Verschärfter Migrationsdiskurs – Auswirkungen auf die Demokratie. Eine Podcastfolge von KN:IX talks
19. Juni 2025 | Antimuslimischer Rassismus, Demokratie und Partizipation, Diversität und Diskriminierung, Radikalisierung und Prävention

Illustration eines Kopfhörers mit Sprechblasen / KI-generiertes Bild mit Midjourney

Welche gesellschaftlichen Folgen hat es, wenn Migration in politischen Debatten – wie derzeit in Deutschland – zunehmend als Problem gerahmt wird? Wie wirkt sich dieser Diskurs auf das Vertrauen muslimischer Communitys in Politik und Institutionen aus? Und inwiefern können islamistische Bewegungen von diesen Entwicklungen profitieren? In Folge #32 von KN:IX talks diskutieren wir diese Fragen mit Dr. Cihan Sinanoğlu, Leiter des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa) am DeZIM-Institut. Dabei sprechen wir mit ihm auch über Handlungsbedarfe für Prävention und Politik.

Der Podcast KN:IX talks ist ein Angebot von KN:IX connect | Verbund Islamismusprävention und Demokratieförderung. In diesem Podcast sprechen wir mit Fachleuten aus Wissenschaft und Praxis über aktuelle Entwicklungen, Herausforderungen und Lösungsansätze in der Islamismusprävention und Demokratiebildung. Der Podcast bietet Einblicke in die Arbeit engagierter Akteur*innen und beleuchtet gesellschaftliche Zusammenhänge rund um die Themen Islamismus, Radikalisierung und Prävention.

Im Verbund KN:IX connect arbeiten wir mit IFAK e.V., modus|zad und der BAG RelEx zusammen. Bei ufuq.de ist Judith De Santis für den Podcast verantwortlich.

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Transkription dieser Folge:

(Musik im Hintergrund)

Cihan Sinanoğlu:

Was ich aber schon glaube, ist, dass sich durch die neuen politischen Kräfte, die jetzt auch in den Parlamenten sitzen, der Diskurs nochmal verschärft hat.

Alle empirischen Untersuchungen, die ich kenne, zeigen eigentlich in die entgegengesetzte Richtung. Und zwar ist Diversität, Vielfalt, Pluralität, etwas, was von der Gesellschaft gewollt wird und gewollt ist – es ist alltägliche Realität.

Also es sollte eine Frage von Extremismusprävention sein, wenn man schon darüber spricht, dass die beste Extremismusprävention politische Teilhabe ist. Und die muss ich gewährleisten.

(Musik Intro KN:IX talks)

Charlotte Leikert (KN:IX connect):

KN:IX talks – der Podcast zu aktuellen Themen der Islamismusprävention.

Judith De Santis (KN:IX connect):

Neues Team, neues Design und neue Fragen, die uns in den Themenfeldern Islamismus, Radikalisierung und Präventionsarbeit beschäftigen. Willkommen zurück oder willkommen zum ersten Mal bei KN:IX talks. Mein Name ist Judith De Santis, ich verantworte weiterhin die Folgen für ufuq.de – schön, dass du reinhörst.

Welche gesellschaftlichen Folgen hat es, wenn Migration in politischen Debatten, wie derzeit in Deutschland, zunehmend als Problem und Bedrohung gerahmt wird und dabei pauschal migrantische Gruppen mit bestimmten Eigenschaften in Verbindung gebracht werden? In dieser 32. Folge sprechen wir über den aktuellen Migrationsdiskurs, seine Entwicklung in den letzten Jahren und die Auswirkungen migrationsfeindlicher Narrative und Debatten auf das Zugehörigkeitsgefühl von Menschen mit Migrationsgeschichten und von Rassismus betroffene Communities, etwa von Muslim*innen. Wir fragen auch – inwiefern können islamistische Bewegungen diese Entwicklung nutzen und was ist in der Präventionsarbeit und politisch jetzt gefordert?

Über all das spreche ich heute mit Cihan Sinanoğlu, Leiter des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors, kurz NaDiRa, am DeZIM-Institut in Berlin. Erst vor kurzem ist der Monitoring-Bericht 2025 des NaDiRa erschienen. Die Ergebnisse der Studie zeigen unter anderem: von Rassismus betroffenen Menschen in Deutschland verlieren zunehmend das Vertrauen in Politik und staatliche Institutionen.

Herzlich Willkommen, Cihan Sinanoğlu, schön, dass du heute hier bist.

Cihan Sinanoğlu:

Vielen Dank für die Einladung.

