Gehen oder Bleiben? Warum sich die Zukunft (auch) in Ostdeutschland entscheidet
12. Juni 2024 | Demokratie und Partizipation, Geschichte, Biografien und Erinnerung

Gelbes Feld mit Windkraftanlage im Hintergrund; Bild: Etienne Girardet/unsplash

Nach der Europawahl 2024 steht Ostdeutschland wieder einmal exemplarisch für die Bedrohung der Demokratie in Deutschland. Umso wichtiger ist es, sich in Erinnerung zu rufen, dass es zahlreiche Menschen gibt, die dort trotz Anfeindungen und Übergriffen für die Demokratie auf die Straße gehen. Daniel Kubiak geht der Frage nach, was die aktuellen Entwicklungen für die Zukunft des Landes bedeuten und erklärt, warum er die Ostdeutschen als Avantgarde betrachtet.

Noch Anfang 2024 herrschte in Deutschland optimistische Stimmung in Sachen Pluralismus: Nachdem die Rechercheplattform Correctiv ein rechtsextremes Geheimtreffen in Potsdam enthüllt hatte [1], zeigten fast vier Millionen Menschen bundesweit bei Demonstrationen Gesicht für Demokratie und Vielfalt, davon viele in Ostdeutschland [2]. Menschen, die in ostdeutschen Kleinstädten auf Demonstrationen gehen, berichteten zwar davon, dass sie dafür viel Mut brauchten, weil die Stimmung teilweise sehr feindlich sei [3]. So berichtete mir ein Teilnehmer einer Demonstration, dass in Wittstock ein Spalier rechter Akteure aufgestellt wurde, um die Demonstrant*innen auf dem Weg zum Marktplatz zu schikanieren [4]. Im Landkreis Elbe-Elster wurden Demonstrant*innen bedroht [5]; im Landkreis Bautzen gab es im Anschluss an die Demonstrationen Anschläge gegen Büros von Demokratieprojekten und Jugendeinrichtungen [6]. Doch ließen sich die Akteur*innen vor Ort in der Regel nicht einschüchtern, sondern meldeten weiter Veranstaltungen an.

Seit Beginn des Wahlkampfes für die Kommunal- und Europawahlen 2024 hat sich die Atmosphäre deutlich verschlechtert. Wahlhelfer*innen und Politiker*innen berichten von tätlichen Angriffen. Anfang Mai 2024 wurde Matthias Ecke, der für die SPD Sachsen als Abgeordneter im Europäischen Parlament sitzt und 2024 erneut antritt, angegriffen und schwer verletzt [7]. Was bedeuten die Ereignisse der letzten Wochen für Ostdeutschland und damit für die Zukunft dieses Landes? Sind die Entwicklungen, die wir derzeit in Ostdeutschland sehen, auf die gesamte Bundesrepublik übertragbar?

Der Soziologe Wolfgang Engler bezeichnete die Ostdeutschen in den 1990ern als „Avantgarde“ [8]. Das bildet sich möglicherweise im Guten wie im Schlechten ab. Im Osten ist aber nicht nur die Demokratie unter Beschuss, sondern auch die Aushandlungen um weitere gesellschaftspolitische Themen – insbesondere um den Klimawandel und Migration – finden hier wie im Brennglas statt. Darauf soll in diesem Artikel vertieft eingegangen werden.

Drei Themen sind entscheidend: Erstens sollten demokratische Strukturen in Ostdeutschland gezielt gestärkt werden, zweitens müssen Wege gefunden werden, mit den Folgen des Klimawandels in den östlichen Bundesländern umzugehen und drittens wird die Frage beantwortet werden müssen, wie sich das Leben in der ostdeutschen Migrationsgesellschaft ausgestalten wird. Alle drei Themen waren in Ostdeutschland schon in der Vergangenheit wichtig und so lässt sich auch aus der Vergangenheit lernen, wenn es dazu die Bereitschaft gibt.

Demokratische Strukturen fördern und Erfahrungen der demokratischen Revolution anerkennen

Wir alle kennen die unglaublichen Geschichten der Menschen hinter der friedlichen Revolution von 1989/1990. Von diesem Mut können wir lernen und ihn wiederentdecken. Demokratie lebt von der Bereitschaft der Bürger, in den politischen Streit zu treten. Die Erfahrung der friedlichen Revolution 1989/1990 zeigte, dass politisches Engagement zu grundlegenden Umbrüchen führen kann – auch gegen übermächtig wirkende Strukturen. Diese ostdeutsche Erfahrung sollten wir uns wieder stärker in Erinnerung rufen. Auf einer Demonstration in Bernau, die ich besuchte, sagte eine der Organisator*innen: „Es ist leichter, Faschismus zu verhindern, als ihn zu bekämpfen, wenn er schon an der Macht ist.“

