Ramadan in der Schule – Zum Umgang mit widersprüchlichen Anforderungen im Schulalltag
14. Februar 2025 | Religion und Religiosität, Unkategorisiert
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Symbolbild / KI-generiertes Bild mit Midjourney

Der Fastenmonat Ramadan ist für viele muslimische Schüler*innen eine besondere Zeit im Jahr, geprägt vom Zusammensein mit der Familie und vom Fasten zwischen der Morgendämmerung und Sonnenuntergang. Pädagog*innen in der Schule fragen sich in dieser Zeit oft: Inwiefern sollte und kann ich das Fasten berücksichtigen? Wo bietet der Ramadan Anknüpfungspunkte für den Unterricht oder die Arbeit mit den Eltern? Wie verhindere ich, dass Schüler*innen benachteiligt werden? In diesem Beitrag erklärt Annika Koch, warum Pädagog*innen im Ramadan häufig mit widersprüchlichen Anforderungen umgehen müssen, macht Vorschläge, wie Pädagog*innen diese reflektieren können und gibt Anregungen für die Schulentwicklung.

Das Verhältnis von Religion und Staat in Deutschland ist von einem grundlegenden Widerspruch geprägt: Einerseits gilt nach Art. 4 GG die Religionsfreiheit und weltanschauliche Neutralität des Staates, andererseits privilegieren staatliche Strukturen oft christliche Traditionen (Großbölting 2016). Auch in Schulen ist die Annahme weit verbreitet, dass säkularisiert christliche Traditionen „neutral“ und allgemeingültig seien. Christliche Feiertage sind schulfrei, es gibt Weihnachtsferien und Osterferien, während sich Schüler*innen für andere religiöse Feiertage meist nur individuell freistellen lassen können. Christliche Bezüge zeigen sich regional auch auf unterschiedliche Weisen. So besteht in Bayern die Regel, christliche Kreuze in Klassenzimmern aufzuhängen, die als Symbol kultureller Traditionen definiert werden. In Berlin ist dagegen die Einstellung verbreitet, eine weltanschaulich neutrale Schule sollte ein Raum frei von jeglichen religiösen Symbolen und Praktiken sein. Dieses Verständnis von Neutralität ist gut vereinbar mit dem in Preußen historisch einflussreichen Protestantismus und seinem Ideal, Religion vor allem durch den individuellen Glauben zu leben – es schränkt allerdings die Religionsfreiheit für Menschen ein, die ihre Religion stärker körperlich ausdrücken, beispielsweise indem sie öffentlich religiöse Symbole tragen (Langer 2022).

Pädagog*innen arbeiten daher oft mit der Idealvorstellung, dass Religion für sie keine Rolle spielen sollte. Sie gehen davon aus, dass sie in ihrem Unterricht nicht über Religion sprechen brauchen und beispielsweise im Ramadan alles genauso laufen sollte wie sonst auch: Prüfungen, Ausflüge, Sportfeste, Unterricht. In der Praxis steht dies aber im Widerspruch zur pädagogischen Aufgabe, die Lebenswelt der Schüler*innen zu berücksichtigen und wertzuschätzen. Dies konnte ich etwa gemeinsam mit meinen Kolleg*innen bei der Forschung für unsere Studie Bodyrules beobachten, die von 2018 bis 2020 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert und von Prof. Dr. Maja Apelt geleitet wurde.

Im Rahmen dieser Forschung führten wir Interviews mit Lehrer*innen, Schulsozialarbeiter*innen, Schüler*innen und Vertreter*innen von Verbänden durch. Dabei zeigte sich, dass widersprüchliche Erwartungen zum Umgang mit Religion im Schulsystem meist nicht auf übergeordneter Ebene gelöst werden, sondern an die einzelnen Pädagog*innen weitergegeben werden – ohne dass systematisch thematisiert wird, wie sie damit gut umgehen können. Viele der befragten Pädagog*innen nahmen Diskussionen über widersprüchliche Anforderungen im Zusammenhang mit Religion als unbezahlte Überstunden wahr oder als zusätzliches Engagement, das eigentlich nicht als Aufgabe eingeplant ist. Wo es für Pädagog*innen nicht möglich ist, die widersprüchlichen Anforderungen zu erfüllen, suchen sie nach Rechtfertigungen und Legitimationsstrategien – und verschieben dabei die Verantwortung auf die Schüler*innen und Eltern. Wo Ungewissheit im Umgang mit widersprüchlichen Anforderungen besteht, greifen Pädagog*innen teilweise auf bekannte Stereotype zur Bewältigung zurück. Dieser Zusammenhang zeigte sich bei der Analyse unserer Interviews immer wieder.

