Unkritisches Weißsein – Die Entwertung der Rassismuserfahrungen von Personen ost- und südosteuropäischer Herkunft
20. April 2023 | Diversität und Diskriminierung, Geschichte, Biografien und Erinnerung

Symbolbild. Bild: Emma Frances Logan/unsplash.com

In den letzten Jahren ist es in Deutschland im Rahmen der Rassismuskritik üblich geworden, sich auf Konzepte der „Critical Whiteness“ zu berufen. Personen ost- oder südosteuropäischer Herkunft können aber ihre Erfahrungen im Paradigma von Schwarz und weiß nicht unterbringen. Dadurch wird ein Teil des rassistischen Apparates unsichtbar gemacht. Mark Terkessidis meint: Wir sollten Redeweisen aus den USA nicht unkritisch übernehmen, sondern uns bemühen, Begriffe zu entwickeln, die dem deutschen Kontext gerecht werden.

Wer ist von Rassismus betroffen? Können auch Weiße Rassismus erleben? Und ist weiß in dem Fall das gleiche wie weiß? Die eigentliche Frage ist, ob diese Fragen etwas mit der hiesigen Situation zu tun haben oder ob ein aus den USA übernommenes Schema die falschen Fragen auftauchen lässt. In den letzten Jahren ist es in Deutschland im Rahmen der Rassismuskritik üblich geworden, sich auf ein Konzept namens „Critical Whiteness“ zu berufen. Weiß, heißt es, stelle die normative Position in einer rassistischen Gesellschaft dar. In diesem Sinne wäre die Behauptung korrekt, dass es keinen Rassismus gegen weiß geben kann. Das Problem allerdings ist, dass das so verstandene Weißsein häufig mit weißer Hautfarbe verwechselt wird – und dann wird es deutlich schwieriger. Die jüngsten Angriffe auf Unterbringungen von Geflüchteten aus der Ukraine zeigen, dass „Weißsein“ keinen Schutz gegen rassistische motivierte Gewalt darstellt. Historisch gesehen, sind in Deutschland Personen mit „weißer“ Hautfarbe auf eine geradezu dramatische Weise von Rassismus betroffen gewesen – das betrifft nicht nur Juden, sondern auch Personen, die als „slawisch“ betrachtet wurden oder auch Südosteuropäer:innen. Ein Blick in die Geschichte lässt daher ein auf Weißsein basierendes Schema der Rassismuskritik als ungeeignet für den deutschen Kontext erscheinen.

Wer ist PoC?

Wie erwähnt, ist „critical whiteness“ ein wichtiger Bezugspunkt in den Konzepten von Rassismus geworden. Allerdings ist nicht wirklich klar, was damit gemeint ist – ein theoretisches Konzept mit diesem Namen existiert eigentlich gar nicht. In den USA gibt es bereits seit den 1970er Jahren die „Critical Race Theory“ und spätestens seit den 1990ern die sogenannten „Whiteness Studies“. Critical Race Theory ist die Bezeichnung für eine Reihe von Positionen, die in erster Linie aus dem juristischen Bereich kommen. Im Gefolge der US-Bürgerrechtsbewegung ging es darum, eine Gesetzgebung zu befördern, die Rassismus nicht länger als individuellen, motivgeleiteten, intentionalen Akt betrachtet, sondern als ein in die Gesetzgebung eingelassenes, gesellschaftliches Ordnungsprinzip. Darüber hinaus war die Frage, wie Erfahrungen von Rassismus vor Gericht „erzählt“ werden können und behandelt werden oder wie verschiedene Formen von Diskriminierung in bestimmten Konstellationen zugunsten von anderen Formen vernachlässigt werden (Stichwort: Intersektionalität). In den Whiteness-Studies wiederum wurde versucht, das Weißsein als historisches Phänomen zu rekonstruieren und seine „wages“ zu verstehen – allerdings dezidiert im Rahmen der Situation in den USA. [1]

