Wie kann man Jungen* empowern?
10. Oktober 2024 | Gender und Sexualität

Symbolbild; Bild: Rhendi Rukmana/unsplash

Wir alle leben in patriarchal geprägten Strukturen und Mustern. Warum ist Empowerment für Jungen* wichtig? Was braucht es, damit insbesondere muslimisch bzw. migrantisch gelesene Jungen* in ihrer Entwicklung gestärkt werden? Und welche Rolle spielen dabei sozialer Druck und Emotionen? In unserer Podcastfolge sprechen wir darüber mit Anand Subramanian und Max Schneider vom Verein Gesicht Zeigen!.

Das Kompetenznetzwerk „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX) ist ein Zusammenschluss der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus (BAG RelEx)Violence Prevention Network und ufuq.de. Gemeinsam geben sie den Podcast KN:IX talks heraus, um unterschiedliche Fragen der Präventions- und Distanzierungsarbeit in Deutschland und international zu beleuchten. Die Podcasts geben Praxiseinblicke in die Islamismusprävention und deren Methoden und Ansätze. Für ufuq.de verantwortet Judith De Santis den Podcast.

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Transkription der Folge

(Musik im Hintergrund)

Max Schneider:

Das engste Umfeld ist die Familie und da habe ich bestimmte Rollenvorbilder, als junger Mann* meistens zum Beispiel den Vater, den Bruder, den Opa. Dann gehe ich in die Schule und sehe dort meine Lehrkräfte und meine Mitschüler und frage mich, wie ich mich verhalten soll als junger Mann*. Hinzu kommen noch soziale Medien, wo bestimmte Männlichkeiten, die eben sehr maskulin sind, gezeigt werden.

Anand Subramanian:

Warum steht immer die Migrationsgeschichte oder der Migrationshintergrund im Mittelpunkt? Ich kann nachvollziehen, dass Jugendliche, die eine Migrationsgeschichte haben, sehr oft als Repräsentanten einer ganzen Community gesehen werden. Das sehe ich als eine riesige Last. Denn du wirst, ob gewollt oder nicht, in eine Ecke gedrängt, wo du dich positionieren musst, wo du für eine ganze Community einen Standpunkt einnehmen musst.

(Musik Intro KN:IX talks)

Charlotte Leikert (Intro KN:IX talks):

Herzlich willkommen zu KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismusprävention. Bei KN:IX talks sprechen wir über das, was die Präventions- und Distanzierungsarbeit in Deutschland und international beschäftigt. Für alle, die in dem Feld arbeiten oder immer schon mehr dazu erfahren wollten: Islamismus, Prävention, Demokratieförderung und politische Bildung. Klingt interessant? Dann bleiben Sie jetzt dran und abonnieren Sie unseren Kanal. KN:IX talks: Überall da, wo es Podcasts gibt.

(Musik Intro KN:IX talks)

Judith De Santis (KN:IX):

Hallo, herzlich willkommen zur 26. Folge von KN:IX talks. Mein Name ist Judith De Santis und ich verantworte die Folgen für ufuq.de. Schön, dass Sie zuhören. Die neunte Staffel von KN:IX talks dreht sich um Genderaspekte in Radikalisierung und Prävention. Die Kolleginnen vom Violence Prevention Network haben mit Folge 25 den Auftakt gemacht und sich zunächst angeschaut, wie eine gendersensible Praxis in der Präventions- und Distanzierungsarbeit gelingen kann. Die Folge der BAG RelEx diskutiert dann die Frage, inwiefern Radikalisierungsprozesse von Frauen eigentlich als Empowerment gesehen werden können. Über Empowerment sprechen wir heute auch, aber im Kontext von Jungen*arbeit.

Der Begriff wird oft mit Sternchen verwendet, um binäre Kategorisierungen zu vermeiden. Die Nennung des Sternchens am Ende von Geschlechtsbezeichnungen drückt dabei das Unwissen aus, ob die Geschlechtsbezeichnung immer auch der Selbstaussage der Menschen entspricht. Um den Redefluss im Podcast zu vereinfachen, habe ich mich als Moderatorin dennoch gegen die Nennung des Sternchens beim Reden entschieden. Dies spiegelt jedoch nicht meine persönliche Haltung wider, die eine Verwendung des Sternchens am Ende von Geschlechtsbezeichnungen aus zuvor genannten Gründen befürwortet.

Empowerment für Jungen*? Braucht es das in einer patriarchal geprägten Gesellschaft, in der Jungen* und Männer* zahlreiche Privilegien haben? Ja, braucht es unbedingt, denn Jungen* haben im Patriarchat Probleme, die es pädagogisch aufzufangen gilt. In dieser Folge geht es dabei mehrheitlich um muslimische Jungen* bzw. Jungen*, die als muslimisch gelesen werden. Zu diesem Thema habe ich heute zwei Gäste da: Max Schneider und Anand Subramanian arbeiten als Bildungsreferenten im Empowerment-Projekt „Die Freiheit, die ich meine“ des Vereins Gesicht Zeigen! im Bereich der Jungen*arbeit. Sie bieten Workshops für mehrheitlich muslimische Jungen* an Berliner Schulen an. Darüber hinaus führen sie Lehrkräfte-Fortbildungen durch und bieten Workshopreihen für Eltern an.

Hallo Anand, hallo Max. Schön, dass ihr heute hier seid.

Anand Subramanian:

Hallo Judith.

Max Schneider:

Hallo Judith. Wir freuen uns, heute hier zu sein.

Judith De Santis (KN:IX):

Was bedeutet Jungen*arbeit? Warum ist die wichtig?