Judith De Santis:

Lass uns mit einem kurzen Blick auf die aktuelle Lage starten: Seit dieser Woche ist die neue Koalition aus Union und SPD offiziell im Amt. Migration wird im Koalitionsvertrag vor allem im Kontext von Sicherheit und Abgrenzung thematisiert. Wie blickst du darauf? Wird dieser Ton in der Migrationspolitik auch in den kommenden Jahren der Konsens sein?

Cihan Sinanoğlu:

Ich würde erstmal grundsätzlich sagen, dass die Debatten und Auseinandersetzungen um Migration in demokratischen Gesellschaften geführt werden müssen. Das zweite ist, dass es auch legitim ist, hier unterschiedliche Positionen zu haben. Das Problem ist aber an den gegenwärtigen Diskussionen und Diskursen – aber auch, wenn man sich die letzten drei, vier Jahre anguckt – dass es eine krasse Verschiebung gegeben hat in der Art und Weise, wie wir über Migration sprechen. Du hast es schon angedeutet: Es ist ein Diskurs, der sich nur um die Fragen von Ordnung, von Sicherheit, von Kriminalität dreht. Und diese Versicherheitlichung hat das Sprechen über illegale Migration erst möglich gemacht.

Denn die Frage ist, wenn es kaum legale Wege gibt, um nach Deutschland zu kommen, ist im Grunde genommen fast jede Migration, die stattfindet – vor allem die Fluchtmigration – illegal. Und wenn man dann die illegale Migration mit bestimmten Stigmatisierungen verknüpft, wie Kriminalität, Terror, Islamisierung oder mit Fragen von Gewalt gegen Frauen, und das auf eine pauschale Art und Weise macht, dann setzt man den Ton. Und daraus entwickeln sich dann bestimmte politische Forderungen, aber auch eine klare politische Praxis, die damit einhergeht, dass man Gesetze verschärfen will, Grenzkontrollen einführen will. Dieser Ton – das, was jetzt gesetzt würde – wird in den nächsten Jahren voraussichtlich anhalten. Und das ist nicht nur in Deutschland so, sondern europaweit oder weltweit ist die Frage der Migration eine, die sehr umstritten ist.

Judith De Santis:

Du hast gesagt, dass es eine Verschiebung gibt. Wenn wir auf die Entwicklung von Debatten zu Migration schauen: Die Migrationsdebatte ist in Deutschland zunehmend polarisiert und Positionen, die früher eigentlich klar dem rechten Rand zugeordnet wurden, dringen jetzt verstärkt in den politischen Mainstream. Und es wird eine schleichende Normalisierung rechter Narrative etabliert. Wie beobachtest du diesen Prozess der Verschiebungen des Sag- und Machbaren? Und was bedeutet das für den gesellschaftlichen Umgang mit Migration?

Cihan Sinanoğlu:

Das ist ja das, was ich am Anfang gesagt habe. Nicht alles, was wir in der Gesellschaft über Migration diskutieren, ist gleich rassistisch. Es ist absurd, das zu behaupten und das ist auch nicht so. Doch auf der anderen Seite gibt es bestimmte Diskursstränge, die klar rassistisch sind. Und das ist das, was ich meine, wenn man pauschal bestimmte Gruppen mit bestimmten Eigenschaften in Verbindung bringt. Also mit Kriminalität, mit einem Verlust von Ordnung, mit einem Verlust eines Sicherheitsgefühls. Dann sind diese Diskurse klar rassistisch. Und das Sprechen über Migration ermöglicht es, rassistisch zu sprechen, ohne Rassismus in den Mund zu nehmen.

Deswegen würde ich sagen: Ja, es handelt sich auf jeden Fall um eine Verschleierung des Diskurses – aber diese findet nicht erst in den letzten drei, vier Jahren statt. Sondern, wenn man sich mit Rassismus in Deutschland beschäftigt, dann artikuliert er sich vor allen Dingen über die Migration. Das bedeutet nicht, dass Migration ursächlich für Rassismus ist, das ist sie natürlich nicht, aber Rassismus artikuliert sich dadurch. Was du mit Verschleierung angesprochen hast: Rassismus bahnt sich seine Wege, weil er sich nicht mehr biologistisch begründen muss, sondern auch über Kultur begründet. Dabei wird Kultur selbst wieder essentialisiert, so wie das beim biologistischen Rassismus der Fall war. Es heißt dann: ‚die waren schon immer so‘, ‚die sind anders als wir‘. Und sie auch mit bestimmten Eigenschaften in Verbindung bringt.

Judith De Santis:

Woran kann es liegen, dass die anderen Parteien den Positionen der AfD kaum widersprochen haben?