Während die Critical Race Theory initial „black experiences“ thematisierte, hat sich der Fokus erweitert, um die Erfahrungen von Personen mit anderen Hintergründen oder Zugehörigkeiten einzubeziehen, die gewöhnlich als „People of Color“ adressiert werden (teilweise wird diese Bezeichnung noch weiter spezifiziert, um rückwirkend „black“ oder „indigenious“ einzubeziehen). Dieser Begriff wird mittlerweile auch in Deutschland verwendet, um Personen zu bezeichnen, die von Rassismus betroffen sind. In einem Aufsatz von 2009 hat Kien Nghi Ha geschrieben, PoC beziehe sich „auf alle rassifizierten Menschen, die in unterschiedlichen Anteilen über afrikanische, asiatische, lateinamerikanische, arabische, jüdische, indigene oder pazifische Herkünfte oder Hintergründe verfügen. Er verbindet diejenigen, die durch die weiße Dominanzkultur marginalisiert sowie durch die Gewalt kolonialer Tradierungen und Präsenzen kollektiv abgewertet werden.“ [2] Diese Definition weist allerdings eine Reihe von Problemen auf. Zum einen könnte Augusto Pinochet als jemand mit lateinamerikanischer Herkunft rückblickend auch als PoC gelten, und zum anderen werden so alle Personen europäischer Herkunft zu „weißen“ Personen. [3]

Nun wird immer wieder darauf hingewiesen, Begriffe wie PoC seien soziale Konstruktionen und nach Noah Sow erschienen die Bezeichnungen gar als reine Frage der Selbstwahrnehmung: „Ganz einfach: Alle Schwarzen Menschen, die den politischen Begriff „Schwarz“ akzeptieren, bezeichne ich in diesem Buch als Schwarze, alle PoC, die diesen Begriff akzeptieren, als PoC.“ [4] Die einzige Gruppe, für die das nicht gelte, seien „weiße Deutsche“, meint Sow weiter, die Angehörigen der „weißen Mehrheitsgesellschaft“ müssten im Diskurs des Antirassismus eine Benennung von außen aushalten. [5] Doch wer gehört zu dieser „weißen“ Gesellschaft?

Obwohl immer wieder betont wird, „weiß“ sei keine biologische Tatsache oder habe etwas mit Hautfarbe zu tun, sondern diene allein der Markierung einer sozialen Position (während Schwarz als politische Selbstbeschreibung verstanden wird), würden sich Personen ost- oder südosteuropäischer Herkunft (ebenso wie jene türkischer Herkunft) – selbst wenn sie im Alltag Rassismus erleben – in den seltensten Fällen als Schwarz oder PoC bezeichnen. Das kann sehr unterschiedlich motiviert sein. Das kann heißen, dass Personen nicht das Risiko eingehen wollen, ihre Erfahrungen zu entwerten, weil sie im momentanen antirassistischen Diskurs als weiß gelten. Es kann bedeuten, dass sie in diesem antirassistischen Diskurs ihre eigenen rassistischen Wissensbestände als Weiße bearbeiten wollen. Möglicherweise identifizieren sich aber auch bewußt als „weiß“ und teilen solche Wissensbestände etwa gegenüber Geflüchteten. Vielleicht aber wollen sie sich einfach nicht an einer Debatte über Rassismus beteiligen, weil sie rassistische Erlebnisse fürchten und ihre äußere Unauffälligkeit nutzen, um sich zu entziehen.

Die USA – kein universelles Modell

In jedem Fall aber wird durch die Tatsache, dass Personen ost- oder südosteuropäischer Herkunft ihre Erfahrungen im Paradigma von Schwarz nicht unterbringen können, ein Teil des rassistischen „Apparates“ unsichtbar gemacht. [6] Es kann nämlich kein Zweifel darüber bestehen, dass diese Personen – um Kien Nghi Has Diktion zu folgen – von der „Dominanzkultur marginalisiert“ werden sowie historisch „der Gewalt kolonialer Tradierungen und Präsenzen“ unterlagen. Bereits 2003 hat Ha selbst über die „kolonialen Muster deutscher Arbeitsmigrationspolitik“ geschrieben und von einer „diskriminatorischen Arbeitsmigrationspolitik als Inversion kolonialer Expansionsformen“ gesprochen. [7] Damit hat er zu einem sehr frühen Zeitpunkt die postkoloniale Theoriebildung der 1990er Jahre auf einen komplizierten Kontext übertragen, der jenseits von „Deutschland Schwarz Weiß“ liegt. Daher ist es unverständlich, warum die Konzeptionen von Rassismus derzeit hinter den Stand der 1990er Jahre zurückfallen. 1991 schrieb Stuart Hall, die Kämpfe im Vereinigten Königreich, die sich um die Idee von Schwarz herum organisiert hätten, seien problematisch geworden, weil sie andere Erfahrungen zum Schweigen gebracht hätten – jene von asiatischen Briten, jene von schwarzen Personen, die sich in den politischen Kämpfen nicht unterbringen konnten und jene von schwarzen Frauen. Hall forderte einen neuen „Stellungskrieg“, der die Realitäten anerkennen und in die Welt der Widersprüche eintreten sollte. [8] Halls Forderung gilt heute noch. Die buchstäbliche Übernahme von Redeweisen aus den USA legt nicht nur ein für den deutschen Kontext ungenügendes Schema von „weiß“ und Schwarz zugrunde, sondern eben auch historisch einen falschen Rahmen, nämlich den Spezialfall der USA.