Max Schneider:

Für mich persönlich bedeutet Jungen*arbeit, dass man – wie auch bei Mädchen*arbeit – einen Raum aufmacht für junge Menschen, die sich männlich identifizieren, die männlich sozialisiert sind. Das ist wichtig, um ihnen in einer Phase der Entwicklung einen Raum zu geben, um kontrovers, kritisch und emotional über Themen zu sprechen. Ich glaube, das war schon immer wichtig, aber heutzutage ist es das besonders, da gerade auch junge Männer*, genauso wie junge Frauen* oder als weiblich gelesene Personen, unter einem enormen Druck stehen. Ich bin jetzt 31 und die jungen Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, sind 13, 14, 15. Und wenn man mitkriegt, mit welchen Informationen die konfrontiert werden – digital, aber auch in der analogen Lebenswelt – dann ist das eine Menge. All dem einen Ort zu geben, wo sie es aussprechen können, wo sie denken, reflektieren und andere Perspektiven bekommen können, ohne den Zwang zu haben, ganz bestimmte Meinung zu übernehmen, das bedeutet Jungen*arbeit für mich.

Anand Subramanian:

Für mich hat Jungen*arbeit auch einen persönlichen Bezug. Als ich angefangen habe, diese Arbeit zu machen, also komplexe Themen in einem sicheren Raum besprechbar zu machen, wurde mir klar: Als ich Jugendlicher war, hätte ich auch gerne so eine Konstellation gehabt. Einfach ohne Druck über Themen zu sprechen. So definiere ich auch Jungen*arbeit für mich: über komplexe Themen mit Spaß und ohne Druck reden zu können.

Judith De Santis (KN:IX):

Worin besteht denn genau dieser Druck? Stichwort Männlichkeitsvorstellungen. Könnt ihr das näher ausführen?

Anand Subramanian:

Ich sehe um mich herum Jungen* in der Peergruppe oder auch erwachsene Männer*, die ich in meinem Leben habe. Das fängt ja mit der Familie an, sehr unbewusst, mit meinem Vater, meinem Opa, meinem älteren Bruder. Danach kommt meine Peergruppe und in der Schule habe ich die männlichen Lehrkräfte. Ich sehe, dass es vielleicht ein Muster ergibt, wie ich mich als Junge* zu verhalten zu habe. Zum Beispiel sehe ich sehr oft, dass mein Vater derjenige ist, der mit seinen Emotionen nicht wirklich offen ist und denke dann, ich muss mich genauso verhalten. Obwohl ich in manchen Momenten das Bedürfnis habe, meine Emotionen rauszulassen. Aber ich habe gesehen, dass es nicht getan wird. Und darauf folgt ein Muster; das ist dann der Druck, wo ich versuche, mein Ich zu unterdrücken und einfach so zu sein, wie die Anderen um mich herum.

Max Schneider:

Anand hat das ja gerade ganz schön beschrieben, aus einer familiären Perspektive heraus. Also das engste Umfeld ist die Familie, und da habe ich bestimmte Rollenvorbilder, als junger Mann* meistens zum Beispiel den Vater, den Bruder, den Opa. Dann gehe ich in die Schule und dort sehe ich meine Lehrkräfte. Und dann sehe ich meine Mitschüler und frage mich, wie ich mich verhalten soll als junger Mann*. Dann kommen heutzutage – und ich glaube, das ist ein nicht zu unterschätzender Faktor – soziale Medien dazu. Dort werden wahnsinnig viele Videos gespielt, in denen es um Männlichkeit und Maskulinität geht und wo häufig bestimmte Männlichkeiten – wir sagen das bewusst im Plural, weil es uns nicht darum geht, zu sagen, es gibt die eine Männlichkeit und die ist richtig, sondern es gibt unterschiedliche – die sehr maskulin sind, gezeigt werden.

Judith De Santis (KN:IX):

Zum Beispiel? Was werden da für Männlichkeiten gezeigt?

Max Schneider:

Wir haben uns letztens solche Videos angeguckt, in denen es zum Beispiel darum geht, dass Männer* gemeinsam an einem See sind, oberkörperfrei, und dann sportliche Aktivitäten machen, Eisbaden oder Holzhacken, also so ein klischeehaft männliches Verhalten. Da wird viel thematisiert, wie du als junger Mann* stark sein sollst, aber auch, wie du dich in Bezug auf Frauen* verhalten sollst. Ich glaube, es ist in jedem Fall eine gewisse Anziehung zu solchen Videos bzw. Themen da. Und dann bist du in der Schule und – das hat Anand ja schon beschrieben – auf einmal in einem Kollektiv und auch dort herrscht ein Gruppendruck. Was wir immer sehen in der Arbeit mit Jugendlichen: Gruppensituationen, Peer Pressure, soziale Erwünschtheit sind unfassbar wirkmächtig.

Wenn du dann ein bestimmtes Verhalten zeigst, sehen wir, dass die Abgrenzung bei Jugendlichen ganz stark ist. Bei uns ist zum Beispiel das Thema ganz stark, dass man nicht homosexuell sein will, dass man auf eine bestimmte Art und Weise männlich sein will, dass das ganz wichtig ist für die Identitätsbildung als Mann*. Da ist die Frage: Wie können wir andere Perspektiven aufzeigen? Und zwar ohne zu sagen, du bist irgendwie falsch, wenn du so denkst. Sondern aufzuzeigen, okay, wie können wir das Thema Homosexualität – das übrigens alle Jugendlichen betrifft – für uns fassbar machen? Es ist völlig okay, wenn du sagst, du willst selber nicht homosexuell sein. Aber wo ist die Abwertung, die du triffst? Findet die nur statt, um dich selbst aufzuwerten oder weil du glaubst, dass man das machen muss, um ein Mann* zu sein? Da ist die spannende Frage: Inwiefern kann man andere Perspektiven anbieten, die das Gefühl von ‚ein Mann zu sein‘ funktioniert immer nur darüber, wenn ich dieses klischeehaft Männliche verkörpere, was nicht weiblich ist, nicht homosexuell, immer arbeiten geht, aufbricht, ohne dabei die Werte, die die jungen Menschen haben, zu verletzen oder in Frage zu stellen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir müssen unterscheiden zwischen sozialem Druck, sozialen Zugehörigkeitswünschen, Werten, die junge Menschen haben, und der Sozialisierung, die sie erleben. Da müssen wir sehr gut differenzieren.

