Die Popularität der videobasierten Social-Media-Plattform TikTok nimmt zu. Schon längst sind es nicht mehr nur Tanzvideos, sondern zunehmend auch politische Inhalte, die an Bedeutung gewinnen. Die AfD ist auf TikTok besonders erfolgreich und erreicht mit ihrem Account mehr Menschen als alle anderen Parteien. Doch wodurch zeichnet sich die Kommunikationsstrategie der Partei aus? Was können demokratische Kräfte tun, um auf TikTok für ihre Überzeugungen einzutreten? Und warum ist Nichtstun die schlechteste aller Optionen? Marcus Bösch, Experte für Desinformationskampagnen in Online-Medien, im Interview mit Tobias Müller von der Plattform te.ma.
Tobias Müller:
Herr Bösch, Sie schreiben seit 2020 den Newsletter „Understanding TikTok“. Darin geht es um neue Entwicklungen auf der Plattform. Was war der Auslöser dafür?
Marcus Bösch:
Ich habe einen klassischen journalistischen Background, habe bei der Deutschen Welle volontiert und danach selbst Journalist*innen ausgebildet. Im Zuge dessen habe ich mich ab 2004 wie die Raupe Nimmersatt einmal durch die aufkeimende Plattformenlandschaft gefressen. Angefangen hat es mit MySpace, dann kamen Facebook, Twitter und Youtube. Das machte nicht nur Spaß, sondern war aufgrund der dynamischen Entwicklungen auch extrem spannend, weil immer etwas Neues auftauchte. Als dann aber TikTok um die Ecke kam, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass ich keine Ahnung hatte, was hier eigentlich passiert. Das war der eigentliche Auslöser für mein Interesse an TikTok.
ALS DANN ABER TIKTOK UM DIE ECKE KAM, HATTE ICH ZUM ERSTEN MAL DAS GEFÜHL, DASS ICH KEINE AHNUNG HATTE, WAS HIER EIGENTLICH PASSIERT.
Tobias Müller:
Warum hatten Sie das Gefühl, TikTok nicht zu verstehen?
Marcus Bösch:
Das kann ich so genau gar nicht benennen. Mir war aber schnell klar, dass TikTok anders ist als alles, was ich bis dahin kannte. Und obwohl ich mich anfangs damit nicht sonderlich wohl fühlte, hat mich die Plattform sofort fasziniert. Das hatte auch damit zu tun, dass schon nach kurzer Zeit nicht mehr nur gutaussehende College-Student*innen durchs Bild tanzten und mit kleinen Musikvideos versuchten, viral zu gehen, sondern es auch ganz andere Inhalte gab. Nerdiges, teilweise subversives Zeug, das für mich mehr mit digitaler Kunst zu tun hatte als mit tradierter Plattformkommunikation. Weil der Mix wild und schwer zu greifen war, wollte ich mehr über TikTok wissen und Kolleg*innen über die Plattform informieren. So entstand der Newsletter.
Tobias Müller:
Der Newsletter erreicht aktuell mehr als 6000 Subscriber*innen. Warum sollten wir uns überhaupt für TikTok interessieren?
Marcus Bösch:
Ganz einfach deswegen, weil man sich heute nicht nicht für TikTok interessieren kann. Zumindest dann nicht, wenn man die rund 21 Millionen User*innen in Deutschland nicht links liegen lassen will. Die verbringen täglich ein bis eineinhalb Stunden auf der Plattform und nutzen sie nicht nur als Unterhaltungs- sondern auch als Informationsmedium. Das hat inzwischen sogar das Bundeskanzleramt verstanden, weshalb auch Olaf Scholz seinen eigenen Kanal hat und sein Team drei Videos am Tag postet – eine durchaus beachtliche Quote.
Tobias Müller:
TikTok ist also aktuell sowohl Unterhaltungs- als auch Informationsmedium. War das schon immer der Fall?