Cihan Sinanoğlu:

Weil man der Meinung ist oder vielleicht auch nur das Gefühl hat, dass das gesellschaftlich gewollt ist. Alle empirischen Untersuchungen, die ich kenne, zeigen eigentlich in die entgegengesetzte Richtung. Und zwar ist Diversität, Vielfalt, Pluralität etwas, was von der Gesellschaft gewollt wird und gewollt ist – es ist alltägliche Realität. Das ist auch das, was wir mit postmigrantischen Realitäten beschreiben. Also eine Normalität, ein Alltag mit Migration. Ich frage mich, wie man diese Realitäten einfach nicht anerkennen kann. Wir haben mit dem Rassismusmonitor 2022 eine Studie rausgebracht, wo 90 Prozent dieser Gesellschaft sagen: Rassismus ist ein Problem in dieser Gesellschaft. Auch da konnten wir feststellen, dass sehr viele Menschen auch bereit sind, dafür auf die Straße zu gehen, zu demonstrieren, zu protestieren. Antirassismus ist auch Konsens in dieser Gesellschaft.

Auf der anderen Seite ist es so: Wenn die Politik Migration als Problem rahmt, sie immer wieder als größte Sorge ausruft und betont, dass es sich um ein Problem handelt, das gelöst werden muss, braucht man sich nicht wundern, dass in der Gesellschaft auch der Eindruck entsteht: ‚Naja, wenn es ein Problem ist, dann muss es halt gelöst werden.‘ Damit meine ich nicht, dass es keine Probleme gibt, auch das wäre absurd zu behaupten. Aber die Unverhältnismäßigkeit, was für einen Raum das eingenommen hat, ist ein Problem. Und das kennen wir aus der Rassismusforschung – das ist eine Form der Verschiebung. Ich verschiebe alles Unheil dieser Welt auf bestimmte Gruppen und entledige mich dann der Debatte und Auseinandersetzung mit sozialen Fragen.

Judith De Santis:

Siehst du in den letzten Jahren wirklich eine neue Entwicklung, dass Migration und Rassismus immer stärker miteinander verknüpft werden? Manche sagen auch, etwa Menschen mit Migrationsgeschichte, das sei keine neue Krise, sondern schon seit Jahren ein Krisenzustand. Wie bewertest du das – ist der sogenannte „Rechtsruck“ ein neues Phänomen oder kommt das nur gerade im Diskurs so deutlich rüber?

Cihan Sinanoğlu:

Das ist immer eine Frage der Perspektive. Rassismus ist immer eingeschrieben in Konjunkturen. Wenn man einen Blick in die Geschichte wirft, wird deutlich: Rassismus existierte natürlich schon immer – vor 1945 sowieso, im Nationalsozialismus ohnehin, aber auch in der postnationalsozialistischen Gesellschaft war es ja nicht so, dass der Rassismus plötzlich weg war. Das war vielleicht das Selbstbild dieser Gesellschaft, dass es so etwas wie eine Stunde Null gibt und man jetzt antirassistisch sei, aber dem ist ja nicht so.

Das sehen wir sowohl an den Anwerbungen von Gastarbeiter*innen – von den Medizinchecks bis hin zu der Unterbringung – wo die Menschen im Grunde genommen zusammengepfercht waren und hier gefälligst nur zu arbeiten hatten. Sie hatten keine politischen Rechte, da ihnen auch die Staatsbürgerschaft verwehrt wurde. Über den NSU brauchen wir nicht sprechen – aber auch danach, Halle, Hanau, die Ermordung von Walter Lübcke. Es sind so viele Dinge passiert, sodass ich sagen würde: Klar, was bedeutet denn Rechtsruck? Rassismus, wenn man das als soziales Verhältnis versteht und sich vor allem historisch anguckt, war immer schon da.

Was ich aber schon glaube, ist, dass sich durch die neuen politischen Kräfte, die jetzt auch in den Parlamenten sitzen, der Diskurs nochmal verschärft hat. Das war in der Vergangenheit, so habe ich es persönlich nicht wahrgenommen, nicht in der Intensität sichtbar. Das sieht man ja jetzt an den ganzen Verschärfungen, die es gegeben hat und sicherlich noch weiter geben wird. Doch auch wenn ich mit meinen Freund*innen und Bekanntenkreisen spreche: Es gibt ganz viele Leute, die über Abwanderung nachdenken, die einen Plan B oder C haben. Was würde passieren, wenn die AfD an die Macht kommt? Das ist schon eine sehr neue Qualität.

