Was ist gutes Deutsch? Sprache als Machtinstrument in der Gesellschaft
7. Mai 2019 | Diversität und Diskriminierung, Jugendkulturen und Soziale Medien

Muss man akzentfrei Deutsch sprechen, um gutes Deutsch zu sprechen? Wer bestimmt eigentlich, was als gutes Deutsch gilt? Und warum werden bestimmte Sprachen und Akzente abgewertet, andere wiederum positiv gesehen? Karim Fereidooni, Professor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung, erläutert im Gespräch mit Sakina Abushi die Wirkweise von Neo-Linguizismus als subtile Form von Rassismus und wie Lehrkräfte Vorurteile gegenüber Kindern, die mit einem Akzent sprechen, überwinden können.

Sakina Abushi:

Herr Fereidooni, ich habe Sie aus einem konkreten Anlass um dieses Interview gebeten: Einem Freund von mir wurde im Referendariat gesagt, dass er noch an seinem Deutsch arbeiten müsse. Er ist eigentlich Deutscher – in Deutschland geboren, Deutsch ist seine Muttersprache – aber er sagt zum Beispiel „isch“ statt „ich“. Manche würden sagen, er spricht Kiezdeutsch. Muss man akzentfrei Deutsch sprechen, um gutes Deutsch zu sprechen?

Karim Fereidooni:

Tja, was ist gutes Deutsch? Wahrscheinlich würde das jede Person anders beurteilen. Ich finde interessant, dass Sie gesagt haben, dass Ihr Freund „eigentlich“ Deutscher ist. Da schwingt etwas mit, nämlich der berühmte zugeschriebene oder faktische Migrationshintergrund. Die Fremd- und Andersmarkierung dieser Person, bevor man mit ihr ins Gespräch kommt, strukturiert das Feld der Kommunikation bereits vor. Und da würde ich ansetzen. Ich würde gar nicht über gutes Deutsch reden. Ich würde über die Phantasmen nachdenken, die in unserer Gesellschaft herrschen: Wer spricht gutes Deutsch? Wer darf andere Leute beim Deutschsprechen maßregeln? Wer muss sich Sätze anhören wie: „Sie sprechen aber gut Deutsch“ und so weiter? Das sind mehrheitlich Personen of Color. Wenn wir über gutes Deutsch reden, dann müssen wir nicht nur über Sprache reden, sondern wir müssen eigentlich über Körperbilder sprechen, also Körper von Personen, denen ein schlechtes Deutsch bereits vor der Kommunikation zugeschrieben wird.

Sakina Abushi:

Im Falle meines Freundes geht es nicht einmal um das fehlerhafte Deutsch eines Zweitsprachlers, sondern um eine Jugendsprache, die sich in unseren Städten entwickelt hat und in der die Migrationsgeschichte der Eltern noch mitklingt. Könnte diese Jugendsprache irgendwann einen ähnlichen Stellenwert erlangen wie zum Beispiel Bayerisch oder Schwäbisch, also lokale Dialekte des Deutschen?

Karim Fereidooni:

Ich denke schon, und deswegen sollte man diese Sprache meiner Meinung nach nicht „Kiezdeutsch“ nennen. Im Wort Kiezdeutsch ist meiner Meinung nach ein gewisser Klassismus angelegt, der davon ausgeht, dass diese Varietät des Deutschen von einer bestimmten sozialen Klasse gesprochen wird. Ich würde aber sagen: Diese Varietät des Deutschen, die einige Kiezdeutsch nennen, ist eine sehr kreative Art des Umgangs mit dem Deutschen. Jugendliche und junge Erwachsene, die Kiezdeutsch sprechen, betreiben in ihrem Alltag Code-Switching. Sie beherrschen unterschiedliche Varietäten der deutschen Sprache für spezifische Kommunikationsfelder. Im Übrigen benutzt ja jede*r unterschiedliche Register des Deutschen im Alltag. Zuhause mit meiner Frau spreche ich anders Deutsch als wenn ich im Hörsaal stehe oder wenn ich mit meinen Freunden spreche oder wenn ich mit meiner Nichte spreche. Wenn wir von dem einen „guten Deutsch“ fantasieren, dann verdrängen wir, dass wir alle in unterschiedlichen Varietäten Deutsch sprechen. Aber auch hier ist die Frage: Wer hat die Macht, anderen Leuten vorzugeben, wo es in Bezug auf die Sprache langgeht? Ich denke, dass Neo-Linguizismus und Rassismus bei dieser Frage eine große Rolle spielen.

