Wie können Jugendliche für eine pluralistische Gesellschaft fit gemacht werden? Zwei Thesen zum Verhältnis von Antidiskriminierungsarbeit und Radikalisierungsprävention
11. Juni 2019 | Diversität und Diskriminierung, Radikalisierung und Prävention

„Das geht gar nicht!“ oder „Das haben wir noch nie so gemacht!“ sind Reaktionen von Lehrer_innen, denen muslimische Jugendliche oft begegnen, sobald es um Religionsbekundungen in der Schule geht. Solche und ähnliche Einwände sind allerdings problematisch, da sie die Legitimität der Interessen und Erwartungen der Schüler_innen verkennen. Denn gerade im Prozess des Aushandelns und Abwägens verschiedener Interessen und Rechte besteht politische Bildung und das Gefühl realer Teilhabe in unserer Gesellschaft. Entscheidend ist nicht vorrangig das Ergebnis der Aushandlungen, das am Ende des Prozesses steht – sondern der Umgang mit den Interessen, die zu Beginn des Prozesses formuliert werden.

Einer der Leitsätze, die der Arbeit von ufuq.de zugrunde liegen, lautet: „Wer über Islamismus reden will, darf von Rassismus nicht schweigen.“ Eine sinnvolle politisch-bildnerische Präventionsarbeit ist nur dann möglich, wenn sie Erfahrungen von Jugendlichen mit Rassismus und Ausgrenzungen beständig mitdenkt.

Mit diesem Leitsatz verbindet sich allerdings eine Gefahr, die wir auch bei ufuq.de in der Auseinandersetzung mit religiös begründeten Abwertungen, rigiden Gemeinschaftsvorstellungen und absoluten Wahrheitsansprüchen nicht immer völlig umschiffen können. Das Problem spiegelt sich in der Art und Weise, wie Diskriminierung und Rassismus in der Prävention thematisiert werden: „Wie können Herausforderungen durch religionsbezogene Konflikte in der Schule bearbeitet werden, ohne Schüler_innen mit muslimischem Sozialisationshintergrund zusätzlich zu stigmatisieren? Wie können Diskriminierungserfahrungen muslimischer Schüler_innen thematisiert werden, ohne einen Opfermythos zu bedienen?“, heißt es in der Ankündigung des DEVI e. V.-Werkstattgespräches vom 20.02.2019.

Im Vordergrund steht der Präventionsgedanke, Diskriminierungserfahrungen werden unmittelbar in den Kontext von „Opfermythen“ gestellt, aber nicht als eigenständiges und grundsätzliches Problem unabhängig von möglichen Ideologisierungen und religiös-extremistischen Verbrämungen thematisiert. Darin kommt eine in der fachwissenschaftlichen Debatte und der Bildungspraxis verbreite Tendenz zum Ausdruck, Diskriminierungserfahrungen in der Regel nur dann auszusprechen, wenn sie für die Präventionsarbeit relevant sind.

Jedoch ist diskriminierungs- und rassismuskritische Bildungsarbeit nicht nur deshalb von Bedeutung, weil sie präventive Wirkung haben kann, sondern weil sie für die Durchsetzung von Gleichberechtigung und Grundrechten eine zentrale Rolle spielt. Rassismuskritische Bildungsarbeit darf nicht auf ihre präventiven Wirkungen beschränkt werden, sondern gehört unabhängig vom Präventionsgedanken zu den Grundlagen der Bildungsarbeit.

Ich möchte daher zwei Thesen vorstellen, die für die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Antidiskriminierungsarbeit und Radikalisierungsprävention wichtig sind. Es geht mir darum, die Prioritäten umzukehren und die Rolle von Schule und Bildungsarbeit bei der Förderung von Gleichberechtigung von Jugendlichen unabhängig von Migrationshintergrund und Religionszugehörigkeit in den Vordergrund zu stellen.

1. Diversität und Gleichberechtigung sind kein Mittel zum Zweck („Antidiskriminierung als Präventionsarbeit“), sondern grundlegende Zielsetzungen jeder Bildungsarbeit und letztlich Voraussetzung für eine gelingende Präventionsarbeit.

In der Debatte um den Umgang mit dem Islam in der Bildungsarbeit wird oft die Frage gestellt, wie viel Diversität zugelassen werden sollte – oder wo genau die Grenzen liegen, wenn Muslim_innen religiöse Interessen und Bedürfnisse geltend machen. Als prominente Beispiele lassen sich Kleidungsregeln oder die Beachtung von Speiseregeln im Schulalltag nennen. Dabei wird von den Kritiker_innen als zu weitreichend empfundener Veränderungen unterstellt, es gehe hierbei letztlich um ein Entgegenkommen von Schule und Lehrkräften gegenüber Schüler_innen – verbunden mit der Annahme, ein zu weitgehendes Entgegenkommen würde die Neutralität der Schule gefährden, identitätspolitische Partikularismen fördern und damit letztlich den Schulfrieden gefährden. Aus dem Blick gerät dabei, dass sich solche Wünsche und Interessen der Schüler_innen auf grund- und schulgesetzlich verbriefte Rechte wie Religionsfreiheit, Selbstbestimmung und diskriminierungsfreie schulische Bildung berufen können. So heißt es im Berliner Schulgesetz:

„Jeder junge Mensch hat ein Recht auf zukunftsfähige, diskriminierungsfreie schulische Bildung und Erziehung ungeachtet insbesondere einer möglichen Behinderung, der ethnischen Herkunft, einer rassistischen Zuschreibung, des Geschlechts, der Geschlechtsidentität, der sexuellen Orientierung, des Glaubens, der religiösen oder politischen Anschauungen, der Sprache, der Nationalität, der sozialen und familiären Herkunft seiner selbst und seiner Erziehungsberechtigten oder aus vergleichbaren Gründen.“ (SchulG Berlin §2(1))

Vor diesem Hintergrund geht es bei der Frage nach dem Umgang mit religiösen Interessen weniger um ein Entgegenkommen gegenüber muslimischen Schüler_innen als um die Durchsetzung von Rechten von Schüler_innen, zu der Schule und Lehrkräfte verpflichtet sind. Niemand käme auf die Idee, Inklusion als ein Entgegenkommen gegenüber Menschen mit Behinderungen zu beschreiben. Lehrkräfte und Schule sind hier vielmehr in der Bringschuld, es allen Schüler_innen zu ermöglichen, ihre Rechte wahrzunehmen – unabhängig davon, ob es um Rechte in Bezug auf körperliche Beeinträchtigungen, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Sprache oder eben Religion geht.

Das bedeutet ausdrücklich nicht – und das ist mir wichtig, weil es schnell heißt, man propagiere Beliebigkeit und ein anything goes –, dass die Berücksichtigung von individuellen Interessen schrankenlos wäre. Selbstverständlich finden diese Interessen ihre Grenzen unter anderem an der Stelle, wo sie mit anderen Rechten in Konflikt geraten.

2. Grundrechtsklarheit erreicht man nicht durch Vereindeutigung, sondern durch ein transparentes Aushandeln von (Grundrechts-)Konflikten.

Die oben beschriebenen Konflikte sind Alltag: zum Beispiel zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit (zum Beispiel „Wie viel nach außen getragene Religiosität ist in der Schule möglich, ohne dass die Rechte anderer auf Freiheit von Religion beeinträchtigt werden?“), zwischen staatlicher Neutralität und Religionsfreiheit (zum Beispiel bezüglich der Frage nach religiösen Symbolen bei Lehrkräften) oder zwischen dem Anspruch auf diskriminierungsfreie schulische Bildung und dem traditionellen Weihnachtsfest in der Schule. Oft sind diese Konflikte nicht leicht zu lösen. Mehr noch: Es gibt gute Gründe, anzunehmen, dass solche Konflikte in einer pluralistischen Gesellschaft zukünftig noch zunehmen werden. Der Sozialwissenschaftler Aladin El-Mafaalani hat dies in seinem lesenswerten Buch „Das Integrationsparadox: Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt“ (KIWI-Verlag 2018) sehr anschaulich beschrieben.

Demokratie und Pluralismus sind allerdings nicht gleichbedeutend mit Harmonie und dem Fehlen von Konflikten, auch das macht Mafaalani deutlich. Umso problematischer ist die Vorstellung, die aktuellen Konflikte in der Bildungsarbeit ließen sich allein mit einer verstärkten Vermittlung „unserer Werte“ lösen. Natürlich bildet das Grundgesetz die Grundlage der Bildungsarbeit, daher ist es richtig, Grundrechtsklarheit von Lehrkräften einzufordern. Allerdings wäre es falsch, anzunehmen, dass sich aus dem Grundgesetz einfache und vor allem eindeutige Antworten auf diese Konflikte ableiten ließen. Grundrechtsklarheit allein reicht in einer pluralistischen Gesellschaft schlicht nicht aus. Die Debatte um das Berliner Neutralitätsgesetz ist ein besonders eindrückliches Beispiel dafür, dass der Wunsch nach rechtlicher Eindeutigkeit selbst in den Entscheidungen des Verfassungsgerichtes an Grenzen stößt.

Politische Bildung und Demokratieförderung beschränken sich aus gutem Grund nicht auf eine Vermittlung von Informationen über Grundrechte, sondern basieren wesentlich auf der Förderung von Kompetenzen im Umgang mit Konflikten auf der Grundlage von Grundwerten wie Gleichberechtigung, Pluralismus und Gewaltfreiheit. Dabei geht es weniger um eindeutige und klare Antworten, beispielsweise auf die Frage nach dem Verhältnis von Religionsfreiheit und dem Recht auf freie Berufswahl, als um die Fähigkeit und Bereitschaft, Konflikte auf der Basis von gemeinsamen Werten und Prinzipien transparent und abwägend auszuhandeln – und dann letztlich auch Entscheidungen zu akzeptieren, bei denen man seine Interessen eventuell nicht durchsetzen konnte.