Indem sich Menschen trotz rechter Hegemonien in einzelnen Kommunen zu Wahlen aufstellen lassen, verteidigen sie demokratische Werte und zeigen: Gerade in Zeiten, in denen die Demokratie bedroht scheint, lohnt es sich, sich für sie einzusetzen. Beobachter*innen der Demonstrationen gegen rechts haben angemahnt, dass dieser Protest auch in belastbare Strukturen überführt werden muss [9]. Demokratieprojekte müssen ausreichend gefördert werden: Programme wie „Demokratie leben“, „Neulandgewinner“ oder „Orte der Demokratie“ sind für lokale Initiativen im an Stiftungen armen Ostdeutschland ein wichtiger Topf für die Förderung von Projekten für Politische Bildung, Jugendarbeit und Vielfalt gegen Antisemitismus, Rassismus, Islamismus und Sexismus. Die Zivilgesellschaft muss durch Sicherheitsbehörden ausreichend geschützt werden und Menschen müssen sich trauen, sich politisch zu engagieren.

Der Klimawandel bedroht den Osten

Auch in Bezug auf die Bedrohung des Klimas lässt sich aus den ostdeutschen Erfahrungen lernen, denn die friedliche Revolution und die Umweltbewegung der DDR waren stark miteinander verbunden. Die Menschen im Chemiedreieck Bitterfeld-Leuna-Halle oder auf den überdüngten Feldern der industriellen Landwirtschaft sahen ihre Existenzgrundlagen bedroht und engagierten sich daraufhin politisch. Die Gründung der Umweltbibliothek 1986 [10], die Dokumentierung der Umweltschäden und die demokratische Bewegung, die sich daraus entwickelte, sind noch heute beeindruckend. Nach 1990 wurden besonders in Ostdeutschland viele National- und Naturparks geschaffen. Und doch: Die Folgen des globalen Klimawandels werden auch in Ostdeutschland sichtbar. Brandenburg trocknet aus. Aus dem Dreimeterbrett des Strandbads Barnim ist über die letzten Sommer ein Viermeterbrett geworden [11]. Aber auch das Waldsterben im Harz und im Elbsandsteingebirge sind sichtbare Folgen trockener, von Monokultur geprägter Wälder. Daher ist es besonders wichtig, dass dieses Zukunftsthema auch im Osten ernsthaft angegangen wird und tatsächlich gibt es Grund zum Optimismus: Viele Wirtschaftsunternehmen der erneuerbaren Energien und der innovativen Umwelttechnik befinden sich im Osten. Bei der Nennleistung erneuerbarer Energien pro Person liegen Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern im Bundesvergleich auf den ersten drei Rängen. Mecklenburg-Vorpommern wird auch der ökologischste Energiemix bescheinigt. Verschiedene Faktoren spielen den neuen Bundesländern in die Hände: Zum einen haben Flächenländer mit einer geringen Bevölkerungsdichte bessere Chancen, ihre Stromversorgung umzustellen. Zum anderen ist aber auch das Stromnetz bereits in der DDR stärker dezentralisiert worden. Die Hochschule Stralsund gilt als Innovator in der Solarbranche und die Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde (HNEE) ist ein Multiplikator für Fachkräfte auf dem Gebiet der ökologischen Forst- und Landwirtschaft. Die Entwicklung im ehemaligen Braunkohlegebiet der Lausitz wird mit vielen Bundesmilliarden subventioniert und wird zeigen, ob es möglich ist, lokal eine sozialverträgliche Energiewende herbeizuführen. Gut, dass die Gelder der Bundesregierung trotz Finanzstreits hier gesichert erscheinen. Eine Streichung hätte die fragile ostdeutsche Gesellschaft nicht ertragen.

Migrationsgesellschaft als Zukunftsthema

Die Migrationspolitik ist wieder zu einer Chiffre der Aushandlung um Demokratie geworden. Parteien des gesamten politischen Spektrums haben versucht, Migration zu einem übergeordneten Problem zu erklären. Viele der angesprochenen Themen sind bei genauerer Betrachtung allerdings Probleme der desolaten öffentlichen Infrastruktur und werfen Fragen nach unserem Verständnis von Demokratie auf. So war beispielsweise die sogenannte Berliner „Silvesterdebatte“ 2023 eher eine Debatte über Jugend im öffentlichen Raum. Die Asyldebatte ist eine Aushandlungsdebatte darüber, was es der Gesellschaft wert ist, die Menschenrechte und das eigene Grundgesetz einzuhalten. Die Debatte über die von der Verteilung der Geflüchteten überforderten Kommunen zeigt, wie marode die öffentliche Infrastruktur, und wie unzureichend die finanzielle Ausstattung ist.