Judith De Santis:

Kommen wir zu den Auswirkungen dieser Diskurse auf Betroffene. Die kürzlich erschienenen Studien des NaDiRa zeigen, dass migrationsfeindliche Debatten und die Darstellung von Migration als Bedrohung bei rassismusbetroffenen Menschen, insbesondere bei Muslim*innen, zu einem Vertrauensverlust in Politik und Institutionen führen. Da könnte man zunächst denken – ohne die Studienergebnisse im Detail zu kennen – ein gewisses Maß an Skepsis in Politik kann doch auch förderlich sein für die Meinungsbildung und demokratischen Prozesse. Doch hier scheint mehr dahinterzustecken. Wie lässt sich dieser Vertrauensverlust erklären?

Cihan Sinanoğlu:

Ich würde einen Unterschied machen zwischen ’skeptisch zu sein‘ oder ‚kritisch zu sein‘ mit Politik und staatlichen Institutionen. Das ist etwas Gesundes für eine Demokratie. Das wird gebraucht. Vertrauen ist etwas anderes, denn es geht tiefer als Skepsis. Wenn ich kein Vertrauen habe in die staatlichen Institutionen, in die Politik, in die Bundesregierung, kann das dazu führen, dass ich mich abwende oder bestimmte Räume nicht mehr aufsuche. Und das ist demokratiegefährdend. Denn Demokratien sind angewiesen auf, Hannah Arendt würde wohl sagen, handelnde Subjekte. Wir brauchen Menschen, die handeln, die zusammenkommen und gemeinsame Interessen einbringen, also einen Weltbezug herstellen. Wenn dieser Weltbezug wegfällt, ist das eine gefährliche Entwicklung.

Aus der Forschung wissen wir: Migrantische Gruppen, wenn sie nach Deutschland oder westliche Länder kommen, haben oft ein viel höheres Vertrauen in politische Institutionen als die Mehrheitsbevölkerung – etwa, weil sie aus Kontexten kommen, in denen Menschenrechte nicht gewahrt sind, wo Gewalt vorherrscht. In unseren Daten sehen wir, wir haben uns zwei Zeiträume angeguckt, 2022 und 2024: Anfangs ist das Vertrauen sehr hoch – in Politik, Bundesregierung, Gesundheitssystem, selbst in die Polizei. Überall höher als bei Menschen ohne Migrationshintergrund. Und dieses Vertrauen nimmt ab. Bei Muslim*innen fällt es unter das Vertrauenslevel der Menschen ohne Migrationshintergrund.

Wir haben nicht erhoben, warum das so ist, aber wir haben Hypothesen dazu entwickelt. Und ich denke, es ist naheliegend, was das ist. Eine dieser Hypothesen bezieht sich auf den Migrationsdiskurs: Auch wenn Politiker*innen immer wieder versichern, dass nicht alle gemeint seien, dass diejenigen, die nach Deutschland kommen und sich integrieren wollen und arbeiten wollen, dass die nicht gemeint seien – sondern nur Kriminelle, die Menschen, die sich nicht integrieren wollen – verstehen viele Menschen, insbesondere Muslim*innen, schon sehr genau, um was es hier geht: Das ist die Art und Weise, wie die Migrationsfrage mit Muslim*innen und dem Islam verknüpft wird – und mit der Frage, ob das eigentlich zusammenpasst: Deutschland, der Islam und die Muslim*innen. Es handelt sich schon immer um einen Prozess der Veranderung. Muslim*innen erscheinen immer als das, was anders ist, was gefährlich ist, was Probleme bereitet. Genau das bleibt bei den Menschen hängen. Das sehen wir auch in der Art und Weise, wie in den letzten Jahren über syrische, afghanische oder irakische Geflüchtete gesprochen wurde.

Das andere ist sicherlich auch das, was nach dem 7. Oktober passiert ist – dem terroristischen Anschlag der Hamas. Vor allem aber, wie in Deutschland danach berichtet wurde. Wir sehen seither einen Anstieg antisemitischer Vorfälle, aber auch antimuslimischer Vorfälle. Und wenn man sich die aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten anguckt, insbesondere in Israel, ist bei vielen Muslim*innen und Palästinenser*innen der Eindruck entstanden, dass ihre Perspektive, ihre Position, ihr Leid, ihr Schmerz in der medialen und politischen Debatte kaum vorkommen.

Ich denke, diese beiden Entwicklungen tragen wesentlich zum Vertrauensverlust bei. Aktuell ist nicht erkennbar, dass sich das bald ändert und das finde ich besorgniserregend.

Judith De Santis:

Wozu kann so ein Vertrauensverlust noch führen? Kann er politische Mobilisierung auslösen – oder eine Identitätskrise?