Beispielsweise berichtete uns ein Lehrer von seinen Schüler*innen im Ramadan:

„Und wenn die morgens in die Schule kommen, also eigentlich kannst du die schlafen legen. Hier bitte schön ist dein Kissen, und dann kommst du in einer Woche wieder, so ungefähr. Weil, man kann mit denen nicht arbeiten, also jedenfalls nichts Intellektuelles. Man kann vielleicht einen Text lesen oder so, auch nicht dann inhaltlich groß besprechen. Oder Arbeiten schreiben geht nicht. Also wenn Prüfungszeiträume sind, ist es auch immer schwierig zu der Zeit, muss man sagen. Klassenfahrten kann man da nicht machen. Also wir müssen uns schon sehr einstellen. Also Sportfeste gehen zu der Zeit auch nicht.“

Im Zitat fällt auf, dass der Lehrer auf eine stereotypisierende Weise über seine Schüler*innen spricht. Er bezieht sich auf alle Schüler*innen als wären sie eine homogene Gruppe – dass es natürlich auch zwischen muslimischen Schüler*innen starke Unterschiede gibt, oder ob und wie jemand fastet, berücksichtigt er nicht. Zugleich berichtet der Lehrer davon, dass er Rücksicht auf die Schüler*innen nimmt: Er vermeidet Klassenarbeiten im Ramadan, geht im Unterricht auf die Schüler*innen ein, legt Klassenfahrten und Sportfeste außerhalb des Fastenmonats. Diese Rücksichtnahme erlebt er allerdings als Defizit, sie entspricht nicht der Erwartung, im Ramadan dieselbe Leistung zu fordern wie sonst auch. Die stereotypisierende Darstellung der Schüler*innen rechtfertigt aus seiner Sicht das Abweichen von dieser Erwartung.

Ähnlich berichtete uns eine Schulsozialarbeiterin aus einer anderen Schule:

„Wir machen teilweise unsere Freizeiträume auf, damit die Kinder in der Aktivpause schlafen können, sich zurücknehmen können, zurückziehen können. Wir haben […] auch eine Art Gebetsraum eingerichtet, weil ja dann auch noch mal das Gebet anders gewertet wird. Also da probieren wir schon, auch viel möglich zu machen und gleichzeitig ist es ja eigentlich, wenn man es streng betrachtet, Schule ein Raum der frei von Glauben funktionieren muss. Aber das würde nicht funktionieren.“

Auch in diesem Zitat stellt die befragte Schulsozialarbeiterin die Rücksichtnahme auf die Schüler*innen als normabweichend dar. Auffällig ist, dass ihre Schule zwar viele Wege gefunden hat, um auf das Fasten im Ramadan einzugehen und zugleich die schulische Leistung der Jugendlichen zu fördern – dennoch werden diese Arbeitsergebnisse nicht als fachlich begründeter und pragmatischer Umgang mit diversifizierten und demographisch veränderten Lebenswelten dargestellt, auf den man stolz ist. Im Verlauf des Interviews führt die Sozialarbeiterin weiter aus:

„Weil viele Kinder auch von den Elternhäusern zum Beispiel beim Zuckerfest, ich glaube es ist regulär ein schulfreier Tag anberaumt. Wir machen dann immer als Lehrerkollegium oder Erwachsenenkollegium einen Studientag, wo wir uns inhaltlichen Themen widmen. […] Also es ist schon auch, und das glaube ich, Ramadan steht in vielen Familien ganz weit oben. Da tut auch eine Schulbildung nicht wirklich was zur Sache. Also da merkt man schon welche Mechanismen eigentlich gelten, nämlich Glaube, Kultur, die Religion. Und erst dann kommt so was wie Schulbildung oder ähnliches.“

In diesem Zitat wird die Rücksichtnahme auf Ramadan und Zuckerfest auch mit einer abwertenden Einschätzung der Familien der Schüler*innen gerechtfertigt. Die Sozialarbeiterin unterstellt, Bildung wäre den Familien nicht wichtig und begründet dies mit der Beobachtung, dass viele Schüler*innen sich an einem der wichtigsten religiösen Feiertage freistellen lassen. Bildung stellt die Sozialarbeiterin hier in einen Gegensatz zu Religion und Kultur. Dabei lässt sie auch außer Acht, dass Religion und Kultur durchaus Teil des schulischen Bildungsauftrages sind und oft Anknüpfungspunkte für Aktivitäten im Unterricht bieten können.