Und da wird es auch interessant, wenn wir zum Beispiel über die Abwertung von Gruppen reden. Denn da funktioniert es auf einmal nicht mehr, dass man sagt, die ganzen migrantisch gelesenen Jugendlichen sind jetzt das Problem. Das ist einfach Quatsch, denn da merkt man, dass es alle jungen Menschen betrifft. Bei den einen – da kommt wieder das Wort Druck mit rein – herrscht ein anderer Diskurs vor und deswegen ist da der Druck größer. Migrantisch gelesene Jugendliche stehen in unseren Diskursen und in der Öffentlichkeit sehr stark unter Druck und werden immer sehr schnell ins Visier genommen als ‚Problemmacher‘, was ich für sehr fragwürdig halte. Ich will gar nicht sagen, dass es keine Probleme oder Herausforderungen gibt, aber die gibt es grundsätzlich bei Jugendlichen und die kann man nicht auf eine Gruppe reduzieren. Das halte ich für sehr unpräzise.

Judith De Santis (KN:IX):

Wie würdet ihr die Ziele von Jungen*arbeit für euch zusammenfassen?

Anand Subramanian:

Die Themen, über die wir mit den Jugendlichen reden, auch wenn wir das aus einer Erwachsenenperspektive heraus sehen, sind wirklich komplex. Ich kann einfach einen Begriff wie Männlichkeit raushauen, aber da fällt es ihnen auf einmal schwer, im Sinne von, ah, okay, ich muss mal überlegen, was Männlichkeit eigentlich bedeutet und was ich damit assoziiere. Deshalb ist für mich das Ziel, komplexe Themen auf Augenhöhe besprechbar zu machen und dadurch einen Raum für Perspektivenvielfalt zu öffnen, die nachhaltig wirkt. Mein Ziel ist nicht, am Ende eines Workshops ein messbares Ziel mitzunehmen. Das halte ich für unrealistisch. Nach 90 Minuten kann ich nicht erwarten, dass ich die Denkweise eines jungen Menschen von einem Extrem zu einem anderen Extrem verändert habe. Das ist nicht möglich. Aber was wir versuchen ist, zu sehen, was die Positionierung angeht: Ist man für sich selbst von einem Schritt zum nächsten gekommen? Hat man seine eigenen Denkweisen hinterfragt und ist man daraufhin zu einem anderen Standpunkt gekommen? Nicht, weil wir das gesagt haben. Aber weil Perspektivenvielfalt im Raum entstanden ist. Das sehe ich als ein wichtiges Ziel.

(Musik)

Judith De Santis (KN:IX):

Ihr arbeitet mehrheitlich mit muslimischen Jungen* oder Jungen*, die als muslimisch gelesen werden. Welchen Schwierigkeiten sind muslimische Jungen* ausgesetzt?

Max Schneider:

Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Ich denke, dass muslimische Jugendliche, mit denen wir bis jetzt zusammengearbeitet haben, sehr ähnliche Probleme und Herausforderungen haben, wie nicht-muslimische Jugendliche. Die machen sich auch Gedanken über Beziehungen, Geldverdienen, ihr Aussehen, ihre Familie, ihre Hobbys, aber auch über Gott und die Welt. Muslimisch gelesen oder muslimisch sozialisiert heißt nicht immer, dass sie mega religiös sein müssen. Das ist nochmal wichtig zu erwähnen. Wir sind ja eine mehrheitlich christliche Gesellschaft und viele von uns sind auch christlich sozialisiert, aber werden nicht direkt als sehr religiös wahrgenommen. Ich vermute schon – und da spreche ich nicht aus eigener Erfahrung, denn ich habe keine Migrationsgeschichte – wenn du in einer Familie aufwächst, wo deine Eltern oder deine Großeltern irgendwann mal aus einem anderen Land hergekommen sind, dann hast du natürlich den Wunsch, bestimmte Dinge zu erhalten, die wichtig sind für die Familie, die einen Wert haben. Da sind wir wieder bei den Werten, die ein wichtiger Punkt für unsere Arbeit sind. Manche Werte wollen vielleicht erhalten werden, die teilweise ein bisschen anders sind als die Werte, die viele Menschen in der Mehrheitsgesellschaft haben. Letztens haben wir mit unseren Jugendlichen über die Frage geredet, wie für sie eine ideale Partnerin aussieht. Und dann sagte einer, der aus einer muslimisch geprägten Familie kam, naja, meine Frau trägt jetzt idealerweise nicht so super enge Klamotten. Für mich ist das wichtig, dass das ein bisschen lockerer ist. Einfach, weil er es so kennt. Das ist ein schönes  Beispiel, an dem man sieht, es sind unterschiedliche Prägungen, unterschiedliche Wertevorstellungen. Das heißt aber nicht – um das negative Stigma nochmal zu dekonstruieren – dass dieser junge Mann* der Meinung ist, dass alle Frauen* so sein müssen. Das war er nämlich gar nicht. Er war da extrem tolerant. Er hat einfach nur gesagt, das ist meine Vorstellung.