Cihan Sinanoğlu:

Wir haben erhoben, was für einen Einfluss Diskriminierung und rassistische Diskriminierung auf die psychische Gesundheit von Menschen hat. Hier zeigt sich ein klarer Zusammenhang: Je mehr Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen, desto schlechter schätzen Betroffene ihren psychischen Zustand ein. Wir haben insbesondere nach Angst- und Depressionsstörungen gefragt. Dazu würde ich auch so einen Identitätskonflikt zählen.

Ein anderer Aspekt ist sicherlich auch: Wenn ich nicht gesehen, nicht gehört, nicht anerkannt, nicht einbezogen werde, gibt es sehr viele extremistische Bewegungen, Organisationen oder Vereine, die diese Menschen mit Kusshand aufnehmen. Also es sollte eine Frage von Extremismusprävention sein, wenn man schon darüber spricht, dass die beste Extremismusprävention politische Teilhabe ist. Und die muss ich gewährleisten. Das bedeutet, dass ich die Themen, das Leid, die Emotionen und die Bedürfnisse dieser Menschen in meine politischen Programme einbeziehen muss. Wenn ich das nicht tue, dann verliere ich diese Menschen.

Judith De Santis:

Wie können diese Entfremdungsprozesse – also die Tatsache, dass sich Menschen abwenden, das Vertrauen verlieren, vielleicht weniger Resilienz verspüren – von islamistischen Bewegungen instrumentalisiert werden? Inwiefern profitieren diese davon?

Cihan Sinanoğlu:

Sie profitieren davon, indem sie auf diese „Wir-gegen-Die“-Dichotomie setzen und die Stigmatisierung, die bestimmte Bevölkerungsgruppen erfahren, nutzen, um diese für ihre extremistischen Bestrebungen fruchtbar zu machen. Es ist naheliegend, dass Menschen, die sich entfremdet fühlen und nicht gesehen fühlen von den etablierten politischen Institutionen, empfänglicher für ideologische Angebote werden können – in diesem Fall für Vereine und Organisationen mit extremistischem Hintergrund.

Deshalb müsste es im ureigensten Interesse dieser Gesellschaft liegen, Räume anzubieten, um diese Menschen nicht zu verlieren. Das ist jetzt eine sehr extreme Form – ich finde es ehrlich gesagt schon schlimm genug, wenn Menschen den Mut verlieren oder Angst haben, sich politisch zu äußern oder zu engagieren. Und die andere Form ist natürlich umso schlimmer.

Auf der anderen Seite, weil das jetzt einen starken Opferdiskurs annimmt, und dahingehend habe ich auch schon argumentiert, entstehen auch neue Allianzen und Solidaritäten. Das macht, finde ich, Mut. Gruppenübergreifend werden Bündnisse geschmiedet, Menschen gehen auf die Straße, leisten Widerstand. Ich denke, das muss man immer im Auge behalten: die Perspektive der Agency, der Selbstwirksamkeit. Denn wir sind nicht nur Opfer der Verhältnisse, sondern auch handelnde Subjekte, die durchaus in der Lage sind, Verhältnisse zu verändern.

Judith De Santis:

Bleiben wir nochmal beim Thema Extremismus. Es gibt das Phänomen der Co-Radikalisierung – also unbeabsichtige Folgen staatlicher Maßnahmen zur Radikalisierungsbekämpfung, die Radikalisierung eher verstärken als eindämmen. Etwa wenn nach dschihadistischen Anschlägen in Deutschland die Migrations- und Asylpolitik verschärft wird und Menschen pauschal unter Generalverdacht geraten. Kann eine solche sicherheitszentrierte, pauschalisierende und diskriminierende Migrationsdebatte selbst zu mehr Entfremdungsprozessen – und in manchen Fällen sogar zu neuen Radikalisierungsprozessen – führen? Gibt es hier eine Art Wechselwirkung?

Cihan Sinanoğlu:

Das ist sehr hypothetisch, wie wir darüber sprechen, aber ich finde das naheliegend. Also dieser Zirkel, den du gerade beschrieben hast, erscheint mir erstmal logisch. Deshalb wundert mich auch oft, wie auf islamistische Anschläge reagiert wird. Der global agierenden Terror wird einfach nicht verstanden. Man glaubt, mit Grenzschließungen und restriktiver Einwanderungspolitik das Problem lösen zu können. Aber dem ist ja nicht so. Es gibt zahlreiche Beispiele von Anschlägen in Europa, bei denen die Täter – gemessen an Integrationsindikatoren wie Bildung oder gesellschaftlicher Teilhabe – zuvor als gut integriert galten. Das kann also nicht das Argument sein.