Sakina Abushi:

Mir ist in diesem Kontext aufgefallen, dass unterschiedliche Akzente durchaus unterschiedlich bewertet werden.

Karim Fereidooni:

Für die Abwertung bestimmter Sprachen oder Akzente gibt es einen Namen: Wir sprechen von Neo-Linguizismus. Das ist ein Terminus, den meine Kollegin Inci Dirim eingeführt hat. Im deutschen Bildungssystem, aber auch in der deutschen Gesellschaft, werden ja nicht alle nicht-deutschen Sprachen abgewertet. Englisch, Französisch oder Spanisch werden durchaus geschätzt, aber Farsi, Kurdisch, Türkisch, Russisch oder Polnisch eher abgewertet. Welche Erstsprache, welcher damit verbundene Akzent – und damit verbunden: welche Sprecher*innen – besitzen in unserer Gesellschaft welchen Bildungswert? Das ist eine spannende Frage.

Sakina Abushi:

Können Sie uns den Begriff „Neo-Linguizismus“ noch einmal genauer erklären? Worin liegt der Unterschied zum Linguizismus?

Karim Fereidooni:

Linguizismus ist eine spezielle Form des Rassismus, die sich in Vorurteilen und Sanktionen gegenüber Menschen ausdrückt, die eine bestimmte Sprache beziehungsweise eine Sprache in einer durch ihre Herkunft beeinflussten spezifischen Art und Weise verwenden. Er ist ein Instrument der Machtausübung gegenüber sozial schwächer gestellten Gruppen mit der Funktion der Wahrung beziehungsweise Herstellung einer sozialen Rangordnung. Die Sprache einer Elite wird dabei zur Norm erhoben, die sprachlichen Merkmale der darunter platzierten gesellschaftlichen Gruppen abgewertet. In der englischsprachigen wissenschaftlichen Literatur wird der Begriff Linguizismus vor allem im Zusammenhang mit der Sprachenpolitik der Kolonialmächte in Afrika gebraucht. Der neuere Begriff Neo-Linguizismus, wie Inci Dirim ihn definiert, ist subtiler: Menschen wird nicht direkt verboten, eine bestimmte Sprache zu sprechen, aber indirekt wird doch dafür gesorgt, dass eine bestimmte Art des Sprechens in wichtigen gesellschaftlichen Teilbereichen wie zum Beispiel der Institution Schule nicht mehr vorkommt. Das Erreichen bestimmter gesellschaftlicher Positionen ist an die Assimilation an die sprachliche Norm geknüpft. Neo-Linguizismus ist subtiler, er täuscht über Ausgrenzung und Unterdrückung hinweg und ist dadurch im Vergleich zum Linguizismus schwerer zu überwinden.

Sakina Abushi:

Lassen Sie uns darüber sprechen, wie sich Neo-Linguizismus und die negative Bewertung von Akzentsprachigkeit auf Bildungs- und Berufsbiografien auswirken. Sie haben in Ihrer Studie zu Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen von Referendar*innen und Lehrer*innen festgestellt, dass Akzentsprachigkeit häufig mit der Abwertung von Qualifikation und einer Absprache des Deutschseins verbunden ist.

Karim Fereidooni:

An manchen Schulen ist das Sprechen bestimmter Sprachen verboten. Ich kenne beispielsweise ein Gymnasium im Ruhrgebiet, in dem die türkische Sprache auf dem gesamten Schulgelände untersagt ist. Das führt zu absurden Situationen, zum Beispiel dazu, dass Türkisch-Lehrkräfte sich im Lehrer*innen-Zimmer nicht mehr auf Türkisch unterhalten dürfen und dazu ins Café ausweichen müssen. Dies ist ein Beispiel dafür, dass Sprachverbote nicht nur für Schüler*innen, sondern auch für bestimmte Lehrkräfte gelten. Ich konnte auch Belege für die bereits geschilderten Sprachhierarchien finden.