Statt Eindeutigkeit wäre daher Konfliktfähigkeit das zentrale Ziel, um Jugendliche auf den Umgang mit Konflikten in einer pluralistischen Gesellschaft vorzubereiten und diese als „Normalität“ in ihrem Alltag akzeptieren zu können. Auf Seiten der Lehrkräfte und der Schule erfordert dies die Bereitschaft, sich auch auf solche Interessen und Forderungen von Schüler_innen einzulassen, die den eigenen Überzeugungen eventuell fundamental widersprechen.

Auch hier eignen sich Konflikte um religiöse Fragen, um zu illustrieren, was häufig schiefläuft. So berichten Jugendliche immer wieder, dass sie mit Wünschen nach einer Berücksichtigung von religiösen Bedürfnissen im Schulalltag oft direkt und brüsk zurückgewiesen werden: „Das geht gar nicht!“, „Das haben wir noch nie so gemacht!“. Diese Reaktionen sind in zweierlei Hinsicht problematisch:  Zum einen, weil damit eine Chance vertan wird, Jugendliche durch Partizipation und Einbindung in Gestaltungsprozesse an die Einrichtung und damit letztlich auch an die Gesellschaft zu binden. Zum anderen, weil sie suggerieren, dass bestimmte Interessen und Forderungen von vornherein aus dem Kreis legitimer Positionen, die in eine Debatte eingebracht werden können, ausgeschlossen sind.

Dabei handelt es sich bei solchen Forderungen um Steilvorlagen für die politische Bildung und Demokratiepädagogik, gleichgültig, ob es um eine Beachtung von Speiseregeln beim Schulfest oder um Gebetsräume in Schulen geht. Auch hier ist es mir wichtig, Missverständnisse zu vermeiden: Es geht mir nicht darum, zu behaupten, dass solchen Wünschen und Interessen grundsätzlich nachzukommen sei. Schließlich gibt es zum Beispiel wichtige rechtliche Gründe, warum Gebetsräume in Schulen in Berlin nicht möglich sind. Auch andere Interessen, die religiös begründet werden, sind aus rechtlichen, baulichen oder organisatorischen Gründen nicht umsetzbar.

Allerdings besteht politische Bildung genau aus einem solchen Prozess des Aushandelns und des Abwägens von Interessen und Rechten. Entscheidend ist dabei nicht das Ergebnis, das am Ende des Prozesses steht, sondern der Umgang mit den Interessen, die zu Beginn des Prozesses formuliert werden. Wenn Jugendlichen von vornherein vermittelt wird, ihre Interessen stünden nicht zur Diskussion, negiert dies jeden Anspruch auf Teilhabe und demokratische Prozesse im Schulalltag. Umgekehrt kann die Erfahrung, mit eigenen Interessen in einem transparenten Verfahren gehört zu werden, Jugendliche in dem Gefühl bestärken, auch mit ihren Besonderheiten als gleichberechtigter Teil der Schule und der Gesellschaft dazuzugehören – und zwar unabhängig davon, welches Ergebnis am Ende des Prozesses steht.

Mit Identitätspolitik und Lobbyismus für eine bestimmte religiöse Gruppe haben diese Überlegungen nichts zu tun. Sie lassen sich ohne weiteres auf andere Konflikte, die sich beispielsweise an Geschlecht oder sexueller Orientierung festmachen, übertragen. Auch hier sind die gesellschaftlichen Vorbehalte, die mit entsprechenden Forderungen verbundenen Interessen als grundsätzlich legitim anzuerkennen, ohne damit schon Aussagen über mögliche Lösungen für die Konflikte zu treffen, massiv. Die Debatten um die „Ehe für alle“, die Anerkennung eines dritten Geschlechts oder Unisex-Toiletten sind dafür sehr eindrückliche Beispiele. Letztlich geht es daher nicht allein darum, Jugendliche für den Umgang mit solchen Konflikten fit zu machen. Auch manch ein Erwachsener, ob Lehrer_in oder nicht, hat hier noch einen langen Weg vor sich.

Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung der Thesen, die Götz Nordbruch beim Werkstattgespräch „Pädagogisches Handeln im Spannungsfeld von Islamismusprävention und Antidiskriminierung“ formulierte. Das Werkstattgespräch wurde von DEVI e. V. (Verein für Demokratie und Vielfalt in Schule und beruflicher Bildung) organisiert und fand am 20. Februar 2019 in der Berliner Werkstatt der Kulturen statt. Eine Dokumentation der Diskussion einschließlich der Thesen von Studiendirektor i. R. Kurt Edler finden Sie hier.

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