Wenn Konformität zur Rebellion wird. Der Salafismus als jugendkulturelle Provokation
1. Februar 2017 | Jugendkulturen und Soziale Medien, Radikalisierung und Prävention

Salafismus. Das ist Wahnsinn. Das ist das Böse unserer Zeit. Das ist der Untergang des Abendlandes, die Negierung zivilisatorischer Errungenschaften der Moderne. Diese erste, intuitive Regung ist nachvollziehbar. In einem zweiten Schritt sollte man versuchen zu verstehen und sich selbstkritisch fragen: Wie kann es sein, dass eine Ideologie, die es seit Ewigkeiten gibt, gerade heute bei den Jugendlichen Westeuropas einen Aufschwung erlebt? Warum sehnen junge Männer und Frauen mit und ohne „Migrationshintergrund“ das frühe Mittelalter herbei und bilden damit eine der dynamischsten gegenwärtigen Jugendbewegungen? Diesen Fragen kommt man näher, ohne theologische Diskurse zu führen, erklärt Aladin El-Mafaalani in diesem Beitrag. Entscheidend sind vielmehr soziologische und entwicklungspsychologische Perspektiven.

Dass Jugendliche besonders anfällig für extreme Positionen sind und das eine oder andere Mal über die Stränge schlagen, ist bekannt und wird weitgehend geduldet. Die Jugendphase ist dadurch geprägt, dass vergleichsweise wenig Verantwortung übernommen werden kann und muss. Das Jugendalter ist eine Art Moratorium, eine Zwischenphase zwischen Kindheit und dem Ernst des Erwachsenenalters. Es ist eine Zeit des Ausprobierens – auch und gerade von sozialen Rollen. Hinzu kommen in der Jugendphase eine noch nicht vollständig ausgereifte Impulskontrolle, eine insgesamt höhere Risikobereitschaft und das Bedürfnis, sich von der Elterngeneration abzugrenzen. Entsprechend ist es nicht überraschend, dass gerade Jugendliche besonders anfällig für radikale politische Ideologien und religiöse Strömungen sind.

Extreme Positionen haben darüber hinaus eine besondere Anziehungskraft: Die radikale Reduktion von Komplexität und zwar in zweierlei Hinsicht.

Die Komplexität der Welt hat eine Geschichte, ist historisch gewachsen und verwoben. Radikalismen hingegen führen zu einer starken Reduktion von Komplexität, indem sie sich nicht für diese Geschichte an sich interessieren, sondern mit der Verheißung eines „an der Wurzel“ ansetzenden Neuanfangs lockend sehr selektive Geschichtsbilder propagieren und klare Feindbilder benennen.
Die Zieldimension dieses Neuanfangs wird mit einer einfachen und zugleich positiven Idee festgesetzt. Dieser Neuanfang hat dabei in der Regel unmittelbar Einfluss auf die alltägliche Handlungsebene.

Sex, Drugs and Rock‘n Roll – dieser in die Jahre gekommene Spirit lässt sich heute bestenfalls noch auf Ü 40 Partys finden. Alle Kombinationen von Sex, Rauschmitteln und Musik hat es schon gegeben.

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Der Artikel erschien ursprünglich in der Handreichung „Jugendliche im Fokus salafistischer Propaganda Was kann schulische Prävention leisten?“ der Landeszentrale für politische Bildung Baden Württemberg (2016).

Worin also steckt heute das größte Provokationspotenzial? In einer Zeit, in der Berühmtheiten Irokesen-Frisuren tragen, vielfältige Konsumangebote für jedes Bedürfnis vorliegen und mit Sexualität offen umgegangen wird, ist die größte Provokation und die radikalste Abgrenzung vom Mainstream bzw. von der Mehrheitsgesellschaft die Enthaltsamkeit im Kollektiv. Entscheidend ist hierbei, dass es wahrscheinlich keine Zeit gab, in der es möglich war, durch Askese zu provozieren. Diese Provokation wirkt dabei sowohl nach innen als auch nach außen. Da die eigenen Eltern nicht streng religiös und teilweise gar keine Muslime sind, wirkt die salafistische Lebensführung auch als Abgrenzung von der eigenen Familie und dem gesamten Umfeld.