Das heißt, es gibt bestimmte Prägungen, die die Jugendlichen haben, die aus der Familie kommen. Dann gehen sie auf einmal in die Schule und die Schule ist sehr mehrheitsgesellschaftlich geprägt, sehr geprägt durch Normen, durch Gesetze, durch Vorschriften. Und auf einmal erleben sie, dass es Widersprüchlichkeiten gibt zwischen dem, was sie vielleicht Zuhause mitkriegen und erleben und dem, was in der Schule passiert. Und in beiden Räumen, sowohl Zuhause als auch in der Schule, haben sie einen Anpassungsprozess, den sie die ganze Zeit durchlaufen. Sie wollen in der Familie dazugehören, denn das ist das Wichtigste. Sie wollen aber auch in der Schule dazugehören. Und als drittes kommt dann noch die Gesellschaft hinzu, also der gesellschaftliche Blick, wo dann auch die Politik ganz stark mit reinkommt. Die wirkt natürlich extrem in Schule hinein und da ist natürlich schon ein problematischer Blick da, gerade wenn es um migrantisch oder muslimisch gelesene Jugendliche geht. Das müssen wir ganz klar benennen. Diese Diskurse sind häufig sehr negativ geprägt und dann ist wieder die Box da, in die sie ein Stück weit reinpassen sollen. Aber es ist vielschichtiger und komplexer als das. Wir helfen den Jugendlichen nicht, wenn wir sie in diese Box reintun. Das ist so ein bisschen das, was ich mit dem gesellschaftlichen Druck meine. Wir sprechen auch mit unseren Jugendlichen darüber, dass sie manchmal auf eine bestimmte Art und Weise gesehen werden. Das wissen sie auch selber. Sie merken, wie über ‚den Islam‘ geredet wird. Sie merken, wie über geflüchtete Menschen geredet wird. Sie kriegen diese Diskurse mit. Umso stärker wird für sie dann auch der Anpassungsdruck in der Schule.

Anand Subramanian:

Wenn ich da ergänzen darf: Ich finde es vom Kontext her relevant zu erwähnen, dass ich selber ein Migrant bin. Ich wohne erst seit knapp über vier Jahren in Deutschland und ich habe mir immer die Frage gestellt: Warum steht immer die Migrationsgeschichte oder der Migrationshintergrund im Mittelpunkt? Ich kann nachvollziehen – damit meine ich nicht rechtfertigen – dass sehr oft Jugendliche, die eine Migrationsgeschichte haben, als Repräsentanten einer ganzen Community gesehen werden. Das sehe ich als eine riesige Last. Denn du wirst, ob gewollt oder nicht, in eine Ecke gedrängt, wo du dich positionieren musst, wo du für eine ganze Community einen Standpunkt einnehmen musst. Du hast ja schon den Punkt erwähnt, dass wir überwiegend mit Jugendlichen arbeiten, die sich der Glaubensrichtung Islam zugehörig fühlen. Trotzdem ist jeder junge Mensch divers. Sie mögen in den Workshops zwar eine homogene Gruppe sein, aber trotzdem herrscht da eine Heterogenität, was die eigene Beziehung zu Religion angeht.

(Musik)

Judith De Santis (KN:IX):

Wie vermeidet ihr es, die Jungen*, mit denen ihr arbeitet – wenn ihr sagt, es sind mehrheitlich muslimische Jungen* oder Jungen* mit Migrationsgeschichte – nicht der Stigmatisierungsgefahr auszusetzen? Also dass sie sich nicht als Problemgruppe fühlen oder sehen? Wenn ihr sagt, wir machen jetzt ein Angebot für euch, denn wir müssen euch in irgendeiner Art und Weise unterstützen, könnte ja der Eindruck entstehen, dass irgendetwas korrigiert werden muss. Wie geht ihr damit um?

Anand Subramanian:

Das ist eine ganz wichtige Frage. Unser Ansatz in den Workshop ist immer, empowernd zu denken. Wir denken Richtung Empowerment. Deshalb finde ich auch es wichtig, zu erwähnen, dass junge Menschen mit oder ohne Migrationsgeschichten Empowerment brauchen. Ich kann mich in vielen der Jugendlichen wiedererkennen, als ich 14, 15 Jahre alt war. Ich bin in Indien geboren und aufgewachsen. Doch in diesem Alter gibt es viele Überschneidungen, die eher altersbezogen sind und weniger die Kultur oder die Religion betreffen.

Wir achten auf die Lebensrealitäten der Jugendlichen. In unseren Workshops reden wir in einem Modul über Religion, über Vielfalt der Religionen, Vielfalt innerhalb des Islams. Aber das nur ein Schwerpunkt. Zum Beispiel haben wir auch das Modul „Demokratie und Partizipation“. Das ist auch ein sehr wichtiges Modul, denn da geht es auch um die eigenen Diskriminierungserfahrungen und wie man sich als betroffene Person dagegen einsetzen kann. Auch Klassismus ist ein Thema, über das wir in einem Modul sprechen. Wir sehen viele Jugendliche, mit und auch ohne Migrationshintergrund, die davon betroffen sind. Und in einem Raum, wo eine heterogene Gruppe ist, da stellen wir Fragen, und diejenigen, die zu Wort kommen wollen, erzählen von ihrer Lebensrealität. Beim Stichwort Klassismus stellen sie fest: Hey, es ist egal, ob du einen türkischen Hintergrund hast oder ich einen deutschen, was dieses Thema angeht, haben wir dieselben Probleme. Dadurch entsteht ein Zusammendenken. Wenn du in einer kapitalistischen Gesellschaft lebst, kannst du von denselben Problemen betroffen sein, egal was du für einen Hintergrund hast. Wir machen das besprechbar. Dadurch entstehen Diskussionen und hoffentlich auch sehr, sehr kleinschrittige mögliche Lösungen, die für sie, in ihrem Umfeld, umsetzbar sind. Dadurch hoffen wir, diese Stigmatisierung zu bekämpfen.

Judith De Santis (KN:IX):

Wie labelt ihr denn eure Workshops? Also welchen Titel gebt ihr so einem Workshop?

