Die Kritik an Privilegien steckt in einer Krise. Laut Erziehungswissenschaftler Markus Rieger-Ladich haben sich Teile der identitätspolitischen Linken in eine Sackgasse manövriert. Was sind die Ursachen für diese Entwicklung? Der Autor zeichnet die historische Transformation des Privilegien-Begriffs nach und plädiert für einen Neustart. Damit dieser gelingen und die Privilegienkritik auch aktuellen gesellschaftlichen Konflikten angemessen begegnen kann, weist er auf drei Herausforderungen hin, die berücksichtigt werden sollten.
Vier Wochen nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 im Süden Israels erschien im Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“ ein ganzseitiger Artikel, der aus der Vielzahl der Beiträge zum Thema herausstach. Die Autorin Nele Pollatschek skizzierte nicht allein geopolitische Folgen des Terrorangriffs und gewährte Einblicke in jüdische Gemeinschaften, die nun mit der bitteren Erkenntnis leben müssen, dass sie ihrer „Grundversicherung“ – Israel als sicherer Zufluchtsort – beraubt wurden. Zugleich protokollierte sie die Geschichte eines schmerzhaften Erwachens und stellte Zeugnisse derer zusammen, die sie die „internationale Linke“ nennt. Darunter finden sich über Social-Media-Kanäle geteilte Fotos von Paraglidern, versehen mit dem Satz „I stand with Palestine“, die Rede eines Professors der Cornell University, der erklärt, über den Terrorangriff der Hamas „hoch erfreut“ zu sein, sowie der Hinweis auf eine Petition, die von rund 30 Studierendenorganisationen der Harvard University initiiert wurde. Keine 24 Stunden nach dem Massaker erklärten Studierende der Elite-Universität, die Verantwortung für die mehr als 1.000 getöteten Zivilist:innen liege allein bei der israelischen Regierung. Die Hamas erwähnten sie nicht, deren Gräueltaten bezeichneten sie als „Ereignisse“.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (APuZ) 21/2024. Wir danken den Herausgeber*innen und dem Autor für die Erlaubnis, den Artikel hier wieder zu veröffentlichen.