Die Frage muss vielmehr lauten: Wie können wir präventiv verhindern, dass solche Anschläge überhaupt passieren? Dazu gehören Bildungsarbeit, soziale Sicherheit, psychosoziale Beratungsstrukturen, also so viel, und das ist natürlich viel anstrengender. Vermutlich braucht es am Anfang mehr Ressourcen, die wir da reinstecken müssen, und die Ergebnisse sind nicht gleich am nächsten Tag sichtbar. Aber wenn man ernsthaft dem islamistischen Terror etwas entgegensetzen will, bräuchte es diese Maßnahmen.

Stattdessen wird immer versucht, das Problem auf dem kurzen Wege zu lösen, und das Thema wird emotionalisiert, indem man behauptet: ‚Wir stoppen die Migration und dann hören auch diese Anschläge auf.‘ Doch das verkennt einfach die Realitäten.

Judith De Santis:

Du hast es gerade gesagt: Die wirksamste Maßnahme gegen Extremismus oder Radikalisierung ist politische Teilhabe. Sprechen wir über die Handlungsoptionen der Zivilgesellschaft. Die universelle Islamismusprävention – also die Primärprävention, in der auch wir von ufuq.de tätig sind – ist nicht sicherheitspolitisch ausgerichtet, sondern richtet sich an Fachkräfte und an, in Anführungsstrichen, „ganz normale Jugendliche“, die keinerlei Anzeichen für Radikalisierungsprozesse zeigen. Wie schätzt du das ein? Wie kann die Islamismusprävention oder die Präventionsarbeit mit einzelnen Jugendliche – also Pädagogik, politische Bildung und Demokratieförderung – diesem Migrationsdiskurs, auf der von dir beschriebenen Verschiebung der Debatten, gegensteuern?

Cihan Sinanoğlu:

Du würdest wahrscheinlich bessere Antworten geben als ich – doch es steckt ja schon in deiner Frage drin. Ich denke, wir müssen uns erstmal in der Analyse einig sein. Also wie und unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen entstehen diese Ideologien, wo entstehen sie, wie entfalten sie sich, in welchen Strukturen? Und welche Personengruppen sind besonders empfänglich? Wenn diese Analyse steht, liegt es nahe, wo angesetzt werden muss. Das hast du gerade angesprochen – mit pädagogischen Konzepten, Bildungsarbeit, Demokratie- und Empowermentarbeit.

Ich glaube, vielen – vor allem jenen an entscheidenden politischen Schnittstellen – ist noch nicht klar, wie wichtig diese Arbeit ist. Wir sehen ja immer wieder, wie prekär die Strukturen sind, in denen diese Arbeit geleistet wird. Genau das ist die große Gefahr: Inmitten von Rechtsruck und der Normalisierung des Rassismus, werden die Projekte, die diese wichtige Arbeit machen, weiter prekarisiert und müssen zunehmend um ihre Förderung kämpfen. Dabei müssten diese Strukturen jetzt eigentlich gestärkt werden – stattdessen erleben wir einen drastischen Rückbau.

Judith De Santis:

Welche politischen Signale braucht es jetzt, was sind eure Handlungsempfehlungen an die Politik? Was ist wünschenswert, damit sich junge Menschen mit Migrationsgeschichten sicher als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft fühlen?

Cihan Sinanoğlu:

Die Auseinandersetzung mit Rassismus und die Förderung von Antirassismus müssen oberste politische Priorität haben. Sie müssen ganz oben auf der Agenda aller politischen Akteur*innen stehen, denn Rassismus zersetzt Demokratie, gefährdet sie und bedroht in seiner extremsten Form Menschenleben. Ohne rassistische Ideologie wäre die AfD undenkbar.

Es braucht ein Bewusstsein dafür, dass es Rassismus gibt. Wir haben die Daten, die das belegen. Jetzt geht es darum, wie man das in politische Maßnahmen übersetzt. Das ist nicht so einfach, denn Rassismus selbst ist komplex. Er zeigt sich nicht nur in unseren alltäglichen Interaktionen, sondern er ist auch in Institutionen vorherrschend – in Routinen und Handlungsabläufen. Man sieht das im Schulsystem, auf dem segmentierten Arbeitsmarkt und an anderen Stellen, wo Rassismus in die Organisation von Arbeit und Bildung eingeschrieben ist und dadurch Ungleichheiten produziert und reproduziert.