Max Schneider:

Wir sagen, wir sind das Projekt „Die Freiheit, die ich meine“ und wir wollen die nächste Zeit mit euch ins Gespräch kommen. Wir wollen mit euch einen Raum eröffnen, um über Gedanken, Gefühle, Zweifel, aber auch Teamgeist zu sprechen. Also es ist nicht immer nur so: Heute reden wir über Diskriminierung, schweres Thema. Das hat natürlich einen ganz lockeren Ansatz. Wie gesagt, wir gehen nicht rein und signalisieren ihnen sozusagen, dass wir jetzt hier sind, weil sie muslimisch sozialisiert oder geprägt oder gelesen sind, sondern wir gehen rein und formulieren das anders.

Judith De Santis (KN:IX):

Dann beschreibt doch mal eure Arbeitsweise in der Jungen*arbeit an Schulen. Wie läuft so ein Workshop ab?

Max Schneider:

Wir bringen immer eine Frage mit, die schon einen Hinweis auf das Thema gibt, das heute besprochen wird. Als wir über Religionen sprachen, haben wir zum Beispiel die Frage gestellt: Braucht der Mensch Religion oder braucht Religion den Menschen? Eine relativ philosophische Frage, die nicht so einfach zu beantworten ist, aber spannend. Zumal Religion ja auch etwas mit Glaube zu tun hat. Glaube kann man auch wieder allgemeiner fassen. Wir sprechen nicht nur über die Bibel oder den Koran, sondern es geht wirklich auch um Glaubens- und Gewissensvorstellungen.

Wir beginnen mit dieser Frage des Tages und dann folgt meistens der Einstieg in den hauptinhaltlichen Block. Dann kommt es immer darauf an, welche Methode wir nehmen wollen. Wir sind ein Projekt, in dem wir gerne diskutieren und ins Gespräch gehen. Wir bringen Reflexionsfragen mit und gehen dazu ins Gespräch. Über Religion kann man sehr schön diskutieren. Da haben wir unterschiedliche Fragen, die wir stellen können. Man kann das auch über andere Methoden machen. Wir haben zum Beispiel ein Spiel, das nennt sich das Ja-Nein-Spiel. Jeder Teilnehmer oder jede Teilnehmerin bekommt eine Ja-Karte und eine Nein-Karte in die Hand. Dann wird eine Moderationsfrage gestellt. Zum Beispiel: Findest du, dass Deutschland ein christlich geprägtes Land ist? Das kann auch ein Moment sein, um einen Einstieg zu finden. Danach gehen wir sehr gerne in die Diskussion. Wir benutzen auch gerne ein digitales Tool, Mentimeter zum Beispiel, wo die Jugendlichen dann auch ihre Handys nutzen und über das Tool anonym Umfragen beantworten können, um so ein bisschen den sozialen Druck zu nehmen. Wir machen bieten ihnen zum Beispiel zur Frage „Braucht der Mensch Religion?“ unterschiedliche Antwortmöglichkeiten an, über die sie abstimmen können.

Anand Subramanian:

Vor allem, wenn wir in die Diskussionsphasen gehen, haben wir für uns entschieden, dass es gewinnbringend sein könnte, die jungen Menschen nicht immer wieder zu challengen. Wir wollen sie zwar herausfordern, aber das kann man auch tun, indem man immer wieder Nachfragen zu ihren Meinungen stellt. Wir haben gesehen, dass, wenn man weitere Nachfragen stellt, die Jugendlichen manchmal den Punkt erreichen, wo sie sagen: „Weißt du was, ich kenne mich damit nicht so gut aus.“ Währenddessen passiert genau dieser Perspektivenwechsel. Aber parallel haben die Jungen* auch das Gefühl, hier wird mir zugehört, hier wird meine Meinung gehört. Nicht sofort ja oder nein, richtig oder falsch. Das ist wichtig, denn nur dadurch entsteht ein Raum, in dem viele Meinungen ausgetauscht werden können. Es kommt sehr darauf an, wie man eine Diskussion führt. Wenn man eine Diskussion auf Augenhöhe führt und nicht sofort jemandem ins Wort fällt und sagt „Das darfst du nicht sagen“, sondern ihnen Alternativen zur Verfügung stellt, also zu sagen „Ich höre dir zu, aber aus meiner Perspektive ist es so und so und daher wäre es wünschenswert, dass du vielleicht auch aus der Perspektive denkst und mal versuchst, das, was du sagen möchtest, ein bisschen anders zu formulieren.“

Zum Abschluss führen wir nochmal diese Mentimeter-Umfragen durch. Denn, wie Max schon erwähnt hat, wollen wir diesen Positionierungsdruck vermeiden. Dadurch, dass es anonym ist und dass es nicht nur ja oder nein gibt. Als wir zum Beispiel das Thema Geschlechtergerechtigkeit und über Männer*- und Frauen*rollen diskutiert haben, haben wir die Aussage in den Raum gestellt: „Als Mann ist es auch wichtig, über Emotionen zu reden. Das macht mich nicht schwach.“ Dazu gab es vier Antwortmöglichkeiten. Max macht das immer gut, auch die Sprache der Jugendlichen zu nutzen. Zum Beispiel ist eine Antwortmöglichkeit: „Ja, voll Bock, Bruder. Genau das meine ich.“ Die zweite ist: „Hm, schwierig. Darüber muss ich nachdenken“ und die dritte: „Ja, das stimmt. Aber es ist schwierig in der Gesellschaft.“ Eine weitere Antwortmöglichkeit ist: „Nein, darüber darf man nicht reden.“ So haben sie die Wahl, sich in vier unterschiedlichen Stufen zu positionieren. Denn unsere Jugendlichen sind auch der Meinung, es gibt nicht immer ja oder nein. Sie sagen, man kann nicht alles schwarz oder weiß sehen, es gibt auch eine Grauzone.

Zu sehen, wie sie sich positionieren, ist für uns ein Feedback: Hat eine Reflexion stattgefunden? Wie gesagt, ich erwarte nicht, dass auf einmal eine 180 Grad-Wende geschieht im Sinne von „ab morgen rede ich über meine Emotionen“. Das wäre unrealistisch. Aber wenn sie sich positionieren bei „darüber muss ich nachdenken“, heißt das für uns, dass eine Reflexion stattgefunden hat.