Die Vereinigten Staaten waren eine Gesellschaft, die noch bis 1865, also deutlich länger als die europäischen Nationen, an der Sklaverei festhielt, und zwar vor Ort, nicht in überseeischen Besitzungen. Zugleich beteiligten sich die USA nur äußerst begrenzt an kolonialer Landnahme, sondern verstanden sich auch in Konflikten mit Europa häufig sogar als antikolonial. In Europa dagegen löste das Kolonialregime in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Sklavenhandel und die Sklaverei ab, mehr noch, die Kolonisierung wurde absurderweise als eine Art humanitäre Intervention gegen den innerafrikanischen Sklavenhandel betrachtet, der in den Händen arabischer Händler lag. Wenn nun im derzeitigen Antirassismus von einer postkolonialen Betrachtungsweise gesprochen wird und von der Notwendigkeit einer konsequenten Dekolonisierung, dann scheint immer schon klar zu sein, was mit Kolonialismus eigentlich gemeint ist. „Kolonial“ ist dabei ein Containerwort geworden, indem sich ein Gefühl von historischem Unrecht gegenüber nicht-westlichen Menschen artikulieren lässt.

Historischer Rassismus in Deutschland

Für das Deutsche Reich muss aber ein historischer Rahmen rekonstruiert werden, der nicht allein, wie der kanadische Historiker Robert L. Nelson sagt, der sogenannten Salzwasser-Theorie folgt: Hier gibt es das Mutterland, dort die Kolonie und dazwischen befindet sich sehr viel Wasser. Gebiete des heutigen Polen (Gebiete mit einer deutlichen polnischsprachigen Mehrheit) waren über 120 Jahre entweder von Preußen oder später vom Deutschen Reich besetzt. Nach der ersten Berliner Konferenz von 1878, bei der es primär um die Aufteilung des Balkans ging, rückte Österreich-Ungarn in Bosnien und die Herzegowina ein und blieb dort 40 Jahre, also länger, als die deutsche Herrschaft in den überseeischen Gebieten im heutigen Tansania oder im heutigen Namibia währte. Diese Phänomene bezeichnen wir nicht als Kolonialismus, aber warum nicht: Weil „weiße“ Menschen davon betroffen waren?

Wovon sprechen wir also, wenn wir „postkolonial“ oder „dekolonial“ sagen? Zu einem früheren Zeitpunkt war der Begriff des Imperialismus üblich, der eben den Willen der westeuropäischen Nationen zumal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezeichnete, um jeden Preis zu expandieren. Mit diesem Begriff wurde aber nicht nur die direkte, koloniale Landnahme bezeichnet, sondern auch zahlreiche andere, indirektere Formen der Einflussnahme.

Das Deutsche Reich war erst mit seiner Gründung 1871 in die imperialistische Konkurrenz eingetreten, und trieb seine Expansionsbestrebungen in drei Richtungen voran. Zum ersten gab es den deutschen „Drang nach Osten“, der eine Fortsetzung der preußischen Territorialstrategie war. Preußen hatte nach den polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert polnischsprachige Gebiete aquiriert. Die Integration dieser Provinzen war nie komplett gelungen, was für Reichskanzler Otto von Bismarck ein Problem darstellte, denn er fürchtete unentwegt um den Zusammenhalt des neuen Reiches. Nach der Reichsgründung sollte die koloniale Landnahme vollendet werden, was zu Maßnahmen gegen die polnischsprachige Minderheit führte: Assimilationsgebote, „Kulturkampf“ gegen den Katholizismus sowie räumliche Verdrängung durch Siedlungsprogramme.

