„Salafist*innen nutzen gesellschaftliche Krisen, um neue Anhänger*innen zu gewinnen“ – Die salafistische Szene in Bayern
5. Mai 2021 | Radikalisierung und Prävention

Der Politikwissenschaftler Mahmoud Jaraba hat in einer Studie die Entwicklung des Salafismus in Bayern seit den 1990er Jahren untersucht. Wo ist die Szene besonders aktiv? Wer sind die Akteur*innen? Und wie werden Jugendliche erreicht? Im Gespräch mit Götz Nordbruch (ufuq.de) fasst er einige Ergebnisse zusammen.


Götz Nordbruch:
Herr Jaraba, es gibt bisher nur wenige Studien, die die Besonderheiten der salafistischen Szene in den verschiedenen Bundesländern untersuchen. In Ihrer Studie zum Salafismus in Bayern gehen Sie bis in die 1990er Jahre zurück. Wie hat sich die Szene in Bayern entwickelt?

Mahmoud Jaraba: Die Salafist*innen in Bayern waren in den 1990er Jahren auf einen kleinen Personenkreis der ersten Generation muslimischer Einwanderer*innen sowie einiger Konvertit*innen begrenzt. Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 in New York und Washington erfuhr die Bewegung dann einen enormen Zuwachs von jungen Muslim*innen, die in Deutschland geboren waren, sowie von Konvertit*innen. Mehrere Faktoren führten zu dieser Entwicklung. Zu nennen sind die restriktive Sicherheitspolitik, das Erscheinen von Internetplattformen wie YouTube und Facebook sowie das damals neue Phänomen von missionarischen Predigern wie Hassan Dabbagh und Pierre Vogel.

Der Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien 2011 verstärkte diese Tendenz. Die verstörenden Bilder und YouTube-Videos, welche kaltblütige Erschießungen, brutale Folter und andere schwerste Menschenrechtsverletzungen durch das syrische Regime dokumentierten, wühlten viele junge Muslim*innen auch in Europa auf. In dieser Zeit ist eine deutliche Zunahme der Zahl der Salafist*innen und ihrer Aktivitäten in Bayern zu beobachten. Nach meiner Einschätzung sind diese Aktivitäten derzeit leicht rückläufig. Ob dies mit den Entwicklungen in der Syrienkrise oder den Corona-Maßnahmen zusammenhängt, ist derzeit noch nicht klar. Was ich auf jeden Fall bestätigen kann, ist die Tatsache, dass die Salafist*innen keineswegs verschwunden sind. Sie existieren immer noch, und ich bin davon überzeugt, dass sie in jeder neuen Krise rasch wieder propagandistisch auftauchen werden.

Götz Nordbruch: Was unterscheidet die salafistische Szene in Bayern denn von anderen Bundesländern?

Mahmoud Jaraba: Wir haben leider nicht ausreichend empirische Daten zur Entwicklung der Salafist*innen auf lokaler Ebene in den verschiedenen Bundesländern. Daher ist es schwierig, Bayern mit anderen Bundesländern zu vergleichen. Ich kann jedoch sagen, dass es zwei wichtige Faktoren gibt, welche die vergleichsweise geringe Entwicklung salafistischer Aktivitäten in Bayern erklären könnten: Erstens gibt es eine rigide Null-Toleranz-Politik der bayerischen Sicherheitsbehörden, insbesondere des Verfassungsschutzes, gegenüber extremistischen Gruppierungen. Diese Politik führte zur Instabilität der salafistischen Netzwerke, welche in ständiger Angst vor den rechtlichen und sicherheitspolitischen Konsequenzen ihrer Tätigkeiten leben müssen. Nicht wenige der aktiven Anhänger*innen der Bewegung wurden bereits von den Sicherheitsbehörden ins Visier genommen und mussten Ermittlungen über sich ergehen lassen. Zahlreiche Salafist*innen, ob in München, Nürnberg, Regensburg oder Bayreuth, klagen über ihre äußerst negativen Erfahrungen mit den Sicherheitsbehörden und insbesondere mit dem Verfassungsschutz. Zweitens dürfte die gute wirtschaftliche Situation in Bayern, wo die Arbeitslosenquote im Vergleich zu anderen Bundesländern niedrig ist, eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Zwar ist Arbeitslosigkeit nicht der wichtigste Faktor bei der Rekrutierung durch die Salafist*innen. Jedoch können soziale und psychische Krisen, die sich aus der Arbeitslosigkeit ergeben, durchaus eine Rolle spielen, wenn sich jemand für ein derartiges Gedankengut öffnet. Salafist*innen nutzen mit Vorliebe gesellschaftliche Krisen, um neue Anhänger*innen zu gewinnen.

Götz Nordbruch: Der Salafismus wird oft als Jugendphänomen beschrieben. Für Berlin kam ein Lagebild der Sicherheitsbehörden allerdings zu dem Ergebnis, dass die Szene relativ alt ist. Wie schätzen Sie dies für Bayern ein?

Mahmoud Jaraba: Der Salafismus in Bayern ist tatsächlich eher ein Jugendphänomen, da die meisten Aktivist*innen jung sind. Die größte Gruppe, aus der sich Salafist*innen rekrutieren, sind junge Menschen zwischen 14 und 25 Jahren. Aber auch in Bayern sind nicht alle Salafist*innen jung, es gibt auch ältere Aktivist*innen gerade aus der ersten Generation, die als Prediger bzw. auf spiritueller Ebene eine wichtige Rolle spielen.

Götz Nordbruch: In welchen Städten ist die Szene besonders aktiv? Lässt sich dies an einzelnen Moscheen festmachen?

