Drei Fragen an Vildan Aytekin – Autorin der Analyse zu muslimischen „Red Pill“-Communitys und Mincels
8. Januar 2025 | Jugendkulturen und Soziale Medien, Radikalisierung und Prävention, Religion und Religiosität

Symbolbild; Bild: RoonZ nl/unsplash

Um das Phänomen der Mincels (muslimische Incels) besteht eine Forschungslücke. Dabei bilden Mincels eine spezifische Untergruppe der Incel-Communities ab – eine Bewegung, die im anglo-amerikanischen Raum bereits umfassend erforscht ist. Erziehungswissenschaftlerin Vildan Aytekin hat sich in der KN:IX-Analyse#18 mit dem Mincel-Phänomen befasst. Dafür hat sie explorativ eine Vielzahl von Beiträgen und Diskussionen in muslimischen Online-Communitys untersucht, die sich zu Incel-Themen äußern oder sich mit diesen identifizieren. Im Gespräch mit ufuq.de erläutert Aytekin die Verbindungen zwischen der Incelsphäre und Mincels an der Schnittstelle von Religion, Geschlechterdebatte und digitaler Subkultur.

Maike Tragsdorf (ufuq.de):

Frau Aytekin, was hat Sie dazu bewogen, sich mit dem spezifischen Phänomen der „Mincels” – muslimischen Incels – zu beschäftigen?

Vildan Aytekin:

Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Mincels“ erschien mir wissenschaftlich relevant, da sie an der Schnittstelle von Religion, Geschlechterdiskursen und digitaler Subkultur ein interessantes Forschungsfeld eröffnet. Ziel war es, durch eine explorative Forschung die bestehende Forschungslücke um das Phänomen „Mincel“ zu schließen und ein differenzierteres Verständnis der vielschichtigen Dynamiken innerhalb der Incel-Communitys zu entwickeln.

Maike Tragsdorf (ufuq.de):

Diese Männer bezeichnen sich selbst nicht als Mincels, sondern nutzen die Bezeichnung der „Red Pill“-Muslime für sich. Was hat es mit dieser Metapher auf sich?

Vildan Aytekin:

Eine bedeutende Verbindung zwischen Mincels und der Incelsphäre ist die „Pillenmetapher“, welche als eine Art symbolische Erweckungs- oder Desillusionierungsmetapher fungiert. Inspiriert von dem Film Matrix (1999) dient die „Pillenmetapher“ dazu, die Gesellschaft in drei Gruppen zu teilen. Die „Blue Pill“ steht für unkritisches Akzeptieren gesellschaftlicher Verhältnisse. „Red Pill“ symbolisiert ein vermeintliches Erwachen zu „Wahrheiten“, die häufig verschwörungstheoretische und rechtsgerichtete Narrative einschließen. Und die „Black Pill“ vertritt ein fatalistisches Weltbild, das Attraktivität als genetisch vorbestimmt und unveränderbar ansieht.

Die Mehrheit der Incels identifiziert sich als „Red Pill“ oder „Black Pill“. Die Anwendung der Pillenmetapher in muslimischen Online-Communitys ist jedoch vielfältig und offenbart spezifisch islamische Reinterpretationen, die teils erheblich variieren. Die Untersuchung diverser muslimischer „Red Pill“-Communitys zeigt, dass diese Gruppen in vielen Aspekten Ähnlichkeiten mit der größeren Incelsphäre haben. Allerdings weisen sie durch ihre religiösen Referenzen besondere Dynamiken auf. Diese Unterschiede machen deutlich, dass die Incelsphäre kein monolithisches Phänomen darstellt, sondern sich aus diversen Subkulturen zusammensetzt.

Maike Tragsdorf (ufuq.de):

Die begriffliche Abgrenzung von der Incel-Community lässt vermuten, dass es Unterschiede zwischen beiden Gruppen gibt. Worin unterscheiden sich die Narrative muslimischer „Red Pill”-Communities von denen der allgemeinen Incel-Subkultur?

Vildan Aytekin:

In den muslimischen „Red Pill“-Communitys wird die Attraktivitätshierarchie der Incelsphäre oft als „materialistisch“ bewertet und eine alternative Hierarchie der Attraktivität („Spiritualität und Maskulinität“) eingeführt, die sich von derjenigen innerhalb der Incelsphäre unterscheidet. Ein weiterer zentraler Aspekt bei „Red Pill“-Anhängern innerhalb muslimischer Online-Communitys ist eine kritische Auseinandersetzung mit der in der Incelsphäre weit verbreiteten „Überbewertung von Sexualität“ und der „Hyperfokussierung auf sexuelle Frustrationen“. Die Ursachen für viele der Frustrationen, die in der Incelsphäre zur Sprache kommen, werden hier auf einen „falsch ausgerichteten“ westlichen Lebensstil zurückgeführt. Dieser sei stark von Hedonismus und Nihilismus geprägt. Der Lebensstil führe zu einer falschen Prioritätensetzung, bei der Sexualität über die spirituelle Entwicklung und das Streben nach göttlichem Wohlgefallen gestellt werde. Daraus ergibt sich eine grundlegende Umdeutung der Frustrationen, die innerhalb der Incelsphäre Ausdruck finden. Der „Red Pill“-Muslim „erkennt“ in diesen Emotionen eine Herausforderung bzw. eine „Prüfung“, die durch Selbstdisziplin, religiöse Hingabe und die Umorientierung auf das Jenseitige überwunden werden soll.

„Red Pill“-Muslime wollen Frauen beispielsweise nicht als manipulative oder oberflächliche Wesen betrachten, wie es häufig in der Incel-Ideologie der Fall ist, sondern als heilige und ehrwürdige Figuren, die durch ihre Rolle als Ehefrauen und Mütter besonderen Schutz und Respekt verdienen. Diese idealisierte Darstellung dient jedoch nicht nur der Aufwertung der Frauenrolle, sondern auch der Rechtfertigung von Geschlechterhierarchien. Hier wird nahtlos an Diskurse innerhalb der Manosphäre angeschlossen, die ähnlich eine Rückkehr zu patriarchalen Strukturen und traditionellen Geschlechterrollen fordert.

Maike Tragsdorf (ufuq.de):

Vielen Dank für das Interview!

 

Bildnachweis © RoonZ nl/unsplash

 

Die KN:IX-Analysen erfassen aktuelle Entwicklungen und Handlungsbedarfe im Phänomenbereich „Islamistischer Extremismus” und bieten praktische Ansätze und Empfehlungen an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis.

Die Beiträge im Portal dieser Webseite erscheinen als Angebot von ufuq.de im Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX).
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