„Befähigung zum Widerspruch“ – Empfehlungen zum Umgang mit Kindern aus religiös-extremistischen Familien
28. April 2021 | Radikalisierung und Prävention

Bild: Juan Pablo@pexels.com

Welchen Einfluss hat die Ideologie in religiös-extremistischen Familien auf das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen? Welche Konflikte ergeben sich aus dem Weltbild der Eltern für Kinder und Jugendliche beispielsweise in der Schule? Und was können Pädagog*innen tun, um sie dabei zu unterstützen, mit diesen Konflikten umzugehen? Mit einer Handreichung wenden sich die Fach- und Beratungsstellen des „Nordverbundes“ an Fachkräfte, die in ihrer Arbeit mit „geschlossen religiös-extremistischen Familien“ zu tun haben. Michael Gerland, einer der Autor*innen, informiert im Gespräch mit Götz Nordbruch von ufuq.de über Ansätze, die sich im Umgang mit religiös-extremistischen Familien bewährt haben.  

Götz Nordbruch: Die Handreichung widmet sich den Sozialisationsbedingungen von Kindern und Jugendlichen, die in geschlossen religiös-weltanschaulichen Familien aufwachsen. Studien über salafistische Szenen in Deutschland zeigen, dass die Zahl der Erwachsenen und damit auch von Eltern in der Szene größer wird. Was genau verstehen Sie unter „geschlossen religiös-weltanschaulichen Familien“?

Michael Gerland: Strenggenommen gibt es in sozialen Beziehungen keine absolut geschlossenen Systeme. Soziale Systeme sind ohne Kommunikation mit „Außen“ nicht überlebensfähig. Zugleich sind Systeme – egal ob es sich dabei um soziale, psychische, ideologische oder kulturelle Systeme handelt – ihrem Umfeld gegenüber deutlich abgrenzbar. Ein Austausch kann sich daher auch in dem Bemühen äußern, sich abzugrenzen, zum Beispiel dann, wenn das entsprechende System Gefahr läuft, seine Legitimität zu verlieren und zu erodieren, wenn es sich als zu durchlässig erweist. Die Familien, die wir als „geschlossen religiös-weltanschauliche Familien“ beschreiben, sehen sich in der Regel gezwungen, sich immer weiter abzugrenzen und die dafür notwendige Loyalität und Disziplin von jedem Familienmitglied einzufordern.

Es handelt sich also um eine relative Geschlossenheit: Informationen von „außen“ fließen nur spärlich und zudem gefiltert in das System. Umgekehrt dringen Informationen aus dem System nur spärlich und gefiltert nach außen. Das führt zwangsläufig zu innerfamiliären Krisen und Konflikten mit dem sozialen Umfeld (Schule, Nachbarschaft etc.). Hinzu kommt die Gefahr von Übergriffen in der Familie, denn je undurchlässiger sich ein System nach außen zeigt, desto größer ist die Gefahr der Übergriffigkeit nach innen. Wir kennen das von vielen sozialen Systemen: von totalitären Staatsgebilden, klandestinen Mafiastrukturen bis hin zu einer Familie mit sogenannten Familiengeheimnissen wie Alkoholismus oder Missbrauch.

Die Handreichung „Aufwachsen unter den Augen des Allmächtigen?“ kann hier als pdf heruntergeladen werden.

Götz Nordbruch: Sie beschreiben in der Handreichung die Konflikte, denen Kinder und Jugendliche im Spannungsfeld zwischen familiären Werten und Orientierungen auf der einen Seite und den Erwartungen von Gleichaltrigen, Pädagog*innen und Gesellschaft auf der anderen Seite ausgesetzt sind. Interessant finde ich, dass Sie auch auf die Ressourcen eingehen, die sich aus dem Aufwachsen in geschlossenen Familiensystemen ergeben können, zum Beispiel eine hohe Anpassungsfähigkeit und Handlungssicherheit in schwierigen und widersprüchlichen Situationen. Inwiefern lassen sich solche Ressourcen aufgreifen, um Kinder und Jugendliche zu stärken?