Mahmoud Jaraba: Die Interviews, die ich während meiner Feldforschung durchgeführt habe, zeigen, dass die Salafist*innen insbesondere in München, Nürnberg, Regensburg, Schwandorf, Bayreuth sowie Weiden aktiv sind. Man muss aber betonen, dass die Salafist*innen auch in anderen Städten – etwa Fürth, Erlangen oder Amberg –  präsent sind, wenn auch in geringerem Maße. Es macht jedoch wenig Sinn, die Beobachtung der Szene auf die Stadtebene zu begrenzen, die meisten Salafist*innen sind regional aktiv. Während einer religiösen Predigt in einer salafistischen Moschee in München stellte sich etwa heraus, dass einige der Zuhörer*innen aus bis zu 80 Kilometern Entfernung angereist waren, um den Vortrag zu hören und sich mit ihren „Brüdern“ und „Schwestern“ zu treffen.

Götz Nordbruch: Können Sie die Aktivitäten dieser Gruppen genauer beschreiben? Was bieten sie ihren Anhänger*innen?

Mahmoud Jaraba: In vielen Fällen hängen die Aktivitäten der Salafist*innen eng mit der jeweiligen Moschee zusammen, in der sie sich versammeln und ihre verschiedenen Aktivitäten ausüben. Dies ist jedoch nicht die Regel. Es gibt ebenso zahlreiche Aktivitäten, die im privaten Umfeld stattfinden. Salafist*innen konzentrieren sich keineswegs nur auf die Vermittlung religiöser oder politischer Haltungen, sondern sind auch auf der sozialen Ebene aktiv. Sie regeln zum Beispiel Ehe- und Scheidungsfragen, regeln Familienkonflikte („Paralleljustiz“), erteilen Koranunterricht, lehren die arabische Sprache und vermitteln reaktionäre Erziehungsideale nach ihrer Vorstellung von den Gesetzen und Regeln des Islams. In den letzten Jahren haben Salafist*innen auch Fortschritte im Aufbau von sozialen Netzwerken gemacht. Darüber hinaus sind soziale Medien, gerade jetzt angesichts der Corona-Pandemie, ein wichtiges Instrument zur Kommunikation zwischen den Anhänger*innen der Szene, aber auch für die Missionsarbeit (daʿwa). In sozialen Medien sind sie sehr aktiv.

Götz Nordbruch: Welche Bedeutung haben denn überregionale Prediger wie Hassan Dabbagh aus Leipzig oder Ahmad Armih alias Abul Baraa aus Berlin für die Szene in Bayern?

Mahmoud Jaraba: Überregionale Prediger haben in Bayern bisher kaum eine größere Bühne bekommen. In meinen Interviews wurde aber deutlich, dass überregionale Prediger, insbesondere Hassan Dabbagh, Ahmad Armih und Pierre Vogel, auch für viele bayerische Salafist*innen als „Stars“ gelten. Diese Namen wurden häufiger als wichtige religiöse und politische Referenzen genannt, gerade für die jüngere Generation. Sie predigen und kommunizieren in deutscher Sprache und erreichen damit viele junge Muslim*innen. Ihre Predigten können als charismatisch, auf die Bedürfnisse der Jungend zugeschnitten und der Zielgruppe entsprechend didaktisch reduziert charakterisiert werden.

Götz Nordbruch: Woran liegt es, dass sich in Bayern keine Lokalgrößen etablieren konnten? Und was bedeutet das für die Szene?

Mahmoud Jaraba: Nach heutigem Stand gibt es in Bayern noch keine über die Landesgrenzen hinaus bekannten Prediger dieses Zuschnitts. Ich denke, der Hauptgrund dafür liegt in der Politik des Verfassungsschutzes in Bayern. Der bayerische Verfassungsschutz verfolgt bei den Salafist*innen eine „Null-Toleranz-Politik“ und versucht, sämtliche salafistischen Aktivitäten zu bekämpfen, noch bevor sie strategische Auswirkungen haben könnten. Aufgrund dieser rigiden Sicherheitsstrategie fühlen sich die in Bayern ansässigen Salafist*innen in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend unwohl. Dies führte in der Konsequenz dazu, dass ein Teil von ihnen in andere Bundesländer oder gar ins Ausland übersiedelte. In Bayern herrscht aus salafistischer Sicht ein Klima der Unsicherheit, das macht es fast unmöglich, dass Prediger so prominent werden wie Pierre Vogel.

Götz Nordbruch: Würden Sie diese Strategie der bayerischen Sicherheitsbehörden denn als erfolgreich beschreiben?

Mahmoud Jaraba: Ich bin ehrlich gesagt skeptisch, ob diese Sicherheitspolitik das Problem auf lange Sicht lösen kann. Infolge dieser Strategie verlagern die Salafist*innen heute ihre Aktivitäten in Bayern größtenteils auf informelle Räume bzw. in den Untergrund, wie dies beispielsweise verstärkt in Nürnberg zu beobachten ist. Zusätzlich zum Druck der Sicherheitsorgane müssen wir daher die Präventionsarbeit ausbauen und professionalisieren, insbesondere an Schulen.

Beachten Sie zum Thema auch den aktuellen Beitrag (pdf) von Mustafa Ayanoğlu, Mitarbeiter der ufuq.de Fachstelle Bayern, zum Ansatz der ufuq.de Fachstelle in Bayern in der soeben erschienenen Publikation der Hanns-Seidel-Stiftung Ein Problemaufriss. Salafismus in Deutschland und Bayern (2021, pdf). 


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