Gleichzeitig kehrt man gewissermaßen zurück zu den (eigenen) Wurzeln. Die übliche Kritik, nämlich dass man durch ein religiös-konservatives Elternhaus geprägt wurde, prallt hier vollständig an den Jugendlichen ab – im Gegenteil: In ihrem Selbstverständnis ist die Tatsache, dass sie die Religiosität deutlich radikaler praktiziert als die eigenen Eltern, ein Ausdruck von Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. Diese selbstbestimmte Abgrenzung wird als Autonomie erlebt. Konvertiten haben hier eine noch prominentere Position, da sie vollständig gegen die Tradition ihrer Familien „den richtigen Weg“ eingeschlagen haben.

Die Askese selbst übt zugleich nach innen und außen eine gewisse Faszination aus. Der weitgehende Verzicht führt teilweise dazu, dass den Jugendlichen auch von nicht streng religiösen Menschen Respekt entgegengebracht wird. Aber anders als beispielsweise bei Veganern oder konsumkritischen Gruppen beschränkt sich bei Salafisten der Verzicht nicht auf einen Lebensbereich, sondern praktisch auf den gesamten Alltag. Der „entfesselten Spaßgesellschaft“ wird ein Gegenentwurf gegenübergestellt, bei dem alles abgelehnt bzw. umfassend reglementiert wird, was als jugendtypisch gilt: Konsum, Sexualität, ausgelassenes Feiern. Die Ablehnung dessen, was Spaß macht, ist mit Anstrengung und Selbstkontrolle verbunden. Dies führt nicht nur zu Anerkennung, sondern darüber hinaus auch zu einem Gefühl der Selbstwirksamkeit: Man schafft es durch eigene Handlungen, Einfluss auf sich und das Umfeld zu nehmen. Dieses Gefühl der Aktivität und Handlungsfähigkeit ist umso größer je stärker zuvor Ohnmachtserfahrungen gemacht wurden.

Die asketische Orientierung gegen den Mainstream hat nicht nur erkennbare Züge von Gesellschaftskritik, sondern stärkt zudem das Kollektiv. Die Erfahrung von Gemeinschaft, insbesondere von familienähnlicher Solidarität und engen Freundschaften, stärkt angesichts wahrgenommener brüchiger solidarischer Strukturen in der Mehrheitsgesellschaft die Bindung nachhaltig. Dieses Zugehörigkeitsgefühl kann als substantieller Bestandteil der Attraktivität begriffen werden. Das selbstbewusste Auftreten und die Sichtbarkeit dieser Zugehörigkeit (insbesondere Bärte und Kopftuch) führen nicht nur zu der beschriebenen Anerkennung, sondern auch zu (extremer) Ablehnung. Diese Ablehnung ist jedoch bereits antizipiert: Ähnlich wie vor einigen Jahrzehnten bei den Punks ist auch bei Salafisten bereits vor Eintritt bekannt, dass die sichtbare Zugehörigkeit in der Mehrheitsgesellschaft – und nicht nur dort – zu offener Ablehnung führen wird. Es ist erwünscht, dass diejenigen, gegen die man sich stellt, der Gruppe gegenüber feindselig eingestellt sind.

Diese drei Aspekte – Gefühl der Autonomie, der Selbstwirksamkeit und der Zugehörigkeit – können als soziale Grundbedürfnisse bzw. Motivationsmotoren verstanden werden. Sie werden besonders intensiv erlebt und sind umso relevanter, wenn zuvor die Gefühle von Fremdbestimmtheit, Ohnmacht und Isolation prägend waren. Insbesondere in sozial benachteiligten Kontexten sind diese negativen Ausgangsbedingungen wahrscheinlich.

