Verschwörungsideologien, Antisemitismus und türkischer Nationalismus
15. Juli 2021 | Geschichte, Biografien und Erinnerung, Radikalisierung und Prävention, Religion und Religiosität

Verschwörungstheorien finden derzeit viel Aufmerksamkeit. In einem Beitrag zur aktuellen Broschüre „Down the rabbit hole. Verschwörungsideologien: Basiswissen und Handlungsstrategien“ der Amadeu Antonio Stiftung erklärt Ismail Küpeli, warum Verschwörungstheorien auch im türkischen Nationalismus in Deutschland eine Rolle spielen.

Die Erfolge rechtspopulistischer Kräfte in den letzten Jahren, in vielen Ländern weltweit, sind deutliche Hinweise dafür, dass die Sehnsucht nach einfachen Lösungen und Feindbildern wieder stärker wird. Komplexere und nicht eingängige Erklärungen für die zahlreichen politischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme und Konflikte sind dagegen kaum von Interesse. Vielmehr wird danach gefragt, wer „der Schuldige“ ist und wie man die Schuldigen beiseite schaffen kann. Hierbei werden bisweilen auch neue Feindbilder kreiert, die jedoch vielfach an die bekannten Figuren anknüpfen. So greifen aktuelle Verschwörungsideologien, wie etwa um den Philanthropen George Soros, auf klassische antisemitische Narrative zurück. Das Gros der Verschwörungsideologien, toxischen Narrative und Hate Speech bedient Elemente gesellschaftlich tradierter Ideologien der Ungleichheit und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.

Jedoch sind nicht alle Ideologien, die ein Reservoir für aktuelle Verschwörungsideologien bilden, gleichermaßen gut ausgeleuchtet. Während etwa die Forschung zum deutschen Antisemitismus eine Qualität und Quantität erreicht hat, die es inzwischen erlaubt, Forschungsdesiderate (und Leerstellen der Forschung) auszumachen, fehlt eine solche Grundlage in anderen Fällen, wie etwa beim türkischen Antisemitismus. In der Forschung zum deutschen Antisemitismus findet eine stetige Ausweitung und Vertiefung statt, und neue Themen kommen hinzu. In der Forschung zum türkischen Antisemitismus hingegen konnten nur grundlegende Ansätze etabliert werden, und viele Forschungsthemen sind noch gar nicht angesprochen. Im Kontext der Einwanderungsgesellschaft in Deutschland klafft insbesondere eine Forschungslücke bei der Frage, wie und wie weit der türkische Nationalismus toxische Narrative bereitstellt, die für antisemitische Verschwörungsideologien nutzbar sind.

Allerdings muss an dieser Stelle darauf verwiesen werden, dass die Analyse des türkischen Nationalismus, als eine mögliche Quelle für antisemitische Narrative, keineswegs die Rede vom „importierten Antisemitismus“ bestätigen soll. Es geht nicht darum, die Verantwortung für Judenfeindschaft in Deutschland zu externalisieren. Vielmehr zeigt sich, dass der türkische Nationalismus in Deutschland sich im Kontext der hiesigen Gesellschaft aktualisiert und verändert hat und diese Ideologie keineswegs außerhalb Deutschlands steht, sondern eine der nationalistischen Ideologien hierzulande ist. Aus dem türkischen Nationalismus in der Türkei selbst sind indes verschiedene Narrative in die aktuelle Ideologieform übertragen und reformiert worden, die für Verschwörungsideologien und antisemitische Hassrede relevant sind. Einige dieser Narrative sollen exemplarisch beleuchtet werden.

Die türkische „Dolchstoß“-Legende und ihre Folgen

Eines der historisch relevanten (Verschwörungs-)Narrative des deutschen Antisemitismus ist die „Dolchstoß“-Legende, der zufolge Jüdinnen*Juden u.a. für die Niederlage des Deutschen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg die Schuld tragen würden, weil sie sinnbildlich die kämpfenden Truppen hinterrücks erdolcht hätten. Eine vergleichbare Erzählung entwickelte sich wenige Jahre zuvor im Osmanischen Reich, einem Bündnispartner Deutschlands im Ersten Weltkrieg, ebenfalls, um die eigenen Misserfolge und Niederlagen zu erklären. Die türkisch-nationalistische Staatsführung beschuldigte wahrheitswidrig die nicht-muslimischen Bevölkerungsgruppen, darunter insbesondere die christlichen Armenier*innen. Mit der angeblichen Illoyalität und dem unterstellten Verrat der Armenier*innen in Kriegszeiten wurde der Genozid von 1915 legitimiert, bei dem über eine Million Armenier*innen im Osmanischen Reich ermordet wurden. Der Genozid selbst wird von türkischen Nationalist*innen geleugnet, und die Bestrebungen von Armenier*innen zur Anerkennung der Verfolgungen als Genozid werden als Bestätigung ihrer fortwährenden Illoyalität gesehen. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs und der Gründung der Republik Türkei war dieses verschwörungsideologische Narrativ gegen die nicht-muslimischen Minderheiten wirkmächtig, wie etwa die Vertreibung von über 1,2 Millionen Christ*innen aus dem Gebiet der heutigen Türkei 1923 zeigt. Auch ihnen wurde aufgrund ihrer religiösen Identität unterstellt, keine loyalen Staatsbürger*innen sein zu können. Das Beispiel der türkischen Regierung macht deutlich, dass der staatliche Umgang mit Verschwörungsideologien und antisemitischen Narrativen entscheidend dafür ist, ob sie politisch wirksam sind oder nicht.