Auch auf struktureller Ebene wirkt Rassismus: in der Art und Weise, wie unser ökonomisches System aufgebaut ist, wie wir Grenzregime definieren, wie wir Staatsbürgerschaft definieren, also Ein- und Ausschlüsse von Menschen. Es sind unterschiedliche, komplexe Wirkmechanismen, die gemeinsam betrachtet werden müssen. Deswegen gibt es nicht eine Maßnahme und dann werden wir Rassismus, der über mehrere Jahrhunderte historisch gewachsen ist, los. Vielmehr ist es wichtig, diese unterschiedlichen Ebenen zusammenzudenken – und dafür braucht es erstmal eine Strategie. Und so eine Stratege war in der Vergangenheit, wohlwollen ausgedrückt, nicht immer erkennbar. Daher würde ich sagen, es braucht eine Anti-Rassismus-Strategie, aus der dann auch politische Handlungsempfehlungen folgen.

Judith De Santis:

Ihr habt ja bereits Handlungsempfehlungen formuliert, auch im Rahmen eurer Studien, was auf politischer Ebene jetzt nötig ist. Kannst du die an einem konkreten Beispiel nochmal erläutern? Klar, es braucht eine Anti-Rassismus-, eine Anti-Diskriminierungs-Strategie. Aber wie sollte es deiner Meinung nach etwa in Schulen oder Institutionen wie der Polizei konkret anders laufen?

Cihan Sinanoğlu:

Die Schule ist ein sehr gutes Beispiel, weil hier nicht nur eine einzelne Maßnahme reicht. Institutionellen Rassismus oder Diskriminierung zeigen sich bereits daran, dass Schulen unterschiedlich ausgestattet sind, je nach Bezirk. Klassengrößen variieren ebenfalls stark, je nach Bezirk. Oft schicken Eltern ihre Kinder nicht auf eine Schule, auf der beispielsweise viele migrantische Kinder sind. Sie ziehen eher in andere Bezirke, wo es, in Anführungsstrichen, „bessere“ Schulen gibt. Die es auch gibt, weil sie besser ausgestattet sind und dort bessere Lernbedingungen existieren. Das ist also eine strukturelle Problematik. Dazu kommt die Lehrer*innenausbildung: Antirassismus und Rassismuskritik müssten verpflichtender Bestandteil im Curriculum des Lehramtsstudiums sein.

Es müsste flächendeckend unabhängige Beratungs- und Meldestellen geben, bei denen Rassismus und Diskriminierung angezeigt und bearbeitet werden können. Wo es eine Strategie gibt, wie man mit rassistischen und diskriminierenden Fällen in der Schule umgeht. Dazu gehört auch eine Diversifizierungsstrategie für Lehrkräfte.

Doch auch da würde ich sagen: Für mich hat eine gute Rassismuskritik immer etwas Universelles. Es geht es nicht darum, bestimmte Gruppen besser zu stellen als andere, sondern Bildung so zu gestalten, dass alle auf eine gerechte und gleiche Art davon profitieren. Denn die Forschung zeigt: Die soziale Herkunft der Eltern ist entscheidend für den Bildungserfolg der Kinder. Und von dieser Bildungsungerechtigkeit sind auch weiße Arbeiter*innenkinder betroffen. Ein ganzheitlicher Ansatz müsste deshalb die sozialen Bedingungen der Eltern stärker in die Bildungsprozesse einbeziehen.

Du merkst, ich habe darauf keine konkrete Antwort, aber wir müssen diese Dinge viel stärker miteinander verschränken und uns von leichten, kurzfristigen und schnellen Lösungen verabschieden. Wichtig ist, sich dieser Komplexität bewusst zu werden, die Wirkmechanismen von Rassismus anzuerkennen und darauf aufbauend Strategien zu entwickeln, um gerechtes Lernen für alle zu ermöglichen.

Judith De Santis:

Das halte ich auch für wichtig, dass es zunächst eine allgemeine Anerkennung gibt.

Cihan Sinanoğlu:

Du hattest noch den Punkt Polizei angesprochen. Das ist sicherlich eine längere Diskussion für sich. Aber bleiben wir mal bei dem Beispiel der Polizei und stellen nur die Frage: Braucht es mehr Diversität in den einzelnen Institutionen, zum Beispiel in der Polizei?

Ich habe vorhin gesagt, dass es gut wäre, wenn es mehr Lehrer*innen mit Migrationshintergrund gäbe. Überträgt man diesen Gedanken auf die Polizei, stößt man an seine Grenzen. In Berlin haben glaube ich fast über die Hälfte aller Polizist*innen Migrationshintergrund. Doch hört damit Racial Profiling auf? Natürlich nicht. Das bedeutet, wenn ich wirklich Racial Profiling bekämpfen will, muss ich an die Ursachen ran und die Illegalisierung von Menschen beenden. Das heißt, ich muss Gesetze verändern, die Menschen überhaupt erst zu „Illegalen“ machen und wiederum bestimmte polizeiliche Praktiken ermöglichen, wie Grenzkontrollen, bei denen ich an Bahnhöfe und Flughäfen gehe und anfange zu schauen, welcher dieser Menschen, die ich jetzt hier an Grenzen vorfinde, sehen denn eigentlich „deutsch“ aus und wer nicht? Wer könnte Geflüchteter sein und wer nicht?