Zum zweiten gab es die überseeische Landnahme, die in 1880er Jahren massiv an Fahrt aufnahm. Allerdings war das Reich spät in den Wettlauf um überseeische Territorien eingetreten und musste daher buchstäblich nehmen, was noch nicht besetzt war. Das führte zu einem der Fläche nach großen Kolonialreich, das aber weit verzweigt und zugleich unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten oft nicht ergiebig war. Spätestens mit der sogenannten Marokko-Krise des Jahres 1911, in der Berlin versuchte, durch die Entsendung des Kanonenboots „Panther“ seine Ansprüche zu untermauern, galten die überseeischen Optionen als erschöpft. Zwar durfte das Reich, da es die französische Besetzung von Fes und Rabat akzeptierte, die Kolonie Kamerun vergrößern, aber es wurde deutlich, dass Frankreich und England keine weiteren Landnahmen erlauben würden. Nach 1911 wurde daher der „Drang nach Osten“ als kontinentales Expansionsprojekt verstärkt, was sich auch in den Kriegszielen des Ersten Weltkriegs niederschlug. An der Ostfront verlief der Krieg für das Deutsche Reich erfolgreich und so entstand für drei Jahre das Kolonialgebiet „Ober-Ost“, das sich über Gebiete des heutigen Polen, Litauen, Lettland und Belarus erstreckte. Hätte das Reich den Krieg gewonnen, wäre „Ober-Ost“ zweifellos eine Kolonie geblieben.

Die dritte Stoßrichtung richtete sich auf Südosteuropa, wobei es hier mehr um informelle Einflussnahme ging. In der Zeit nach 1911 waren Konzeptionen von „Mitteleuropa“ dominant geworden, womit ein Großwirtschaftsraum gemeint war, der von Deutschland im Verbund mit Österreich geführt werden sollte. Es ging dabei auch um eine Autarkie in Sachen Rohstoffe, und Südosteuropa wurde als deutscher „Ergänzungsraum“ gesehen. Durch eine Strategie der wirtschaftlichen „Durchdringung“, der militärisch-industriellen Beratung sowie der „moralischen Eroberung“ durch auswärtige Kulturpolitik sollten die Staaten des Balkan und auch das schlingernde Osmanische Reich von Deutschland abhängig gemacht werden. Zumal ökonomisch konnten diese Ziele zwischen 1920 und 1939 auch verwirklicht werden: Die Staaten Südosteuropas wickelten in jener Zeit zwischen einem Drittel und der Hälfte ihres Außenhandels mit dem Deutschen Reich ab, das so auch zum dominanten Faktor in der Region wurde.

Die informellen Herrschaftsstrategien konnten aber jederzeit in rustikalere Formen umschlagen. Das zeigte sich dann nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialistische Partei. Adolf Hitler verfolgte das kontinentale Expansionsprojekt weiter, wie er bereits auf den ersten Seiten seiner programmatischen Schrift „Mein Kampf“ darlegte, allerdings unter dem „rassisch“ begründeten Konzept des „Lebensraums“. Der Zweite Weltkrieg kann daher auch als militärischer Versuch einer kolonialen Expansion nach Osten verstanden werden – beginnend mit dem Einmarsch im seit 1919 unabhängigen Polen. Die Staaten Südosteuropas waren in diesem Projekt eher als folgsame Verbündete vorgesehen, was im Fall von Rumänien, Bulgarien oder Kroatien auch funktionierte. Weniger kooperative Staaten wie Serbien oder Griechenland wurden einem harschen Besatzungsregime unterworfen. Hätte das „Dritte Reich“ den Krieg gewonnen, dann wäre diese Gebiete ganz ohne Zweifel in einer kolonialen deutschen „Großraumwirtschaft“ aufgegangen, doch wie so häufig zuvor haben die Westmächte diese Pläne verhindert.