Marcus Bösch:
Nein, die Plattform ist, zumindest nach eigenen Angaben, als reines Unterhaltungsmedium gestartet. Ursprünglich ging es sicher auch vor allem darum, zu hinterlegter Musik playback zu singen und zu tanzen. Das mediale Echo lautete dementsprechend: Tanzende Teenager, alles völlig albern und eigentlich nicht der Rede wert. Das änderte sich recht schnell, und zwar durch viral gehende Challenges. Als die User*innen beispielsweise angeblich anfingen, Porzellan klein zu schlagen und wie Koks durch die Nase zu ziehen, herrschte bei den arrivierten Medien plötzlich Alarmbereitschaft. Statt alberner Tanzvideos sah man auf einmal eine Gefahr für die Jugend. Die Challenge stellte sich zwar schnell als lancierter Hoax heraus, der die sensationalistische Berichterstattung etablierter Medien entlarven sollte – der Blick auf TikTok hatte sich aber trotzdem gewandelt. Und in der jüngeren Vergangenheit ist TikTok – sowohl faktisch als auch in der Berichterstattung über die Plattform – zu einem zentralen Raum für politische Diskurse geworden. Wer heute politisch kommunizieren will, muss das auch über TikTok machen.
IN DER JÜNGEREN VERGANGENHEIT IST TIKTOK – SOWOHL FAKTISCH ALS AUCH IN DER BERICHTERSTATTUNG ÜBER DIE PLATTFORM – ZU EINEM ZENTRALEN RAUM FÜR POLITISCHE DISKURSE GEWORDEN.
Tobias Müller:
Wie sieht politische Kommunikation auf TikTok aus?
Marcus Bösch:
Das Ziel politischer Kommunikation auf TikTok ist zunächst einmal mit dem Ziel politischer Kommunikation auf anderen Plattformen oder in konventionellen Medien identisch. Es besteht schlicht darin, die eigenen Überzeugungen und Positionen unter die Leute zu bringen und die öffentliche Meinung in diese Richtung zu beeinflussen. Aber natürlich funktioniert politische Kommunikation auf TikTok anders als im großen Interview in der Wochenendzeitung. Wenn etwa Kevin Kühnert auf TikTok über das Heizungsgesetz sprechen will und ankündigt, dass das jetzt ein bisschen länger dauern werde, dann hat er ganz einfach keine Chance, gehört zu werden, weil die Nutzer*innen pro Session durch Hunderte Videos swipen und nur da hängen bleiben, wo es direkt am Anfang knallt. Das tut es, wenn Alice Weidels Rede im Bundestag TikTok-tauglich zusammengeschnitten wird und am Beginn des Beitrages der emotional vorgetragene Slogan „Wer arbeitet, ist der Dumme und wir werden das ändern!“ steht. Da bleiben die User*innen am Ball, weil es bei diesen vereinfachenden Parolen und Schlagworten möglich ist, vor dem Bildschirm zu sitzen und zu sagen: „Jawoll, genau so!“.
Tobias Müller:
Wenn man sich die Reichweite von deutschen Berufspolitiker*innen auf TikTok anschaut, scheint die AfD am ehesten zu wissen, wie man es am Anfang knallen lässt. Hat die Partei besser als die Konkurrenz verstanden, wie TikTok funktioniert?
Marcus Bösch:
Ja. Hinzu kommt, dass sie vor den etablierten Kräften auf der Plattform aktiv war und hier relativ ungestört eine Art Gegenöffentlichkeit aufbauen konnte. Die offiziellen Accounts werden von einer treuen Anhänger*innenschaft flankiert, was natürlich hilft, die eigenen Inhalte zu verbreiten. Von Vorteil war sicherlich auch, dass Accounts, die schon länger dabei sind, in der Regel vom Wachstum der Plattformen stärker profitieren als Profile, die später hinzugekommen sind.
Tobias Müller:
Können die demokratischen Kräfte diesen Rückstand aufholen?
Marcus Bösch:
Ich denke schon. Das liegt vor allem daran, dass TikTok weiter wachsen will. Und um weiter wachsen zu können, braucht es neue Nutzer*innen. TikTok hat also ein großes Interesse daran, neu Hinzugekommene „anzufüttern“. Die Funktionslogik der Plattform begünstigt das. Denn anders als etwa Facebook operiert TikTok nicht auf Grundlage des Social-Circle-Prinzips. Bei Facebook und Co. folgen sich Nutzer*innen gegenseitig und bekommen dann die Inhalte ihres Bekanntenkreises in die Timeline gespielt. Diese Logik kennen wir auch aus dem Alltag. Wenn ich in einer neuen Stadt einen Friseur suche, dann frage ich in der Regel erst einmal Bekannte und Freund*innen. Marc Zuckerberg, der Gründer von Facebook, beschrieb das einmal, indem er sagte, dass alle Nachrichten, die Nutzer*innen erreichen sollen, dies auch tun werden, und zwar einfach deswegen, weil irgendjemand aus meinem Kreis die Nachricht an mich herantragen wird, wenn ich bis dahin nicht schon selbst auf sie gestoßen bin.