In unserer Forschung haben wir mehrheitlich mit Pädagog*innen gesprochen, die sich engagieren und sich für ihre Schüler*innen einsetzen. Dennoch wird in den Interviews ein Zusammenhang deutlich zwischen der Reproduktion antimuslimischer Stereotype und den Normen der Organisation Schule, den Maja Apelt und ich (2023) als eine Form der institutionellen Diskriminierung bezeichnen. Mit dem Begriff Institutionelle Diskriminierung meinen wir Benachteiligungsstrukturen, die dauerhaft und unabhängig von den einzelnen Akteuren bestehen. Sie sind in alltägliche Routinen, Normen oder Entscheidungen von Organisationen eingelagert und bestehen oft fort, obwohl die Beteiligten eigentlich fair sein wollen (Hasse und Schmidt 2022). In unseren Beispielen haben Stereotype und abwertende Äußerungen gegen Muslim*innen eine Funktion: Sie rechtfertigen es für die Pädagog*innen, auf die religiösen Bedürfnisse der Schüler*innen einzugehen, ohne die Norm infrage zu stellen, dass der Ramadan in der Schule kein Thema sein sollte. Diskriminierende Äußerungen (in diesem Fall abwertende Aussagen über das Fasten und die Familien der Jugendlichen) werden also begünstigt durch schulische Organisationsstrukturen (in diesem Fall die widersprüchlichen Anforderungen, sowohl den säkularisiert christlichen Normen zu entsprechen als auch die Religionsfreiheit zu berücksichtigen)  (Apelt und Koch 2023).

Schulbehörden und Vorgesetzte nehmen Einfluss darauf, welche Erwartungen Pädagog*innen im Ramadan wahrnehmen. So berichteten uns Pädagoginnen beispielsweise von Emails der Schulleitung an das Kollegium, in denen ausführlich auf mögliche Gefahren und Probleme durch das Fasten hingewiesen wird, aber kein Wort über positive Aspekte des Fastens. Dabei könnte der Ramadan, wie andere religiöse Feste auch, gute Anknüpfungspunkte für den Unterricht bieten (beispielsweise in Bezug auf Fragen der Sinnstiftung, Enthaltsamkeit oder interreligiöse Gemeinsamkeiten.)

Im Unterschied dazu schilderten andere Pädagog*innen auch Erfahrungen, in denen sie sich durch die Schulleitungen oder die Schulaufsicht darin bestärkt fühlten, die religiöse Vielfalt der Schüler*innen anzuerkennen und im eigenen Handeln zu berücksichtigen – beispielsweise indem sie sich gegenüber ihren Schüler*innen dafür offen zeigten, ein Fastenbrechen an der Schule zu feiern oder Fortbildungen unterstützen. Eine Lehrerin erzählte uns über das Fastenbrechen an ihrer Schule:

„Die Eltern fanden das sehr positiv […]. Also die Schulleiterin war auch da, sie haben sich sehr bei ihr bedankt und haben ihr nochmal ne Mail geschrieben. Also das kam sehr gut an, weil sie sich halt wertgeschätzt gefühlt haben. Also ich fands auch sehr schön als Abend, man hat auch die Eltern mal kennengelernt.“

Anregungen für die Praxis

Weder Pädagog*innen noch die Schulentwicklung können alle widersprüchlichen Erwartungen zum Umgang mit dem Ramadan aufheben. Aber sie können den Umgang mit widersprüchlichen Anforderungen als professionelle Aufgabe anerkennen.

Praxisleitfäden können Inspiration dazu bieten, wie Pädagog*innen mit widersprüchlichen Anforderungen im Ramadan umgehen können (z. B. Amadeo Antonio Stiftung 2021; ufuq.de o. D.). Zudem ist es wichtig sich die Chancen bewusst zu machen, die der Ramadan mit sich bringt: Beispielsweise kann er Anlass sein, um Eltern und Schüler*innen besser kennenzulernen, Wertschätzung auszudrücken und über wichtige Themen des Lebens zu sprechen.