Eine Lehrkraft hat mir die folgende Situation geschildert: Sie hat sich mit einer zweiten Lehrkraft im Lehrer*innenzimmer in einer nicht-deutschen Sprache unterhalten. Eine dritte Person kam herein und hat die beiden aufgefordert, gefälligst Deutsch miteinander zu sprechen. Die angesprochene Lehrkraft hat erwidert, dass die Spanischlehrkräfte doch auch manchmal Spanisch miteinander sprächen. Die Antwort lautete: „Spanisch ist auch etwas Anderes.“ Das ist ein Beispiel dafür, dass Sprachhierarchien nicht nur für Schüler*innen, sondern auch für Lehrkräfte relevant sind.

Ich habe außerdem festgestellt, dass mit Akzentsprachigkeit auch eine Absprache von fachlicher Qualifikation verbunden ist, wobei wieder wichtig ist, welcher Akzent vorliegt. Die englischen oder französischen Lehrkräfte, die meinen Fragebogen ausgefüllt haben, haben solche Erfahrungen nicht gemacht, ihre Akzentsprachigkeit wurde eher positiv bewertet. Native-speakerism [1] erstreckt sich eben nur auf prestigeträchtige Sprachen wie Englisch und Französisch und vielleicht auch noch Spanisch und Italienisch. Aber niemand wird positiv herausheben, dass jemand Türkisch-Muttersprachler*in ist, weil Türkisch in der Institution Schule und in unserer Gesellschaft keinen hohen Bildungswert genießt. Ich habe herausgefunden, dass Lehrkräfte, die mit einem russischen Akzent oder einem, der dafür gehalten wird, sprechen, besonders stark diskriminiert werden. Ihnen wird die fachliche Qualifikation abgesprochen, während zum Beispiel Personen, die einen englischen oder einen französischen Akzent haben, diese Erfahrung nicht machen.

Sakina Abushi:

Wir treffen in unseren Fortbildungen auf Lehrkräfte, die häufig mit akzentsprachigen Kindern und Jugendlichen arbeiten. Einige beschäftigen sich mit dem Thema und bemühen sich, eine klare Haltung zu entwickeln – welche Empfehlungen würden Sie diesen Fachkräften mit auf den Weg geben? Was wünschen Sie sich für den Umgang mit Akzentsprachigkeit in der Schule?

Karim Fereidooni:

Ich würde mir wünschen, dass Lehrkräfte Vorurteile überwinden und nicht automatisch denken, dass Kinder geringere kognitive Fähigkeiten besitzen, wenn sie mit einem Akzent sprechen. Ich würde ihnen empfehlen, sich über eine Frage klarzuwerden: Wann ist es sinnvoll, die Differenz von Kindern in der Institution Schule zu betonen, um sie beispielsweise für den Umgang mit Diskriminierung zu stärken? Und wann sollte nicht die Unterschiedlichkeit von Kindern betont werden, sondern ihre Gleichheit? Differenz ist natürlich immer da, spielt aber nicht immer eine Rolle. In internationalen Förderklassen ist der sprachliche Hintergrund von Kindern natürlich wichtig und es ist sinnvoll, dass ich mich als Lehrkraft mit der Erstsprache meiner Schüler*innen beschäftige: Welche grammatikalischen Strukturen bringt das Kind mit? Was bedeutet dies für das Erlernen der deutschen Sprache? Die große Herausforderung jenseits dieser spezifischen Kontexte ist aber, die Kinder nicht zu kulturalisieren.

Unser Denken in Deutschland ist sehr stark von Rassismus geprägt. Um aus diesen tief verankerten Denkweisen auszubrechen, bedarf es einer intensiven Selbstbetrachtung. Welche Bilder von bestimmten Personengruppen habe ich gelernt? Wie bewerte ich unterschiedliche Sprachen? Inwiefern spielt Klassismus in meinem Lebensalltag eine Rolle? Insbesondere Gymnasiallehrkräfte haben als Schüler*innen häufig ebenfalls ein Gymnasium besucht. Das heißt, sie haben auf ihrem Bildungs- und Berufsweg eigentlich nur eine Schulform erlebt, die sehr normierend ist und gleichzeitig durchaus nicht die Norm in Deutschland darstellt. Ich würde mir wünschen, dass Lehrkräfte befähigt werden, über diesen Tellerrand der vermeintlichen Normalität hinauszuschauen.

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