Tobias Müller:
Und wie funktioniert TikTok?
Marcus Bösch:
Die Plattform hat sich für eine algorithmische Kuratierung entschieden. Schaue ich mir also die viel zitierten Katzenvideos an, dann wird mir der Algorithmus weitere Katzenvideos auf meine For-You-Seite spülen – und ab und an ein Hundevideo, um mich entweder auch dafür zu begeistern oder um mich kurz aufzuregen. Dementsprechend kann jeder Beitrag von jedem noch so kleinen Profil sofort viral gehen, wenn er in die richtigen Feeds gespült wird. Es braucht nicht erst Tausende Follower*innen, das richtige Video im richtigen Moment reicht aus. Das hat aus Sicht der (neu) Beitragenden natürlich eine Sogwirkung.
Dass die AfD auf TikTok eine deutlich größere Fanbase hat als die demokratischen Parteien, ist für sie ohne Zweifel trotzdem von Vorteil, die Verhältnisse sind aber keineswegs in Stein gemeißelt.
DEMENTSPRECHEND KANN JEDER BEITRAG VON JEDEM NOCH SO KLEINEN PROFIL SOFORT VIRAL GEHEN, WENN ER IN DIE RICHTIGEN FEEDS GESPÜLT WIRD.
Tobias Müller:
Sie führen den Erfolg der AfD auch darauf zurück, dass die Parolen recht simpel und daher leicht rüberzubringen sind. Wodurch zeichnet sich die Kommunikationsstrategie der Partei sonst noch aus?
Marcus Bösch:
Die griffigen Parolen und das immer wiederkehrende Narrativ von den abgehobenen Eliten, gegen die die AfD für „das“ Volk ins Feld zieht sind nur ein Teil der Kommunikationsstrategie. Der französische Psychologe Jacques Ellul hatte über Propaganda schon in den 1960er-Jahren gesagt, dass sie immer total ist. Und das heißt: Das eine zu tun, bedeutet nicht, das andere zu lassen. Das trifft auch auf die Kommunikation der AfD zu.
Neben den bekannten Parolen versucht die Partei auch Querverbindungen herzustellen und neue Zielgruppen anzusprechen. Ein perfektes Beispiel ist Maximilian Krah. Der hat kürzlich beispielsweise gezielt ältere Menschen mit Migrationsgeschichte adressiert und davor gewarnt, dass ihre Kinder in der Schule mit queeren Positionen in Kontakt kämen und in diese Richtung manipuliert werden sollten. Das ist ein Versuch, neue radikalkonservative Allianzen zu schmieden. In anderen Videos spricht er dann Incel-Männer an und in wieder anderen wird das akademische Milieu angegriffen. Es wird also ein sehr breites Angebot unterbreitet, mit dem sich verschiedenste Gruppen identifizieren können.
Darüber hinaus werden auch Inhalte verbreitet, die zum Mitmachen anregen oder spaßig daherkommen, was für TikTok natürlich sehr wichtig ist, denn jede Interaktion ist erst einmal gut. Ein Beispiel waren Jugendfotos von Alice Weidel. Auf „Cheri, Cheri Lady“ von Modern Talking wurden unter die ersten beiden „Cheri“ im Refrain besagte Jugendfotos gelegt, bevor unter „Lady“ ein aktuelles Bild von Weidel lag, auf dem häufig „Meine Kanzlerin“ zu lesen war. Politik und Entertainment in einem. Das kann aber natürlich nicht nur die AfD.
Tobias Müller:
Wer noch?
Marcus Bösch:
Ein spannender Fall, den ich mir aktuell genauer anschaue, ist das israelische Militär. Nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober wurde naheliegenderweise viel darüber gesprochen, wie die Hamas die Geschehnisse im digitalen Raum verwertet. Aber natürlich ist auch Israel aktiv geworden.
Kurz nach Beginn der Invasion tauchten Hunderte private Accounts von meist weiblichen, meist attraktiven Mitgliedern der israelischen Streitkräfte auf, auf denen mit oder ohne Waffe und mit einem klaren Fokus auf der zur Schau gestellten Körperlichkeit durchs Video getanzt wurde. Meine Hypothese ist, dass es sich um eine konzertierte Aktion handelte, um die Streitkräfte zum einen freundlicher erscheinen zu lassen und zum anderen Nutzer*innen auf diesem Content zu halten. Denn natürlich gab und gibt es auch viele Accounts, die die Situation im Kriegsgebiet thematisieren und auf denen die israelische Armee in einem anderen Licht präsentiert wird.