Eine Rassismustheorie für Deutschland muss diesen Kontext von historischem Unrecht einbeziehen. Tatsächlich wurden im deutschen Fall vorgeblich „weiße“ Europäer:innen rassifiziert: Die polnische Bevölkerung etwa wurde vom „Rasse- und Siedlungshaupt“ der SS nach „rassischen“ Kriterien vermessen und auf einer Skala von „eindeutschungsfähig“ bis „asozial“ eingeordnet. Diese „rassischen“ Kategorisierungen wären auch im juristischen Zusammenhang mit der deutschen Konzeption der Staatsangehörigkeit zu betrachten. Die Neufassung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsrechtes von 1913 (das mit wenigen Änderungen bis 2000 galt) war völlig fixiert auf deutsche Abstammung, was sich wiederum aus Ressentiments gegen die „Überschwemmung“ aus „dem Osten“ (zumal durch sogenannte („weiße“) „Ostjuden“) gespeist hatte. Die Nürnberger Gesetze wiederum untersagten im Sinne einer Reinhaltung des „Blutes“ vor allem die „Mischung“ – ähnliche Maßnahmen hatte es allerdings zuvor bereits in den überseeischen Kolonien wie Deutsch-Südwest gegeben. Insofern gälte es, ein Gesamtbild des imperialen Einflusses zu rekonstruieren. In diesem Gesamtbild spielen die innere Homogenisierung via Antisemitismus und die Abwehr von Einwanderung ebenso eine Rolle wie die Expansion mit unterschiedlichen Schauplätzen und Herrschaftsformen.

Postimperiale „Gastarbeit“

Für den britischen oder französischen Kontext ist stets darauf hingewiesen worden, dass die Einwanderung nach dem Zweiten Weltkrieg postkolonial gewesen sei: Die Einwander:innen stammten zumeist aus ehemaligen Kolonien. Für Deutschland scheint es diesen Zusammenhang nicht zu geben. Doch heute stammen die größten Herkunftsgruppen aus der Türkei und aus Polen; größere Gruppen bilden zudem Eingewanderte aus dem ehemaligen Jugoslawien und Griechenland. Bei diesen Herkunftsländern ist es aufgrund des historischen Hintergrundes durchaus möglich, von einer postkolonialen oder besser postimperialen Migration zu sprechen.

Imperialismus bedeutete immer eine Jagd nach billigen Arbeitskräften, um etwa die begehrten Rohstoffe abzubauen. Dabei schwankten die Formen der Arbeit stets zwischen Zwang und Freiwilligkeit, was sich auch in der Politik des Deutschen Reiches und später der Bundesrepublik zeigte. Das NS-Regime hatte ein gigantisches Programm von Zwangsarbeit mit primär europäischen Arbeitskräften in Gang gesetzt. Es begann unmittelbar mit dem Überfall auf Polen, wo nur Stunden nach der Wehrmacht auch die Arbeitsämter einrückten, um Kriegsgefange so schnell wie möglich der deutschen Landwirtschaft zuzuführen.

Nach dem Einmarsch in Polen bezeichnete Heinrich Himmler die „minderwertige“ Bevölkerung des besetzten Generalgouvernements als „führerloses Arbeitsvolk“, das den Deutschen für schwere Handarbeit zur Verfügung stehen müsse und daher nur eine rudimentäre Ausbildung benötige: „Lesen halte ich nicht für erforderlich“. [9] Hitler bezeichnete die Slawen 1941 im Führerhauptquartier „eine geborene Sklaven-Masse, die nach dem Herrn schreit; es fragt sich nur, wer der Herr ist“. [10]

Nach der Wende im Weltkrieg zuungunsten des Reiches 1942 allerdings änderte sich der Tonfall. Joseph Göbbels sah einen Verteidigungskampf voraus und veranlasste eine diskursive Verschiebung „von meinem rassistisch motivierten Kampf der überlegenen deutschen „Herrenrasse“ gegen die „Untermenschen“ um Lebensraum im Osten zu einem Abwehrkampf des kultivierten Europa gegen die Herrschaft des Kommunismus“. [11] In diesem Zusammenhang suchte das Regime plötzlich nach einem Schulterschluss mit seinen europäischen  Zwangsarbeiter:innen, was dazu führte, dass zum ersten Mal von „Gastarbeitern“ die Rede war. Es handelte sich nicht um einen offiziellen Ausdruck, aber der Begriff wurde so oft verwendet, das er es ins von der US-Propaganda herausgegebene Lexikon des „Nazi-Deutsch“ schaffte.

