor allem der bayrische Verwaltungsgerichtshof, von „Schulfrieden“ gesprochen, allerdings ohne den Begriff konkret zu definieren.

ufuq.de:

Wie entwickelte sich der Begriff weiter?

Tobias Schieder:

Er wurde teilweise von den Gesetzgebern aufgegriffen und in die Schulgesetze aufgenommen. Dort findet man Formulierungen, wonach politische Betätigung an Schulen zulässig sei, wenn der Schulfriede dadurch nicht gestört werde. Allerdings wird der Begriff auch in den Schulgesetzen nicht näher definiert.

ufuq.de:

Der Begriff tauchte dann im ersten Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Thema Kopftuch in der Schule wieder auf. Das Bundesverfassungsgericht entschied 2015, dass das Tragen eines Kopftuchs durch Lehrerinnen in der Schule nicht pauschal verboten werden darf, sondern dass es eine konkrete Gefahr für den Schulfrieden geben müsse, bevor ein solches Verbot ausgesprochen werden kann. Ist es nicht sehr schwierig, zu definieren, ab wann eine konkrete Gefahr für den Schulfrieden gegeben ist?

Tobias Schieder:

Ja, grundsätzlich ist das richtig. Man fragt sich natürlich: Eine Gefahr für den Schulfrieden, was soll das eigentlich sein? Der Begriff der „konkreten Gefahr“ ist im rechtlichen Kontext allerdings sehr geläufig. Bei allen ordnungsrechtlichen Maßnahmen, sei es, dass die Gemeinde jemandem verbietet, einen Container auf der Straße abzustellen, sei es, dass die Polizei jemandem einen Platzverweis erteilt, ist die Eingriffsschwelle die konkrete Gefahr für ein Rechtsgut. Juristisch wird die „konkrete Gefahr“ als hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts definiert. Die Schwierigkeit entsteht dadurch, dass nicht ganz klar ist, was mit „Schulfriede“ eigentlich gemeint ist. Es ist wohl ein Zustand von einer gewissen Konfliktfreiheit; die Konflikte an der Schule dürfen keinen Grad erreicht haben, der sich nicht mehr pädagogisch beilegen lässt. Überspitzt könnte man sagen: Der Schulfriede ist dann konkret gefährdet, wenn man damit rechnen muss, dass man einen Konflikt mit pädagogischen Mitteln nicht mehr in den Griff bekommt und ein geordneter Unterrichtsablauf nicht mehr gewährleistet werden kann.

ufuq.de:

Andererseits ändern sich die Zeiten. Was vor 20 Jahren ein Aufreger war und den Schulfrieden störte, ist es vielleicht heute nicht mehr. Welche Religionspraktiken wecken erst einmal Unverständnis, wirken fremd und werden deswegen als störend empfunden? Sehen Sie nicht die Gefahr, dass mit diesem Urteil lediglich die islamische Religionsausübung aus dem öffentlichen Raum verdrängt werden soll?

Tobias Schieder:

Man könnte auch argumentieren, dass das Urteil die Gefahr ein wenig abgeschwächt hat. Nach den ersten Kopftuchurteilen 2003 in Baden-Württemberg sagte das Bundesverfassungsgericht noch: „Ihr könnt der Lehrerin nicht einfach verbieten, das Kopftuch zu tragen, wenn ihr keine gesetzliche Grundlage habt.“ Das war ein relativ formales Argument: Das Verbot religiöser Praktiken, also eine Grundrechtseinschränkung, darf auch für Lehrer nur mit gesetzlicher Grundlage ausgesprochen werden. Daraufhin wurden dann die Länder tätig und haben relativ deutlich in ihre Schulgesetze geschrieben: „Kopftücher wollen wir nicht.“ Zwar haben sie das ein bisschen allgemeiner umschrieben und von „sichtbaren religiösen Symbolen“ gesprochen. Aber im Grunde richteten sich diese Gesetze stets gegen das Kopftuch der Lehrerin oder der Referendarin. Das Bundesverfassungsgericht hat dann 2015 berechtigterweise gesagt: „Moment mal. Was ist eigentlich eure Grundlage dafür, dass ihr die Religionsfreiheit einschränkt? Ihr müsst schon irgendeinen Grund haben.“ Der kann natürlich im Schulfrieden liegen. Aber die Behauptung, dass ein Kopftuch stets den Schulfrieden störe, ist so nicht haltbar. Und genau deswegen hat das Verfassungsgericht dann festgelegt, dass das Kopftuch an der Schule nur bei einer konkreten Gefahr verboten werden kann. Das bleibt problematisch, denn die Konfliktträchtigkeit hat die Lehrerin im Zweifelsfalle nicht in der Hand. Wenn die Schule geübt ist in Diversität, wird eine Lehrerin nie den Schulfrieden stören und wird stets ihr Kopftuch tragen können. An anderen Schulen kann das aber wieder völlig anders sein. Das bleibt ein Problem, das so nicht zu lösen ist. Aber ich denke, der Verweis auf den Einzelfall ist unterm Strich doch sinnvoller als ein pauschales Verbot.

ufuq.de:

Es liegt also im Ermessen der Schulen, ab wann eine konkrete Gefahr für den Schulfrieden vorhanden ist?

Tobias Schieder:

Ja, beziehungsweise bei der zuständigen Schulaufsicht oder beim Dienstherrn der Lehrer*innen. Die Schulen sind ja auch am nächsten dran, sie können die Lage am ehesten bewerten. Scheitern sie gerade daran, einen Konflikt zu moderieren, oder ist er noch mit pädagogischen Mitteln lösbar? Damit herrscht ja noch keine Willkür, denn die Entscheidung bleibt stets gerichtlich überprüfbar. Wenn einer Lehrerin untersagt wird, an einer Schule das Kopftuch zu tragen, dann kann sie sich natürlich dagegen wehren, dafür gibt es die Rechtsweggarantie in unserem Grundgesetz. Dann schaut sich ein Gericht sehr genau an, ob der Schulfrieden überhaupt gefährdet ist und ob diese Untersagung letztlich geeignet, erforderlich und angemessen ist, um den Schulfrieden zu wahren.

ufuq.de:

Für wie hilfreich halten Sie den Begriff „Schulfrieden“ letztlich, wenn wir über Konflikte im pädagogischen Raum sprechen?

Tobias Schieder:

Ich denke, dass der Begriff im pädagogischen Raum nicht sehr hilfreich ist. Er beschreibt die Schwelle, an der die Pädagogik gescheitert ist. Wenn der Schulfriede gestört ist, darf man ordnungsrechtliche Maßnahmen ergreifen. Die Pädagogik aber soll in diesen Bereichen eher vermitteln, auf Toleranz setzen und Schüler*innen und Lehrer*innen darin schulen, miteinander im Geiste der Toleranz umzugehen und Verschiedenheit zuzulassen. Wenn wir von „Schulfrieden“ sprechen, ist die Pädagogik im Grunde gescheitert.

ufuq.de:

Vielen Dank für das Gespräch.

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