Michael Gerland: Bei Kindern und Jugendlichen, die sich in einem starken Loyalitätskonflikt zwischen Familie und Umwelt befinden, drängen sich in der Regel zwei Gefühlslagen in den Vordergrund: Trauer und Wut. Trauer bringt die empfundene Ohnmacht aufgrund ständig misslingender Anpassungsbemühungen zum Ausdruck, die Wut entsteht durch den dadurch behinderten Willen zur Selbstbehauptung. Diese Emotionen werden in Konflikten sichtbar, die sich vor allem außerhalb des Familiensystems ergeben, zum Beispiel in der Schule. Gleichzeitig lernen diese Kinder, ihre Gefühle innerhalb des Familiensystems zu beherrschen.

In der pädagogischen Arbeit mit solchen Kindern ist entscheidend, ihre Gefühlsäußerungen vor dem Hintergrund ihrer familiären Situation zu betrachten. Die erlernte Anpassungsfähigkeit, die sich auch im Schulalltag zeigt – die betroffenen Kinder sind ja nicht durchgehend traurig oder wütend – kann im konkreten Fall durch Lob, Anerkennung und Integration in die Gemeinschaft gefördert werden. Das erfordert oft einen generellen Perspektivwechsel der Pädagog*innen auf die betroffene Persönlichkeit des Kindes, welche leider oft genug mit Rückzugsverhalten (Trauer) oder Ausbruchsverhalten (Wut) in eins gesetzt wird. Dem Kind, das sich auf der Suche nach der eigenen Identität befindet, wird so eine Identität von außen zugeschrieben: Das defizitäre Kind aus der Salafistenfamilie. Das wiederholt und bestätigt den Zuschreibungsprozess, den das Kind innerhalb der Familie erfährt. Gerade in der Arbeit mit den Eltern sollten Pädagog*innen darauf achten, das Kind nicht als defizitär darzustellen.

Unsere Erfahrungen mit „salafistisch“ geprägten Familien zeigen, dass diese sehr viel Wert auf allgemeine Bildung legen – solange diese nicht ihren Dogmen widerspricht – und dass sie stolz sind, wenn ihre Kinder sich Wissen aneignen. Der richtige Umgang damit kann die Durchlässigkeit des betroffenen Familiensystems fördern. Wenn das nicht immer auf Anhieb gelingt, so stehen den Pädagog*innen Beratungsstellen zur Verfügung, in denen sie sich im Umgang mit diesen Kindern und deren Angehörigen beraten lassen können. Prinzipiell gilt jedoch, dass das allgemeine Handwerk der Pädagogik schon viel hergibt, um mit Kindern in Loyalitätskonflikten umzugehen. Das Schulpersonal kann sich also auch getrost auf die eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten berufen, wenn es sich nicht zu einem ideologischen Disput auf dem Rücken der Kinder hinreißen lässt.

Götz Nordbruch: In Ihren Handlungsempfehlungen geht es nicht darum, die Ideologie oder das Verhalten der Eltern in Frage zu stellen oder zu verändern. Sie betonen, dass es in bestimmten Situationen sinnvoll sein kann, die „Extremismus-Brille“ abzulegen und Eltern wie Kinder unabhängig von ihrer ideologischen Prägung anzusprechen und in ihren Entwicklungsmöglichkeiten zu unterstützen. Welche Überlegungen stehen hinter diesem Ansatz – und inwiefern spielt das Ideologische, also beispielsweise ein salafistisches Weltbild, in der Arbeit mit solchen Familien überhaupt eine Rolle?

Michael Gerland: Was auch immer unter einem „salafistischen Weltbild“ verstanden wird: Es handelt sich zuvorderst um ein Denk- und Kommunikationsmuster, das sich in manchen Fragen mit „unserem“ Wertekanon inkompatibel zeigt – aber nicht unbedingt in allen Fragen. Das gilt es auszuloten. Eine theologische Debatte, etwa um einen „extremistischen“ Islam, einen gemäßigten oder gar bereinigten ist nicht alltagstauglich. Zudem überfordert es meist alle Debattierenden, da in diesen Konflikten nur selten theologisch versierte Personen aufeinandertreffen.