Wenn über die Herausforderungen der postmigrantischen Gesellschaft gesprochen wird, dann wird die ostdeutsche Erfahrung oft nicht mitgedacht. Ostdeutschland ist jedoch seit jeher von Migration geprägt. Zum einen wäre da die Abwanderung (vor allem vor 1961 und nach 1989) zu nennen, aber auch internationale Migration nach Ostdeutschland hat es immer gegeben. Mittlerweile gibt es Stadtteile in ostdeutschen Großstädten (wie der Magdeburger Kannenstieg), in denen in der Gruppe der Minderjährigen Menschen mit Migrationsgeschichte die Mehrheit stellen. Wir sehen, dass in Ostdeutschland die Fluchtmigrationen 2015/2016 und 2022 räumlich gut aufgefangen werden konnten, weil viele Geflüchtete relativ schnell auf individuellen Wohnraum verteilt werden konnten. Durch die Schrumpfungsprozesse der 1990er und 2000er Jahre standen einfach viele Wohnungen leer und konnten durch Geflüchtete bezogen werden. Das brachte neue Konflikte mit sich, die aber mit einer auf eine plurale Gesellschaft ausgerichteten Stadtpolitik und -verwaltung gelöst werden können.

Gehen oder Bleiben?

Migration ist aber vor allem auch eine Chance, gegen den demografischen Wandel und den Fachkräftemangel in Ostdeutschland anzugehen. Für die Ansiedlung der Halbleiter- und Umwelttechnikfirmen (Tesla, Intel und Co.) werden dringend Mitarbeiter*innen gebraucht. So sind die zugewanderten Kinder und Jugendlichen von heute im Idealfall die Fachkräfte der Zukunft. Dafür müssen ostdeutsche Kommunen attraktivere Orte des Bleibens werden. Viele Menschen machen in Ostdeutschland Erfahrungen mit institutionellem, strukturellem und alltäglichem Rassismus, wie wir in unserem Forschungsprojekt „Räume der Migrationsgesellschaft“ (RäuMig) als Teil der DeZIM-Forschungsgemeinschaft am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) zeigen konnten. Am Ende ist hier auch Repräsentation entscheidend. LAMSA, das Landesnetzwerk der Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt, hat mit der Kampagne 7 % dazu aufgerufen, dass Menschen mit Migrationsgeschichte in der Landes- und Kommunalpolitik sichtbarer werden [12]. Schutz vor Diskriminierung und politische Teilhabe sind wichtige Standortfaktoren. Denn auch migrantische Ostdeutsche stehen oft vor der allgemeinen Frage des Ostens: Gehen oder Bleiben? In Zeiten des demografischen Wandels und multipolarer Krisen in der Welt müssen alle hoffen, dass die Entscheidung „Bleiben“ heißt.

 

Fußnoten

[1] https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigration-vertreibung-afd-rechtsextreme-november-treffen/

[2] https://taz.de/Demos-gegen-rechts/!5994464/

[3] https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/demokratie-verteidigen-in-ostdeutschland-man-kann-noch-mehr-tun-als-zu-demonstrieren-a-c0481a3e-0392-4b78-b056-08777777f167

[4] https://www.rbb-online.de/rbbspezial/videos/Die-Reportage-die-mutbuerger.html?fbclid=IwZXh0bgNhZW0CMTAAAR1g_NlCCwkBpy7-FxjOgXSGgelQj3CbTcPwSx6W5lN7Ubzpuf85jdZT9Do_aem_AcaYxxLkP4GC51Yo-lDNGXlfWeQlkt9KJ7SRjHT4Ojqn-efjYSNa9IYbnR3gc2Fp-s_VFGvEa7Z-RsScTLr9LM1L

[5] https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2024/01/brandenburg-finsterwalde-demo-anzeigen-afd-politiker-peter-drenske.html

[6] https://x.com/aushoywoj/status/1753371492933345563

[7] https://www.zeit.de/politik/2024-05/matthias-ecke-sachsen-spd-spitzenkandidat-europawahl-dresden-angriff

[8] https://www.aufbau-verlage.de/aufbau-digital/die-ostdeutschen-als-avantgarde/978-3-8412-0056-3

[9] https://www.blaetter.de/ausgabe/2024/maerz/ostdeutschland-was-nach-den-demos-kommen-muss

[10] https://www.runde-ecke-leipzig.de/sammlung/pop_zusatz.php?w=w00172

[11] https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2024/05/brandenburg-bund-seen-niedriger-wasserstand-klimawandel.html

[12] https://www.lamsa.de/kampagne-wir-sind-7-/worum-geht-es/

 

Bildnachweis: © Etienne Girardet / Titel: gelbes Blumenfeld tagsüber / unsplash.com

Portraitfoto Daniel Kubiak: © Elisabeth Schoepe

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