Gleichzeitig sind die israelischen Streitkräfte auch inhaltlich in den Sozialen Medien aktiv und versuchen, ihre Sicht auf das Kriegsgeschehen zu verbreiten. Auch hier gilt: Das eine tun heißt nicht, das andere zu lassen.
Tobias Müller:
Staatlich orchestrierte Kommunikation in den Sozialen Medien ist spätestens seit dem US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 ein Thema. Damals hieß es, Russland hätte die öffentliche Debatte zugunsten Donald Trumps beeinflusst, unter anderem mit dem Streuen von Falschinformationen. Woran sind solche Kampagnen zu erkennen?
Marcus Bösch:
Das ist Gegenstand des HybriD-Forschungsprojekts, in dem ich zusammen mit Prof. Dr. Christian Stöcker an der HAW Hamburg und einem Projektkonsortium in Berlin und Münster arbeite. Wir versuchen, ein Tool zu entwickeln, mit dem wir ausmachen können, wann Desinformations- und Propagandakampagnen auf uns zurollen. Ein Frühwarnsystem, wenn man so möchte.
Klar ist, dass es nicht reicht, sich Beiträge anzuschauen, denn natürlich steht nirgends „mit freundlichen Grüßen aus dem Desinformationsministerium des Staates XY“. Man kann aber bestimmte Muster beobachten. Zunächst auf quantitativer Ebene, etwa wenn bestimmte Begriffe aus dem Nichts nach oben gespült oder abflachende Trends auf einmal wieder gepusht werden. Das kann dann natürlich auch nur mit dem neuesten Taylor-Swift-Album zusammenhängen und einen solchen Fall würden wir natürlich nicht weiterverfolgen.
In anderen Fällen lässt sich dann aber mit Blick auf den Inhalt hinter den Verbreitungszahlen sehen, dass Begriffe oder auch bestimmte Mitmachformate gekapert wurden. Es gab beispielsweise ein völlig unpolitisches Tanzvideo, das von russischer Seite zu Propagandazwecken umfunktioniert wurde. Sound und Ästhetik blieben so wie in den ursprünglichen Beiträgen. Allerdings wurden die Videos russischer Influencerinnen – in diesem Fall ging es um Frauen – um den Textblock „Echte russische Frauen grüßen so“ ergänzt, worauf die Protagonistinnen der Videos mit ihren Händen das Z-Zeichen formten. Auf diese Weise kommt diese Symbolik in den Feed Tausender Nutzer*innen, die eigentlich nur Tanzvideos schauen wollten. Dieses Kapern ist auf TikTok besonders leicht, weil Sound und Ästhetik eben schon da sind und nur noch kopiert beziehungsweise leicht modifiziert werden müssen.
KAPERN IST AUF TIKTOK BESONDERS LEICHT, WEIL SOUND UND ÄSTHETIK EBEN SCHON DA SIND UND NUR NOCH KOPIERT BEZIEHUNGSWEISE LEICHT MODIFIZIERT WERDEN MÜSSEN.
Tobias Müller:
Was können demokratische Kräfte tun, um auf TikTok erfolgreich für ihre Überzeugungen einzutreten?
Marcus Bösch:
Vor allem sollten sie nicht nichts tun. Dass der Bundeskanzler jetzt auf TikTok ist, ist also in jedem Fall ein gutes Signal. Je mehr Demokrat*innen sich auf der Plattform bewegen, desto größer die Wahrscheinlichkeit dafür, dass demokratische Inhalte unter die Leute gebracht werden.
Jenseits dessen haben wir sehen können, dass zivilgesellschaftlicher Druck einen Effekt hat. Campact beispielsweise hat Hunderttausende Unterschriften dafür gesammelt, dass bestimmte AfD-Profile von TikTok gesperrt werden, und damit immerhin erreicht, dass etwa der angesprochene Account von Maximilian Krah so runtergedrosselt wurde, dass Krah nicht mehr die Reichweite generieren kann, die er vorher hatte. Ohne diese Aktion und die mediale Aufmerksamkeit hätte TikTok ganz sicher nichts Derartiges unternommen.
