… den Antisemitismus bei den „Anderen“ suchen? – Verhältnisbestimmungen mit Blick auf Antisemitismus unter „Muslim*innen“
22. September 2020 | Diversität und Diskriminierung, Geschichte, Biografien und Erinnerung

Obwohl antisemitische Haltungen in allen Teilen der deutschen Gesellschaft zu finden sind, werden Muslim*innen und als muslimisch gelesene Personen häufig als besondere Problemträger*innen beschrieben. Unberücksichtigt bleibt dabei, wie viel Bedeutung Muslim*innen ihrem Glauben selbst zumessen und ob ihre Religiosität tatsächlich mit Antisemitismus in Verbindung steht. Dr. Stefan Hößl hat diese Fragen in seiner Studie „Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen“ untersucht und festgestellt, dass religiöse Bezüge sowohl Anschlussstellen für Antisemitismus bieten als auch Antisemitismus entgegenstehen können.

„Der Antisemitismus ist importiert!“ – ein Slogan, der in der Gegenwart nicht nur von Rechtspopulist*innen verwendet wird, sondern auch in anderen politischen, religiösen und sozialen Zusammenhängen auf Zustimmung stößt. Gemeint ist damit kein Import beispielsweise aus China oder den Niederlanden. Vielmehr ist damit die Vorstellung verknüpft, der Antisemitismus sei ein „migrantischer“ und „muslimischer“ – so als würde es Antisemitismus ohne Zuwanderung nach Deutschland nicht geben. Die generalisierende Vorstellung, „die Muslim*innen“ seien allesamt antisemitisch, hat sich in den letzten Jahren zu einem eigenständigen Topos des antimuslimischen Rassismus in Deutschland entwickelt.

Die Diskussionen in Wissenschaft und gesellschaftlicher Öffentlichkeit über Antisemitismus unter „Muslim*innen“ bewegen sich seit Jahren zwischen zwei Polen. Der erste wurde bereits skizziert: Es wird dramatisiert und übergeneralisiert, Muslim*innen werden als Problemträger*innen, oftmals auch mit Blick auf antisemitische Einstellungen als die Problemträger*innen schlechthin, eingeordnet. Daneben existieren jedoch auch jene, die Antisemitismus unter „Muslim*innen“ tabuisieren, de-thematisieren und darauf verweisen, dass Antisemitismus in allen Schichten der gesamten deutschen Gesellschaft existiert. Sicherlich ist das letztgenannte Argument richtig und wichtig – und allzu oft wird der Verweis auf den Antisemitismus der „Anderen“ dazu genutzt, Probleme nicht „bei sich“ zu suchen. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass alle Studien der Einstellungsforschung der letzten zehn Jahre einhellig zu dem Ergebnis kommen, dass diejenigen, die in den jeweiligen Untersuchungen angaben, muslimisch zu sein, oft deutlich höhere Zustimmungswerte bei den antisemitischen Fragen aufweisen als andere.

Diese Ergebnisse könnten zu der vorschnellen Annahme verleiten, dass es einen einfachen Ursache-Wirkung-Zusammenhang gibt; sprich: dass die Selbstverortung als muslimisch in einem direkten Zusammenhang mit antisemitischen Einstellungen steht. Die Gefahr einer solchen Deutung besteht darin, andere Einflussfaktoren auszublenden: Welche Bedeutung kommt mit Blick auf Antisemitismus den politischen Orientierungen derjenigen zu, die – neben vielem anderen, was sie sind – eben auch Muslim*innen sind. Welches Gewicht haben sozioökonomische oder psychologische Aspekte und der Bildungsstand? Offen bleibt weitgehend, inwiefern das Muslimisch-Sein bezüglich antisemitischer Haltungen überhaupt von Bedeutung sein kann.

„Muslimisch-Sein“ und Antisemitismus: Empirische Perspektiven

Dem letztgenannten Aspekt wendet sich meine im Folgenden vorgestellte Studie zu, die als erste explizit hierauf fokussiert. In ihr wurden 22 Jugendliche im Alter zwischen 17 und 20 Jahren interviewt. Alle definierten sich als Muslim*innen, wobei die Frage zum Gegenstand der Forschung gemacht wurde, inwiefern dieses Muslimisch-Sein für die Interviewten von Bedeutung ist; eben hierauf verweisen in diesem Beitrag die Anführungsstriche bei „Muslim*innen“. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen natürlich eine immens große Diversität in Bezug darauf, welchen Einfluss Religiöses auf das Denken, Wahrnehmen und Handeln der Jugendlichen hat, und inwiefern sie der Religion eine Relevanz zumessen – oder auch nicht.

Mit Fokus auf Antisemitismus zeigte sich, dass dieser keineswegs immer in einem Zusammenhang mit Religiösem steht. Bei einigen der Jugendlichen wurde jedoch deutlich, dass Religiöses in Bezug auf Antisemitismus durchaus von Bedeutung sein kann – und dies in zweierlei Hinsicht: Vor dem Hintergrund religionsbezogener Selbst- und Fremdverortungen und der Wahrnehmung einer religiösen Pflicht zur unbedingten Solidarität gegenüber anderen Menschen, die die Jugendlichen als „Muslim*innen“ identifizieren, finden sich auf der einen Seite wiederkehrend Anschlussstellen für Antisemitismus. Auf der anderen Seite (und dies wurde aufgrund einer starken Defizitorientierung in der Forschung bislang komplett ausgeblendet) zeigt sich bei anderen Jugendlichen der Studie, wie Religiöses – weil die Jugendlichen in einer Art und Weise religiös sind, wie sie es eben sind – Antisemitismus entgegenstehen kann. Auf beide Konstellationen möchte ich anhand von Darstellungen zu zwei Interviewten, dem 18-jährigen Kadir und dem 20-jährigen Ahmet, eingehen.