Damit speise ich Rassismus direkt in diese Praktiken ein. Und das lässt sich nicht schnell, aber relativ einfach in dem Moment lösen: Indem wir uns fragen, ob Menschen überhaupt „illegal“ sein sollten. Ob es ein Rechtssystem braucht, das Menschen zu „Illegalen“ erklärt, weil sie vor Flucht, Leid und Krieg fliehen? Das ist, aus meiner Sicht, eine größere gesellschaftliche Debatte, die wir führen müssen.

Und genau daran zeigt sich: Die Forderungen nach mehr Diversity oder Repräsentation allein verändern die Strukturen nicht. In vielen Fällen reproduzieren diese Maßnahmen die bestehenden Strukturen oder machen sie sogar noch restriktiver. Auch wenn das jetzt etwas polemisch klingt, aber: Worin soll diese Repräsentationspolitik münden? Wollen wir Reichtum und Armut diversifizieren? Oder wollen wir grundsätzlich darüber nachdenken, ob wir in einer Gesellschaft leben wollen, in der Armut und Reichtum so krass auseinanderklaffen und in der ein großer Teil dieser Gesellschaft in Armut lebt? Sind das nicht eigentlich die Fragen, die wir stellen müssen? Und wenn wir uns in diesen Repräsentationsdebatten verfangen, sehen wir nicht mehr die großen gesellschaftlichen Probleme und Verwerfungen. Ich glaube, da müssen wir hin. Und das ist wiederum die beste Antirassismuspolitik, die man machen kann.

Judith De Santis:

Vielen Dank für das Gespräch! Schön, dass du heute hier warst.

Cihan Sinanoğlu:

Vielen Dank für die Einladung.

Judith De Santis:

Damit sind wir am Ende dieser Folge angekommen. Unser Gespräch hat deutlich gemacht, wie sehr sich der Diskurs über Migration in Deutschland in den letzten Jahren verschärft hat, befeuert nicht zuletzt durch neue politische Kräfte, die inzwischen auch parlamentarisch vertreten sind.

Dieser migrationsfeindliche Diskurs trägt zur Stigmatisierung bei und hat, wie auch Studien des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors zeigen, das Vertrauen vieler von Rassismus betroffener Menschen, insbesondere muslimische Menschen, in Politik und staatliche Institutionen erschüttert. Die Folgen dieser Entwicklung sind besorgniserregend. Sie reichen von psychischer Belastung der Betroffenen bis hin zu einer Gefahr für demokratische Prozesse. Denn diese leben davon, dass Menschen sich beteiligen, sich einbringen und den Mut haben, gesellschaftliche Realität mitzugestalten.

In der nächsten Folge von KN:IX talks werfen die Kolleg*innen von IFAK, Verein für multikulturelle Kinder- und Jugendhilfe – Migrationsarbeit, einen Blick auf ein anderes, aber nicht weniger aktuelles Thema: Wie wirken sich die Machtverschiebungen in Syrien auf das Leben syrischer Migrant*innen in Deutschland aus? Sie sprechen unter anderem über die veränderte Wahrnehmung der islamistischen Organisation HTS und was das für die Islamismusprävention in Deutschland bedeutet.

Also bis dahin und vielen Dank fürs Zuhören.

(Musik Outro KN:IX talks)

Charlotte Leikert (KN:IX connect):

Dieser Podcast ist Teil von KN:IX connect | Verbund Islamismusprävention und Demokratieförderung. KN:IX connect wird umgesetzt von ufuq.de, modus|zad – Zentrum für angewandte Deradikalisierungsforschung, IFAK Verein für multikulturelle Kinder- und Jugendhilfe – Migrationsarbeit und der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus, kurz BAG RelEx. Alle Träger werden im Rahmen von KN:IX connect durch das Bundesprogramm Demokratie leben! des Bundesministeriums für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Weitere Förderung erhalten wir von der Landeskommission Berlin gegen Gewalt.

Der Podcast stellt keine Meinungsäußerungen des BMBFSFJ, des BAFzA oder der weiteren Mittelgeber dar. Für inhaltliche Aussagen und Meinungsäußerungen tragen die Publizierenden dieser Veröffentlichung die Verantwortung.

© Bildnachweis: KI-generiertes Bild mit Midjourney

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