Schließlich gab es auch koordinierte Aktionen auf der Plattform selbst, zum Beispiel den Hashtag #reclaimTikTok. Der kam ursprünglich aus der Klimabewegung und die Überlegung dahinter lautete: „Wir wollen hier eigentlich nicht sein, aber es geht nicht mehr anders und wir müssen anfangen, der extremen Rechten etwas entgegenzusetzen.“ Dafür bietet sich ein solch breiter Hashtag natürlich an, hinter dem sich alle möglichen demokratischen Kräfte versammeln können. Die SPD-Europaabgeordnete Katharina Barley kann ihn ebenso nutzen wie Luisa Neubauer von Fridays for Future.
Wie erfolgreich das am Ende sein wird, kann natürlich niemand wissen. Im Zuge der Anti-AfD-Demonstrationen zu Beginn des Jahres konnten wir aber schon einmal sehen, dass die AfD-Umfragewerte nicht zum Steigen verdammt sind, sondern durchaus wieder sinken können. Warum sollte das nicht auch im digitalen Raum funktionieren, wenn sich demokratische Kräfte zusammentun?
Tobias Müller:
Vor allem in den USA wird seit geraumer Zeit darüber diskutiert, ob TikTok nicht einfach verboten werden sollte. Was halten Sie von solchen Überlegungen?
Marcus Bösch:
Hintergrund dieser Debatte in den USA ist weniger die Sorge um den öffentlichen Diskurs als vielmehr die Angst vor Einflussnahme durch die Regierung Chinas, schließlich gehört TikTok zu Bytedance, einem chinesischen Unternehmen. Ich denke, man sollte die diesbezüglichen Bedenken nicht herunterspielen. Dass Unternehmen in Autokratien weniger frei agieren können als in liberalen Demokratien ist ohne Zweifel richtig. Tatsächlich sind auch einzelne Missbrauchsfälle dokumentiert, etwa das Abgreifen von Bewegungsdaten einer US-Journalistin, um auf diese Weise etwaige undichte Stellen in den eigenen Reihen ausmachen zu können.
Andererseits ist die Annahme, dass jemand im Politbüro in Peking sitzt und verfügt, dass auf TikTok fortan nur noch diese oder jene Inhalte zu sehen sein dürfen oder dass die Plattform nur noch bestimmte Beiträge pushen soll, ungeachtet solcher Fälle einigermaßen naiv. Da wird gegenwärtig von Seiten der Verbotsbefürworter*innen vor allem mit Mutmaßungen gearbeitet. Natürlich gibt es staatlich orchestrierte Kommunikation und natürlich versucht China ebenso wie Russland, aber eben auch wie die USA, sich im eigenen Interesse in die Debatten auf einer derart reichweitenstarken Plattform einzubringen. Aber die Kommunistische Partei Chinas verfügt ganz sicher nicht darüber, was 1,2 Milliarden Nutzer*innen weltweit zu sehen bekommen.
Jenseits dessen scheint mir die Debatte – auch in Deutschland – von Unwissen geprägt zu sein. Wenn beispielsweise Roderich Kiesewetter behauptet, TikTok könne auf die Mails seiner Nutzer*innen zugreifen, dann ist das, bei allem Respekt, schlicht und ergreifend falsch. Ähnlich absurd waren Einlassungen im US-Senat, wo ernsthaft die Frage gestellt wurde, ob TikTok auf das WLAN zugreifen könne. Natürlich braucht eine App das Internet, aber nur weil ich als Nutzer*in online gehe und TikTok auf meinem Endgerät installiert habe, kann Bytedance nicht meine Gedanken auslesen bzw. steuern, was ich zu denken habe.
DA WIRD GEGENWÄRTIG VON SEITEN DER VERBOTSBEFÜRWORTER*INNEN VOR ALLEM MIT MUTMASSUNGEN GEARBEITET.
Tobias Müller:
Und welche Accounts schauen Sie sich an?
Marcus Bösch:
Um ehrlich zu sein, verstehe ich manchmal selbst nicht, warum ich mir bestimmte Beiträge anschaue – und das, obwohl ich mich seit Jahren mit der Plattform auseinandersetze. Letzte Woche wurden mir beispielsweise aus dem Nichts Schlagzeugvideos auf meine For You Page gespielt, obwohl ich mit diesem Instrument in meinem Leben noch nichts zu tun hatte, weder in der analogen noch in der digitalen Welt. Angeschaut habe ich mir die Beiträge trotzdem. Mein Feed wäre vielleicht ein durchaus interessanter Fall für die Psychoanalyse.
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