Fallbeispiel Kadir: „Wir“ gegen „die Juden“

Kadir äußert im Interview, dass er sich manchmal denke, dass Hitler insofern etwas Gutes getan habe, als er „etwas von denen ausgelöscht hat“ – „weil wenn die noch mehr wären, dann würden die noch mehr so Leid da antun.“ Der Jugendliche bezieht sich auf das, was er als israelisch-palästinensischen Konflikt wahrnimmt sowie die Shoah. In dem, was er sagt, dokumentiert sich ein positiver Bezug auf die Ermordung von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus, denn – so die Argumentation – mehr lebende Jüdinnen und Juden heute würden mehr palästinensisches Leid verursachen. „Jüdinnen und Juden“ werden von Kadir in antisemitischer Weise als Kollektiv gedacht, dem ein Potenzial innewohnt, anderen zu schaden. Der 18-Jährige, der 4.000 Kilometer entfernt vom israelisch-palästinensischen Konflikt geboren und aufgewachsen ist sowie keinerlei familiären oder freundschaftlichen Kontakte in die Region hat, positioniert sich gegenüber und in dem Konflikt. Von grundlegender Bedeutung ist dabei seine Selbstidentifikation als „Muslim“ sowie die Fremdidentifikation derjenigen, die er als „Palästinenser*innen“ wahrnimmt, als „Muslim*innen“. An die Vorstellung einer in der Realität so nicht existenten Großgemeinschaft „der Muslim*innen“ sowie die Wahrnehmung einer religiösen Pflicht zur unbedingten Unterstützung dieser, schließen bei Kadir Freund- und Feindbilder an. Kadir äußert: „Das sind halt meine Geschwister im Glauben und ich muss denen helfen. Das ist meine Pflicht. Für Geschwister ist man immer da, für sie muss man alles tun – egal, wie der andere drauf ist.“ Etwaige Fragen nach Schuld sind hier längst beantwortet: Die als Teil der eigenen Gemeinschaft wahrgenommenen „Muslim*innen“ im israelisch-palästinensischen Konflikt werden nur als handlungspassive Opfer imaginiert, „die Jüdinnen und Juden“ als handlungsaktiv Leidbringende und als Täter*innen, woran im Interview zahlreiche antisemitische Stereotype anschließen. Dieselbe Konstellation lässt sich in grundlegender Weise in all jenen Interviews der Studie nachzeichnen, in denen antisemitische Äußerungen getätigt wurden.

Fallbeispiel Ahmet: Religiöser Universalismus steht Antisemitismus entgegen

Im Gegensatz hierzu finden sich bei anderen Jugendlichen wie Ahmet keine auch nur im Geringsten als antisemitismusrelevant zu charakterisierende Äußerungen. Mehr noch: Wenn Ahmet, für den Religion im gesamten Alltagsleben sehr relevant ist, im Interview auf Jüdinnen und Juden, das Judentum oder auch den israelisch-palästinensischen Konflikt zu sprechen kommt, zeigen sich Perspektiven und Haltungen, die in grundsätzlicher Weise mit seinen religiösen Orientierungen in Verbindung stehen; und diese stehen Antisemitismus diametral entgegen. Im gesamten Interview mit Ahmet findet eine religiös gerahmte, emphatisch-universalistische Haltung gegenüber Menschen als Menschen sowie eine Orientierung an Frieden bzw. einem friedlichen Zusammenleben ihren Niederschlag – auch wenn er auf seine Wahrnehmung des israelisch-palästinensischen Konflikts eingeht. Im Mittelpunkt dieser steht bei Ahmet (wie auch in Bezug auf andere Konflikte in der Welt) das „Leiden von Menschen“. Wenn Ahmet von seinem Vorbild Mohammed mit seiner Liebe für alle Menschen spricht oder auf ein von ihm wahrgenommenes Ziel des Islam verweist, das ihm zufolge gerade darin besteht, dass jeder Mensch gegenüber jedem anderen Menschen empathisch-mitfühlende Empfindungen entwickeln sollte, verweist er auf Wesentliches. Derartiges rahmt und strukturiert weite Teile seiner Ausführungen – und ist in Bezug auf die Frage nach Antisemitismus von hoher Bedeutung. Der religiöse Universalismus Ahmets unterminiert die Logik des Antisemitismus an einem entscheidenden Punkt: Ahmet fokussiert auf Menschen als Menschen; und dies unabhängig von einer Identifizierung dieser über ihre gesellschaftliche Positionierung oder nationale bzw. religiöse Zugehörigkeiten. Einseitige, verkürzte Opfer-Täter*innen-Bestimmungen und Solidarisierungen, wie sie bei jenen, die sich antisemitisch äußern, von herausgehobener Bedeutung sind, sind hier nicht anschlussfähig.

Dass in der bisherigen Forschung solcherlei religionsbezogene Potenziale gegen Antisemitismus, wie sie unter anderem bei Ahmet erkennbar sind, nahezu gänzlich ausgeblendet wurden, erscheint dramatisch – insbesondere auch mit Blick auf die Möglichkeiten einer ressourcenorientierten antisemitismuskritischen Bildungsarbeit in muslimischen Kontexten.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Seite anders-denken.info. Wir danken der Seite und dem Autor für ihre Erlaubnis, den Beitrag hier zu veröffentlichen.

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