Judith De Santis (KN:IX):

Wie geht ihr damit um, wenn die Jugendlichen mal einen sexistischen Spruch äußern, den sie lustig finden oder lustig meinen? Also ein unbeabsichtigtes, nicht böswilliges, sexistisches Verhalten. Wie setzt ihr da die Grenzen?

Anand Subramanian:

Wenn wir das Thema Männer*bild, Frauen*bild und natürlich auch Sexismus besprechen, kommen manchmal auch krasse Aussagen. Und wir haben heute ja auch über Druck und über Vorbilder, also erwachsene Männer* als Vorbilder, geredet. Und ich als Referent und als erwachsener Mann habe für mich entschieden, dass unsere Arbeit auch sehr stark auf Beziehung basiert. Denn ich muss zugeben, dass ich mit 14, 15 Jahren auch solche sexistischen Meinungen und Gedanken hatte. Ich habe auch solche Sprüche rausgehauen. Und das sage ich den Jugendlichen dann auch. Hey, in dem Alter ist es mir auch passiert. Und ich versuche ihnen kurz über meine Biografie zu erzählen. Nicht um etwas zu rechtfertigen, sondern zu erzählen, was meine Meinung mit 14, 15 Jahren rund ums Thema Frauen*bild war. Dann sage ich ihnen, dass ich das auch cool fand. Aber auch, warum sich meine Meinung im Laufe der Zeit geändert hat. Die Wirkung ist, dass die Jugendlichen auf einmal zuhören und denken, krass, der war auch nicht perfekt. Dass sie einfach wissen, ich bin auch nicht reflektiert geboren. Ich habe im Laufe der Zeit auch Unterstützung von unterschiedlichen Menschen gehabt, die mir geholfen haben, meine Perspektiven und Meinungen zu ändern. Das ist das erste.

Das zweite ist: Natürlich, wenn solche menschenverachtenden Aussagen im Raum stehen, ist es für uns ganz wichtig, dass wir das nicht einfach so im Raum stehen lassen. Das wäre das Allerschlimmste, was wir tun können. Wir überlegen uns in dem Moment, okay, sind wir fast am Ende des Workshops, würde es Sinn machen, das Thema komplett zu öffnen? Oder nehmen wir das Thema mit und bauen daraus für die nächste Sitzung eine komplette Stunde? Weil wir finden, dass es unbedingt behandelt werden muss. Und so etwas Ähnliches haben wir auch rund um das Thema Sexismus und frauenverachtende Aussagen gemacht. Da haben wir versucht, mit Biografien zu arbeiten. Wir haben uns überlegt, hey, würde es Sinn machen, eine Frauenperspektive reinzubringen, mit einer Frauenstimme? Wir haben uns einen Audiowalk überlegt, in dem wir drei unterschiedliche Geschichten als einen Podcast erstellt haben, mit Musik und ganz exklusiv für die Schule gemacht. Die Idee war, dass jede*r mit Kopfhörern in sich hinein geht. Denn wenn man in einer offenen Gruppe über solche Themen diskutiert, hat man sehr oft die Wortführenden, die immer den Ton angeben. Auch wenn es einige gibt, die anders denken, trauen sie sich nicht, zu sprechen.

Wir hatten zum Beispiel eine Geschichte rund um das Thema Liebe. Einmal Liebe als eine nicht sexualisierte Emotion, einmal Liebe aus einer queeren Perspektive, die wieder nichts mit Sex zu tun hat, und einmal über eine Frau als Mensch, was wieder nichts mit Sex zu tun hat. Warum haben wir das gemacht? In der Gruppe war der Bedarf, denn wir hatten festgestellt: Liebe wurde nur mit Sex verbunden. Das wollten wir dekonstruieren. Eine Kollegin von uns hat die Audioaufnahme für uns gemacht. Also in der eine Frau die eigene Erfahrung mit sexistischen Sprüchen erzählt. Danach sind wir in eine Diskussion gegangen. Wie hast du die Geschichte empfunden, wenn das auf einmal eine Frau aus ihrer Perspektive erzählt? Natürlich, einerseits kam: Ja, stimmt schon, dass es vielleicht keinen Sinn macht, Frauen zum Beispiel nur aufgrund ihrer Kleidung moralisch abzuwerten. Doch andererseits hat auch nicht die erwünschte Reflexion stattgefunden. Das muss ich zugeben. Aber das ist die Art und Weise, wie wir damit umgehen. Dass wir das nicht im Raum stehen lassen, sondern versuchen, aus den Inhalten, die die Jugendlichen uns geben, noch einmal mit einer anderen Methodik eine andere Perspektive anbieten. Denn wir merken, dass es ein langwieriger Prozess ist.

Ich denke, dass wir in der einen Gruppe diese Denkanstöße gegeben haben, die sie bis zu unseren Workshops auf keinen Fall hatten. Ich bin mir relativ sicher. Und ich bin mir sicher, dass sie im Laufe der Zeit darüber nachdenken werden. Vielleicht denken sie in zwei, drei Jahren, ja, ich hatte dazu einen Workshop und da haben wir darüber geredet. Jetzt kann ich damit etwas anfangen.

Judith De Santis (KN:IX):

Das heißt, in der Jungen*arbeit oder in euren Workshops geht es nicht darum, Männlichkeit neu zu definieren und so und so müsste ein Junge* sein. Sondern ihr eröffnet Räume, um eine Reflexionsfähigkeit oder Aushandlungs- bzw. Abwägungsfähigkeit zu fördern?