Als ab 1955 die ersten Anwerbeverträge geschlossen wurden, bekam der Begriff „Gastarbeiter“ einen offiziellen Status. Die Regierung zeigte wenig Erinnerung an die Vergangenheit, als sie die Arbeitskräfte vor Einreise einer medizinischen „Vorauslese“ unterzog oder sie bei Ankunft in geschlossenen Lagern unterbrachte, die zum Teil zuvor als Lager für Zwangsarbeiter:innen fungiert hatten. Die „Sonderzüge“ aus Griechenland, der Türkei und Jugoslawien endeten zu Beginn alle auf Gleis 11 des Münchener Hauptbahnhofes. Die Wartezeiten vor der Weiterverteilung an die jeweiligen Arbeitgeber verbrachten die neuen „Gastarbeiter“ in einem umgebauten unterirdischen Weltkriegsbunker, der von besagtem Gleis 11 aus direkt betreten werden konnte. Die Behörden fürchteten, der Anblick der Männer könnte an Zwangsarbeit erinnern und so den Eindruck von „Kriegszustand“ oder „Sklavenhandel“ erwecken.

Falsche Übertragungen

Angesichts der Geschichte erscheint es falsch, in dem sich zunehmend verallgemeinernden Schema von weiß und Schwarz bestimmte Erfahrungen auszuschließen. Die Übertragung US-amerikanischer Modelle erscheint attraktiv für die Kritik einer rassistischen Gesellschaft, aber es ist notwendig, alle Erfahrungen von historischem Unrecht und aktuellem Rassismus in einem gemeinsamen Rahmen zu betrachten, ohne die Unterschiede zu leugnen. Wie virulent der Rassismus gegen Ost- und Südosteuropäer:innen ist, haben in 2000er Jahren nicht zuletzt die „Griechenland-Krise“ oder der Brexit gezeigt. [12] Klar ist: Selbst von Rassismus betroffen zu sein, sorgt weder per se für mehr Verständnis für die Situation von anderen Betroffenen noch verhindert es die Teilnahme an diskriminatorischen Praxen. 30 Jahre nach Stuart Halls Forderung, der Antirassismus müsse in die Welt der Widersprüche eintreten, macht es in einer noch weitaus komplizierten Situation wenig Sinn, hinter diese Forderung zurückzufallen.

Fußnoten

[1] Vgl. David Roediger: The Wages of Whiteness: Race and the Making of the American Working Class. Rev. ed. London/New York: Verso Books, 1999.

[2] Kien Nghi Ha: „People of Color“ als solidarisches Bündnis, migrazine, 2009/1, https://www.migrazine.at/artikel/people-color-als-solidarisches-bundnis.

[3] vgl. Rüdiger José Hamm: Kritische Anmerkungen zum Ansatz des Kritischen Weißseins in der politischen Bildungsarbeit, 2016.

[4] Noah Sow, Deutschland Schwarz Weiß, Norderstedt: BoD – Books on Demand, S. 35.

[5] Vgl. ebd., S.41f.

[6] Vgl. Mark Terkessidis: Psychologie des Rassismus, Opladen: Westdeutscher Verlag 1998.

[7] Kien Nghi Ha: : Die kolonialen Muster deutscher Arbeitsmigrationspolitik, in: Hito Steyerl, Encarnacion Gutierrez Rodriguez (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster: Unrast: 2003, S. 64.

[8] Vgl. Stuart Hall: Old and New Identities, Old and New Ethnicities, in: Anthony D. Kind (ed.): Culture, Globalization and the World-System: Contemporary Conditions for the Representation of Identity, Houndmills: Palgrave 1991, S. 56ff.

[9] Denkschrift Himmlers über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten (Mai 1940), in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jahrgang 5 (1957), Heft 2., S.???

[10] Adolf Hitler: Monologe im Führerhauptquartier. Die Aufzeichnungen Heinrich Heims. Hrsg. von Werner Jochmann, München: Heyne 1980, S. 47.

[11] Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritte Reiches, Bonn: Dietz 1999, S. 278.

[12] Vgl. dazu auch Hans Christian Petersen, Jannis Pangiotidis: Rassismus gegen Weiße? Für eine Osterweiterung der deutschen Rassismusdebatte (23.02.2022), https://geschichtedergegenwart.ch/rassismus-gegen-weisse-fuer-eine-osterweiterung-der-deutschen-rassismusdebatte/

Wiederveröffentlichung des Beitrags

Dieser Text erschien zuerst in der vom Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit (IDA) e.V. herausgegebenen Publikation „Rassismus gegen Weiße? Historische Dimensionen und Perspektiven für die rassismuskritische Praxis“. Wir danken den Herausgeber*innen und dem Autor für die Erlaubnis, den Beitrag hier wiederzuveröffentlichen.

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Die Beiträge im Portal dieser Webseite erscheinen als Angebot von ufuq.de im Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX).
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