Die türkische „Dolchstoß“-Legende bleibt auch deswegen bis heute wirkmächtig, weil sie durch die Staatsführungen im Osmanischen Reich sowie in der Republik Türkei zur offiziellen Erklärung für die Kriegsniederlagen wurde. Darüber hinaus wurde daraus ein Erklärungsmuster für viele andere Fälle. Es entwickelte sich dementsprechend zu einer gängigen Praxis, für real existierende oder vorgestellte Probleme Verschwörungen der äußeren und inneren Feinde gegen die türkische Nation verantwortlich zu machen. Insofern sind die Äußerungen des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, dass US-Philanthrop George Soros der „Strippenzieher“ hinter den Gezi-Protesten 2013 gegen die türkische Regierung sei, wenig überraschend. Erdogan hatte jedoch bei der Konstruktion seiner Verschwörungserzählung ein zentrales Problem: Zwar konnte er den äußeren Feind relativ einfach benennen, aber beim inneren Feind wurde es schwieriger. Denn der innere Feind wird im türkischen Nationalismus immer noch als nicht-muslimisch markiert, und die Gezi-Protestierenden ließen sich schlecht als Christ*innen oder Jüdinnen*Juden kennzeichnen.

„Dönme“, die Erzählung über die Krypto-Jüdinnen*Juden

Mit diesem „Problem“ hatten auch schon frühere türkische Nationalist*innen zu kämpfen, was angesichts des verschwindend kleinen Anteils von Christ*innen und Jüdinnen*Juden in der heutigen Türkei wenig überraschend ist. Sie haben dementsprechend eine „Lösung“ entwickelt, die darauf setzt, Menschen, die nicht jüdisch sind, zu Krypto-Jüdinnen*Juden zu erklären. Dabei behaupten sie, dass die sogenannten „Dönme“, eine kleine Gemeinschaft von Jüdinnen*Juden, die im 17. Jahrhundert im Osmanischen Reich zum Islam konvertiert waren (aber im nicht-öffentlichen Bereich jüdische Bräuche noch eine Zeitlang weiter pflegten), heute Politik, Gesellschaft und Medien in der Türkei kontrollieren würden. Weil die „Dönme“ sich dabei nicht als Jüdinnen*Juden zu erkennen gäben, sondern so aufträten, als seien sie Muslim*innen, können türkische Nationalist*innen jeden verdächtigen, ein „Dönme“ zu sein – der Gegenbeweis ist schlicht nicht zu leisten. Wenn Krypto-Jüdinnen*Juden, die sich als Muslime ausgeben, sich verschworen haben, um die Türkei aus dem Schatten heraus zu kontrollieren, wie das antisemitische Narrativ besagt, wie kann dann bewiesen werden, dass dies nicht stimmt? Jedes Argument, das dieses Narrativ in Frage stellt, wird von den türkischen Nationalisten als Trick der „Dönme“ interpretiert, die weiter ihre Verschwörung geheim halten wollen.

Anschlussfähigkeit und Räume der Sagbarkeit

Obwohl das „Dönme“-Narrativ keineswegs unbekannt ist und Staatspräsident Erdogan grundsätzlich nicht davor zurückschreckt, antisemitische Narrative zu bedienen, hat er zwar mit der Hetze gegen George Soros eine antisemitische Aktualisierung der „Dolchstoß“-Legende geliefert, aber die „Dönme“-Erzählung für sich nicht genutzt. Die Gründe dafür liegen in der Beobachtung, welche Narrative staatlich und damit gesamtgesellschaftlich etabliert und akzeptiert sind. Während die „Dolchstoß“-Legende faktisch zur Staatsdoktrin in der Türkei wurde, ist dies im Falle der „Dönme“-Erzählung nicht der Fall. Die Räume der Sagbarkeit sind für diese Erzählung deutlich eingeschränkt: So können Autor*innen dieses Narrativ bedienen, Fernsehmoderator*innen darüber sprechen, als sei es real; zum offiziellen Narrativ wird es jedoch nicht, und keine relevante politische Partei wird darüber ihre Kampagnen betreiben. Die antisemitische Erzählung über die „Dönme“ wird zugelassen und toleriert, aber nicht aktiv eingesetzt von der Staatsführung. Das macht deutlich, dass der staatliche Umgang mit Verschwörungsideologien und antisemitischen Narrativen entscheidend dafür ist, ob sie politisch wirksam sind oder nicht.

Zivilgesellschaftliche Initiativen können solche Ideologien der Ungleichheit und Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit nicht wirksam bekämpfen, wenn sie von staatlichen Institutionen im Stich gelassen oder behindert werden. Dies erleben Initiativen wie etwa „Irkçılığa ve Milliyetçiliğe DurDe!“ („Stoppt Nationalismus und Rassismus!“), die immer wieder toxische Narrative, die von Medien und politischen Akteuren forciert werden, aufdecken. Aber dieses Aufdecken allein führt nicht dazu, dass solche rassistischen und antisemitischen Diskurse bekämpft und eingedämmt werden könnten.


 

Dieser Beitrag erschien zuerst in der kürzlich erschienenen Handreichung der Amadeu Antonio Stiftung „Down the Rabbit Hole. Verschwörungsideologien: Basiswissen und Handlungsstrategien“. Wir danken der Stiftung und dem Autor für die Erlaubnis, den Beitrag hier wiederveröffentlichen zu dürfen.

Skip to content