Anand Subramanian:

Genau. Natürlich ist da nochmals die Frage, was toxische Männlichkeit ist. Wir reden ja über ein sehr, sehr gesellschaftsrelevantes Thema. Da ist in erster Linie auch Aufklärungsarbeit wichtig. Warum ist diese Form von Männlichkeit toxisch? Wann wird es toxisch? Wir versuchen, dass die Jugendlichen ein bisschen darüber reflektieren. Dass es in erster Linie toxisch ist, wenn es mir persönlich schadet. Und zweitens: Es schadet direkt den Frauen* oder Mädchen*. Und, the big picture, der ganzen Gesellschaft wird auch geschadet. Es ist ein Teufelskreis. Wir erklären, dass es auch andere Männlichkeiten geben kann. Dass diese Männlichkeit nicht rein negativ ist. Also, du darfst sehr gerne ins Fitnessstudio gehen, du darfst gerne fit bleiben. Das ist ja auch schön. Aber andererseits, du darfst auch gerne über deine Emotionen reden.

(Musik)

Judith De Santis (KN:IX):

Welche Chancen und Herausforderungen birgt geschlechtergetrenntes, also binäres Arbeiten, das ihr durchführt?

Max Schneider:

Die Chance ist, dass man die Jugendlichen, sowohl in den Mädchen*- als auch in den Jungen*gruppen, ein Stück weit in ihrer Lebensrealität abholt. In unseren Workshops machen wir die Erfahrung, dass die meisten jungen Menschen sich mit ihrem Cis-Geschlecht – also das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht – identifizieren und sich heterosexuell orientieren. Die Chance ist hier, dass man über dieses binäre Vorgehen Räume aufmachen kann, um dann darüber zu sprechen: Geschlecht, Gender, sexuelle Orientierung. Die meisten Jugendlichen wissen häufig gar nicht – kommt auch darauf an, manche wissen es schon, manche haben sich da viel informiert – aber viele wissen auch gar nicht, was ist jetzt der Unterschied? Manche denken zum Beispiel, Transmenschen sind Transvestiten. Da gibt es einfach viel Unwissen, wo wir dann ein Stück weit aufklären können. Ich glaube, da bietet es eine Chance.

Die Herausforderung ist natürlich, wie machen wir einen Raum für Menschen auf, die sich zum Beispiel non-binär identifizieren? Da haben wir noch nicht die perfekte Lösung gefunden. Unser Wunsch ist es, langfristig auch wieder ein Stück weit aus dem Binären raus zu gehen und die Räume wieder ein bisschen zusammenzuführen. Da ist dann die Frage, wie wir das machen. Vielleicht nicht über ein ganzes Halbjahr, aber dass man auch Jungen-Sternchen und Mädchen-Sternchen, also jetzt bewusst auch mit dem Sternchen genannt, adressiert. Manchmal gibt es auch Schüler*innen, die wissen das schon. Die sagen, ich bin non-binär. Das hatten wir in unseren Jungen*gruppen bisher noch nicht. Wir wissen aber, dass es an einer Schule, wo wir sind, mehrere Menschen in der Schüler*innenschaft gibt, die das so formulieren. Das heißt, der Bedarf besteht natürlich. Da sind wir gerade am Arbeiten und Reflektieren. Wir machen jetzt auch dezidiert eine Fortbildung in geschlechterreflektierter Pädagogik und Arbeit, um uns weiterzubilden und uns zu überlegen, wie können wir von den methodischen Angeboten her sensibler werden, um unsere Arbeit präzise und bedarfsorientiert durchzuführen?

Judith De Santis (KN:IX):

Ihr habt eure Arbeit auch als Aufklärungsarbeit beschrieben. Ist eure Arbeit auch Präventionsarbeit? Denn in diesem Podcast sprechen wir ja über unterschiedliche Themen und Bereiche der Islamismusprävention. Inwiefern ist dieser Begriff oder allgemein der Präventionsbegriff relevant für eure Arbeit?

Max Schneider:

Der Präventionsbegriff ist auf jeden Fall relevant. Wir gehen aber nicht in die Workshops mit dem Gedanken, wir machen heute Prävention. Das ist nicht das Hauptziel. Aber ich würde sagen, dass unser Projekt auch ein Präventionsprojekt ist oder einen präventiven Charakter hat. Wenn wir mit den Jugendlichen diese Räume aufmachen und mit ihnen in die Auseinandersetzung gehen, dann hat das im Sinne einer demokratietrainierenden Funktion auch einen präventiven Charakter. Unser Projekt ist natürlich präventiv gegen Islamismus, genauso wie es auch präventiv ist gegen Sexismus oder Rechtsextremismus oder gegen alle anderen möglichen Ismen. Auf einer allgemeinen Ebene ist es daher definitiv ein präventives Projekt.

Judith De Santis (KN:IX):

Was braucht es denn, damit Jungen*arbeit gelingen kann? Was wünscht ihr euch für die Jungen*arbeit?

Max Schneider:

Das, was wir in unserem Projekt haben, ist unfassbar wertvoll. Wir sind sehr dankbar, dass wir an drei Schulen in Berlin sind, wo wir Zeit bekommen, wo wir Räume bekommen, wo wir Unterstützung bekommen. Das ist das, was es grundsätzlich braucht. Was es auch braucht, generell in unserem Bildungssystem, dass wir die Dinge ein Stück weit reduzieren. Dass wir gucken, was ist das, was gerade relevant ist? Dass man versucht, noch mehr Räume zu schaffen, wo es möglich ist, in den Austausch zu kommen, auf Augenhöhe, mit unterschiedlichen Ansätzen. Und dass man sich pädagogisch und didaktisch auch so damit auseinandersetzt, dass man möglichst viele Menschen abholt. Das ist enorm wichtig. Generell, aber speziell in der Schule. Sowohl Jungen*, als auch Mädchen*, als auch Menschen, die sich non-binär identifizieren. Das betrifft alle jungen Menschen, so wie es alle Menschen in der Gesellschaft betrifft. Das ist ganz wichtig.