Die alltagspraktische Funktion eines Kopftuchs (oder gar einer Burka) weist demnach – bei allen Unterschieden – unglaublich viele Ähnlichkeiten mit dem punkigen Irokesen in den 1970ern auf: Man wird unmittelbar erkannt, erntet skeptische Blicke, offene Ablehnung, tiefe Verachtung und erzeugt Angst. Alle Zutaten für gelungene Rebellion. Sehr schlimm, wenn es unter Zwang geschieht, überaus funktional, wenn man die Öffentlichkeit und die eigenen Eltern provozieren möchte. Emanzipation und selbstbestimmte Abgrenzung können die Motive sein? Es kommt auf den Kontext an: Im Iran oder in Saudi Arabien ist eine kopftuchtragende Frau Teil einer anonymen Masse, in Deutschland hingegen hebt sie sich von dieser durch das Kopftuch deutlich ab. Daher sind die Motive für oder gegen religiöse Radikalisierung je nach Gesellschaft und Zeitgeist ganz unterschiedlich. In der salafistischen Szene gelten strenge Regeln für Mann und Frau – in traditionellen, kaum religiösen Familien häufig nur für das weibliche Geschlecht. Nicht ohne Grund erleben viele junge Frauen in dieser Jugendbewegung ein höheres Maß an Gleichstellung als in ihren zum Teil resignierten Herkunftsmilieus.

Dass dies kaum jemand wahrhaben möchte, ist ein Beleg dafür, dass wir uns für diese jungen Menschen nicht interessiert haben. Nun ist es eine aufgekeimte internationale Jugendbewegung. Das sind junge Menschen, die – ohne sich zu kennen – Ähnliches tun. Das bedeutet, sie haben gleiche Erfahrungen, Problemstellungen und Bedürfnisse. Viele werden es nicht hören wollen: Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen auf der persönlichen Ebene, aber auch nationale und internationale Entwicklungen spielen zusammen. Muslime sind Feindbilder geworden. Sich über sie auszulassen, ist selbstverständlich. Das zwingt viele Muslime in eine defensive Haltung, in der sie klarstellen und zurechtrücken müssen – ein mühsames Geschäft, das einem niemand dankt und bei dieser Gemengelage vielleicht sogar zum Scheitern verurteilt ist. Die anderen, häufig kaum religiösen, aber als solche optisch wahrgenommenen „Fremden“ treibt es in die Offensive. „Wenn schon, denn schon“ oder „Jetzt erst recht!“

Vor dem Hintergrund dieser persönlichen Erlebnisse werden dann nationale und globale Ereignisse wahrgenommen. Muslime sind die Bösen, solange sie kein Buch gegen den Islam schreiben oder wichtige Geschäftspartner sind. In Syrien und dem Irak wird der „Westen“ erst richtig aktiv, als Nicht-Muslime bedroht oder ermordet werden. Das kann man je nach Betrachtungsweise interessengeleitete Politik oder strategielosen Aktionismus nennen, aber man darf sich nicht wundern, wenn das als unmoralisch und unglaubwürdig wahrgenommen wird. Die Welt(politik) steckt in einer Sackgasse.

Der Gegenentwurf der Salafisten ist denkbar einfach: In der Vergangenheit liegt der Generalschlüssel – eine neue Zukunftsidee gibt es nicht. Allerdings gibt es eine solche nirgendwo. Unsere Visionen sind bestenfalls technologischer Art. Soziale haben auch wir nicht mehr. Nicht einmal zukunftsweisende Jugend- oder Protestbewegungen lassen sich derzeit erkennen. Wir sind aufgeklärte Verwalter von Klimawandel, Wirtschaftskrisen, Konsumterror. Wer diesen Pragmatismus nicht annehmen kann oder will, muss nostalgisch werden. Neo-Puritanismus, Naturreligionen, Esoterik, Bio-Nahrung oder Yoga – alles Ich-bezogene Formen der Sinnsuche. Der Salafismus hat da für Orientierungssuchende eine kollektive Strategie aus einem Guss: Zurück in die Zeit, in der alles vermeintlich gut war, zurück zu den Wurzeln: Klare Regeln, eindeutige Zugehörigkeiten, unhinterfragbare Wahrheiten und gar der sichere Weg zum Paradies. Das sind Dinge, für die es sich – aus der Perspektive vieler Jugendlicher – einzusetzen lohnt. Das gibt eine starke Orientierung und kanalisiert den jugendtypischen Handlungsdrang in eine Richtung: Missionieren, ein göttlicher Auftrag. Wer heute mitmacht, der gehört zur Avantgarde eines sich selbst als progressiv verstehenden globalen Projekts.