Welche Umgangsweise sich für die einzelne Schule und die einzelnen Klassen eignet, hängt immer von den konkreten Gegebenheiten ab. Hilfreiche Reflexionsfragen sind in diesem Kontext:

  • Wie wird Religion bei uns bewusst oder unbewusst thematisiert?
  • Inwiefern wird dies der religiösen Vielfalt der Schüler*innen gerecht und inwiefern nicht?
  • Welche Möglichkeiten gibt es noch?
  • Welche Möglichkeiten haben Schüler*innen, ihre Interessen in der Schule einzubringen?
  • Welche informalen Arrangements haben wir zum Umgang mit religiösen Festen gefunden? Inwiefern wäre es möglich, diese zu formalisieren?

Häufig werden im Rahmen der Schulentwicklung temporäre Arbeitsgruppen eingerichtet. In der Organisationsforschung hat sich gezeigt, dass strategische Arbeitsgruppen zur Förderung von Diversität vor allem dann vielversprechend sind, wenn sich auch ein Mitglied der höheren Leitungsebene inhaltlich daran beteiligt, sich das Problem bewusst macht und Lösungen sucht (Dobbin und Kalev 2022). Weniger bewährt hat sich hingegen der Versuch, Fragen diversitätssensibler Organisationsentwicklung auszulagern. Wenn Schulen Beauftragte für den Umgang mit Diversität benennen, kann deren Arbeit gestärkt werden, indem dafür Funktionsstellen mit reduziertem Stundendeputat eingerichtet werden (Gomolla et al. 2016).

Schulbehörden können Schulentwicklung und Pädagog*innen unterstützen, beispielsweise indem sie ausreichend Supervisionsangebote zur Verfügung stellen, den Umgang mit religiöser Vielfalt stärker im Referendariat verankern und inhaltliche Inspiration sowie materielle Ressourcen zur Verfügung stellen.

Allgemein stehen Herausforderung im Umgang mit religiöser Vielfalt oft in Wechselwirkung zu anderen pädagogischen Problemen, beispielsweise einer geringen Partizipation der Schüler*innen und Eltern in schulinternen Angelegenheiten. Ein guter Umgang mit Diversität bietet daher für Schulen insgesamt große Chancen, um Engagement und pädagogische Beziehungen zu stärken.

Literaturverzeichnis

Amadeo Antonio Stiftung. (2021). 30 Tage. Der Fastenmonat in der offenen Jugendarbeit. Leitgedanken für einen guten Umgang miteinander. https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/publikationen/30-tage-der-fastenmonat-ramadan-in-der-offenen-jugendarbeit/

Apelt, M. & Koch, A. (2023). Ramadan in der Schule – Widersprüchliche Anforderungen und schulische Reaktionen. In A. Mensching, N. Engel, C. Fahrenwald, M. Hunold & S. M. Weber (Hrsg.), Organisation zwischen Theorie und Praxis (S. 215–229). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.

Dobbin, F. & Kalev, A. (2022). Getting to Diversity: What Works and What Doesn’t. Cambridge, MA: Belknap Press.

Gomolla, M., Schwendowius, D. & Kollender, E. (2016). Qualitätsentwicklung von Schulen in der Einwanderungsgesellschaft. Hamburger Beiträge zur Erziehungs- und Sozialwissenschaft (16). https://openhsu.ub.hsu-hh.de/server/api/core/bitstreams/82455fdc-1d4b-40f3-bd64-a4f2ce096bed/content

Großbölting, T. (2016). Warum sich die deutsche Gesellschaft mit religiöser Vielfalt so schwer tut – eine (zeit-)historische Erkundung. In U. Willems, A. Reuter, & D. Gerster (Hrsg.), Ordnungen religiöser Pluralität. Wirklichkeit – Wahrnehmung – Gestaltung (S. 245–268). Frankfurt am Main: Campus Verlag.

Hasse, R. & Schmidt, L. (2022). Institutionelle Diskriminierung. In U. Bauer, U. H. Bittlingmayer & A. Scherr (Hrsg.), Handbuch Bildungs- und Erziehungssoziologie (S. 883-900). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.

Langer, A. (2022). The Protestant Spirit of the Berlin Neutrality Law: An Old-New Kulturkampf against Religious Minorities in the Public Sphere. German Studies Review 45 (2), 283–305. doi:10.1353/gsr.2022.0024

ufuq.de. (o.D.). Alle Jahre wieder …! Ramadan in der Schule und Pädagogik. Fragen und Konflikte im Schulalltag rund um den Fastenmonat. https://ramadan.ufuq.de/

 

© Bildnachweis: KI-generiertes Bild mit Midjourney

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