Und was die gesellschaftspolitischen Ebene betrifft: Ich glaube, wir müssen verstehen, dass Vorstellungen von Gender, von der Konstruktion von Geschlecht, von patriarchalen Rollenvorstellungen, von matriarchalen Rollenvorstellungen, dass die extrem wirkmächtig sind. Ich denke, wir dürfen nicht the easy way out nehmen. Wir dürfen nicht sagen, naja, es gibt halt das eine und das ist jetzt patriarchal und das betrifft diese Gruppe. Sondern wir müssen das wirklich sehr gut differenzieren. Was auch schon gemacht wird, wenn man sich anguckt, wie viele Menschen in unserem Bereich arbeiten, wie viele tolle wissenschaftliche Publikationen es zu diesen Themen gibt. Das könnte noch mehr Gehör finden. Und dass wir es am Ende nicht immer reduzieren auf, ja, da geht es um Religion. Sondern es geht immer um die Verschränkung dieser Dinge miteinander. So betrachten wir auch unsere Arbeit. Wir sehen das immer sehr intersektional. Wenn wir uns zutrauen, dass wir das leisten können als Gesellschaft und dann konkret in der Schule, diese hochkomplexen Themen und Situationen runterzubrechen, zu vereinfachen, um dann wieder in das Komplexe hineinzugehen. Dann haben wir einen großen Schritt gemacht. Das wäre mein Wunsch. Und das braucht es, damit diese Arbeit erfolgreich ist.

Anand Subramanian:

Für mich ist es klar, Jungen*arbeit braucht mehr Liebe. Da versuchen wir auch nicht binär zu arbeiten, im Sinne von, wenn man ein Mädchen*projekt macht, kann man mehr über Emotionen reden. Diese klischeehafte Denkweise. Und wenn man mit Jungen* arbeitet, redet man über gewisse andere Sachen, mit einer gewissen Distanzierung von Emotionen.

Ich habe festgestellt, dass es schwierig ist, in der heutigen Gesellschaft, über die eigenen Emotionen oder Gefühle zu reden. Aber ich habe auch festgestellt, dass man, egal über welches Thema wir reden, immer wieder die Emotionen mit reinbringen kann. Dass man, entweder wortwörtlich oder durch andere Wege, sagt, hey, du wirst geliebt, wie du bist. Mach dir da keinen Stress. Denn ich glaube, unsere Jungen* wollen geliebt werden. Jeder Mensch sehnt sich nach Liebe. Und wenn ich sage, Jungen*arbeit braucht Liebe, meine ich damit auch, dass wir als Männer* unter uns bereit sind, über Liebe zu reden. Also Liebe nicht nur in der Perspektive von einem Mädchen* oder einer Frau*, wenn ich nur binär rede. Sondern dass auch wir als Menschen untereinander bereit sind, das ausdrücklich zu äußern.

Judith De Santis (KN:IX):

Vielen Dank, Anand und Max, für die spannenden Einblicke in eure Arbeit. Ich habe heute sehr viel von unserem Gespräch mitgenommen und wünsche euch alles Gute für eure Arbeit!

Anand Subramanian:

Mir persönlich hat es auch sehr Spaß gemacht. Dankeschön, Judith.

Max Schneider:

Auch von mir vielen Dank. Auch vielen Dank an alle, die jetzt vielleicht zugehört haben. Wir hoffen, dass wir uns vielleicht irgendwann mal wieder sprechen.

(Musik)

Judith De Santis (KN:IX):

Und auch an Sie, vielen Dank fürs Zuhören. Und wer jetzt oder bei Gelegenheit noch zur Mädchen*arbeit des Vereins Gesicht Zeigen! hören möchte, quasi als Ergänzung, empfehle ich in die allererste Folge von KN:IX talks reinzuhören. In dieser war Katrin Benzenberg zu Gast und hat zur Mädchen*arbeit des Projekts „Die Freiheit, die ich meine“ gesprochen. Also dann, tschüss und bis zum nächsten Mal.

(Musik)

Inhaltliche Vorbereitung und Moderation: Judith De Santis | Technische Umsetzung und Postproduktion: Malte Fröhlich

(Musik Outro KN:IX talks)

Charlotte Leikert (KN:IX Outro):

Sie hörten eine Folge von KN:IX talks, dem Podcast zu aktuellen Themen der Islamismus-Prävention. KN:IX talks ist eine Produktion von KN:IX, dem Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus. KN:IX ist ein Projekt von Violence Prevention Networkufuq.de und der Bundesarbeitsgemeinschaft Religiös-begründeter Extremismus, kurz BAG RelEx. Ihnen hat der Podcast gefallen? Dann abonnieren Sie uns und bewerten KN:IX talks auf der Plattform Ihres Vertrauens. Wenn Sie mehr zu KN:IX erfahren wollen, schauen Sie doch auf unserer Webseite www.kn-ix.de vorbei. Und wenn Sie sich direkt bei uns melden wollen, dann können Sie das natürlich auch machen. Mit einer Email an info [at] kn-ix.de. Wir freuen uns über Ihre Anmerkungen und Gedanken. KN:IX wird durch das Bundesprogramm Demokratie leben! des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Weitere Finanzierung erhalten wir von dem Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung in Sachsen-Anhalt, der Landeskommission Berlin gegen Gewalt und im Rahmen des Landesprogramms Hessen. Aktiv für Demokratie und gegen Extremismus. Die Inhalte der Podcast-Folgen stellen keine Meinungsäußerungen der Fördermittelgeber dar. Für die inhaltliche Ausgestaltung der Folge trägt der entsprechende Träger des Kompetenznetzwerks Islamistischer Extremismus, die Verantwortung.

Weiterführende Links

 

 

 

Bildnachweis © Rhendi Rukmana/ unsplash

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Die Beiträge im Portal dieser Webseite erscheinen als Angebot von ufuq.de im Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX).
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