Diese fundamentalistische Bewegung hat für die meisten Jugendlichen einen gewissen Bezug zur eigenen Herkunft. Gleichzeitig wird die Religion deutlich strenger praktiziert, als es die eigenen Eltern tun. Und: Die Salafisten sprechen deutsch, viele als einzige Muttersprache! Schön war die Zeit, als wir uns noch einreden konnten, diese Ausländer sollen deutsch sprechen lernen und alle Probleme wären gelöst. Wie so häufig sind Konvertiten besonders engagiert, genießen aber auch einen besonderen Stellenwert. In ihnen steckt das größte Provokationspotenzial, wodurch sie für die Öffentlichkeitsarbeit unverzichtbar werden. Zugleich prallt der schräge Integrationsdiskurs an ihnen gänzlich ab. Diese Breitseite ist hausgemacht!

Strenge Kleiderordnung, reglementierte Sexualität und Konsumverzicht – in unserer Vorstellung muss das reines Gift für eine Jugendbewegung sein. Aber Askese und Nostalgie gepaart mit einem selbstbewussten kollektiven Auftreten bedeuten heute Rebellion. Mit einer eigenen Ästhetik und großer Technologieaffinität ist es dann doch keine vollständige Reproduktion des Gewesenen. Es gibt Alltagsrituale und große Events. Auch Islamseminare mit jugendspezifischen Inhalten werden angeboten. Es geht um Orientierung und Anerkennung, nicht um theoretische und theologische Diskurse. Dagegen sehen die großen Islamverbände blass aus: Sie sind Institutionen der Erwachsenen – konventionell, defensiv und langweilig.

Die historisch seltene Konstellation, als junger Mensch mit radikaler Askese und Nostalgie provozieren zu können, bietet einen Resonanzboden für ausgegrenzte Jugendliche, indem nämlich aus der Not eine Tugend wird. Wer nicht teilhaben kann oder sich ausgegrenzt fühlt, gibt nicht viel auf, wenn er sich einer radikalen Gruppe anschließt. Im Gegenteil: Aus dem Gefühl der Ohnmacht wird Selbstbestimmtheit und Stärke. Entsprechend lässt sich vermuten, dass ungleiche Teilhabechancen auf der einen und Islamfeindlichkeit auf der anderen Seite das Provokationspotenzial steigern und dadurch zu einer anhaltenden Attraktivität beitragen werden. Vor diesem Hintergrund spielen sich Salafisten, HoGeSa und PEGIDA die Bälle gegenseitig zu.

Wie Jugend und Provokation auf Dauer zu einer ultrakonservativen Strömung passen, bleibt zu beobachten. Abspaltungen sind wahrscheinlich. Diese kennen wir aus vielen Bewegungen. Wenige werden Terroristen, einige sympathisieren gewaltlos, die meisten bleiben ungefährlich.

Die Muslime innerhalb Europas zu isolieren, war ein zentrales Ziel der internationalen Terrorgruppen. Diese Strategie war bemerkenswert erfolgreich. Den Nährboden für Radikalisierungsprozesse auszutrocknen, ist eine große Herausforderung. Die Menschen und ihre Religion als Fremdkörper zu betrachten, war eine – wenn auch nicht die einzige – Ursache. Daher müssen zwei Erkenntnisse, die sich bereits in manchen Aussagen hochrangiger Politiker ausdrücken, handlungsleitend sein: „Das sind unsere Kinder“ und „Der Islam gehört zu Deutschland“ – in guten wie in schlechten Zeiten.

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