Es geht auch nicht um ein konfliktbereinigtes Miteinander, sondern um einen friedlichen Dialog. Ideologische Haltungen verflüssigen sich meistens dann, wenn die sozialen Interessen und Bedürfnisse in den Vordergrund der Auseinandersetzung gestellt werden. „Wie wollen wir miteinander leben?“ steht zur Debatte und nicht, „Was sollen wir denken?“ Überzeugungen sind immer auch abhängig vom Kontext und von den Ereignissen, in denen sie entstehen. Ändert sich der Kontext, dann gibt es auch die Chance, dass Überzeugungen ihren Grund verlieren. Ideologien sind hier eher als Begründung für Verhalten in Konflikten und Krisen zu betrachten, weniger als deren Ursache. So können Menschen in bestimmten Situationen aus einem „richtigen Grund“ Normen überschreiten und Werte in Frage stellen, aber auch mit einer „falschen Begründung“ und umgekehrt.

Götz Nordbruch: Sie plädieren für eine anerkennende und wertschätzende Haltung gegenüber Kindern und Jugendlichen aus geschlossen religiös-weltanschaulichen Familien, um dadurch Räume zu schaffen, in denen sie erfahren, dass unterschiedliche Wertvorstellungen und Lebensweisen möglich sind. Es geht darum, Alternativen sichtbar zu machen. Aber ist es nicht wichtig, bestimmte Grenzen klar zu benennen, auch um andere Kinder in der Gruppe zu schützen?

Michael Gerland: Wenn wir Kindern das Recht auf eine freie Entfaltung und in dem Zusammenhang auf eine gewaltfreie Erziehung zugestehen, dann ergeben sich daraus auch die klar zu benennenden Grenzen. Kinderrechte sind Menschenrechte. Wir haben sie vor Übergriffen zu schützen, die geeignet sind, das Recht auf freie Entfaltung zu beeinträchtigen. Das gilt in diesem Fall sowohl für die als „salafistisch beeinflusst“ identifizierten Kinder, als auch für die Kinder in deren Umgebung. Der wirksamste und nachhaltigste Schutz ist immer die Einbeziehung – nicht der Ausschluss. In einem Aufsatz über „Radikalisierung in der Schule“ habe ich versucht, herauszuarbeiten, dass das Sanktionieren und Aussondern dieser Kinder – und ihrer Familien – als Standardmaßnahme kaum geeignet ist, Konflikte dieser Art aufzuheben. Konferenzen, wie wir sie kennengelernt haben, in denen Vertreter*innen der Schule, der Schulbehörde, des Jugendamtes oder gar der Sicherheitsbehörden zusammensitzen, die betroffenen Familien jedoch außen vor bleiben, erreichen oft nur wenig. Indem sie das Problem individualisieren („Problemkind“) und ideologisieren („problematisches Denken“), versperren sie sich selbst die Sicht auf den Kontext, in dem Radikalisierungsprozesse sich entfalten können.

Wir schützen Kinder vor Gefahren am besten, wenn wir sie in die Auseinandersetzung darüber einbeziehen – nicht, indem wir sie davon fernhalten. Es handelt sich bei Ideologien im Allgemeinen nicht um Viren, die ungeschützte Kinder befallen. Wir sollten uns daher tunlichst eingestehen, dass in diesem Kontext nicht die vielen Ideologien, Normen und Wertevorstellungen die handelnden Subjekte sind, sondern die Kinder, welche diesen Ideologien im Laufe ihrer Entwicklung ausgesetzt werden. Alle Menschen sind grundsätzlich befähigt, sich Ideologien anzueignen oder sich davon abzuwenden. Die Befähigung zum Widerspruch gilt es mit den Mitteln einer aufgeklärten, empathischen Pädagogik zu fördern.

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