Von Moses bis Özil – was Religionsunterricht zur Demokratie beitragen kann
12. Dezember 2018 | Radikalisierung und Prävention, Religion und Religiosität

Seit den 70er Jahre schien das Religiöse in der Öffentlichkeit an Bedeutung zu verlieren und in den privaten Bereich zurückgedrängt zu werden. Seit einigen Jahren spielen religiöse Fragen allerdings auch in öffentlichen Debatten wieder eine große Rolle. Damit stellt sich auch die Frage nach der Bedeutung von Religion in der pädagogischen Arbeit: Wie kann religiöse Bildung in der Schule dazu beitragen, Jugendliche zu kritischer Mündigkeit und reflektierter Teilhabe zu befähigen? Prof. Thomas Schlag untersucht am Beispiel des Rassismus, was Religionsunterricht und etwa der Bezug auf biblische Quellen hier leisten können.

Politik umfasst viel mehr als nur die klassischen Themen und Felder institutioneller Politik. In seinem Grundsinn ist das Politische als eine anthropologische Grundkategorie zu fassen: Der Mensch, jeder Mensch ist angesichts der sich immer wieder neu stellenden Herausforderungen seines Lebens in weitreichende politische Zusammenhänge eingeschlossen und darin existentiell verwickelt. Wir können uns dem Politischen nicht entziehen, selbst dann, und vielleicht gerade dann, wenn wir meinen, nicht-politisch zu denken oder zu handeln.

Wie weit reicht der Horizont des Politischen?

Der Raum des Politischen, um es mit Hannah Arendt zu formulieren, ist nicht weniger als der gesamte Weltbezug des Menschen und der ganzen Menschheit in ihrem gemeinsamen Handeln (Arendt 1993, 105). Mit anderen Worten: Ohne diese freien Räume des Politischen könnte der Mensch nicht sein – und ohne die gebildete Fähigkeit, sich hier zu artikulieren, würde ihm Wesentliches fehlen. Das Politische bildet den Horizont individueller und gemeinschaftlicher Lebensdeutung.

Mit der zivilgesellschaftlichen Neubestimmung des Gemeinwesens wird dabei durch die alles durchziehende Frage nach der Lebensdienlichkeit der Demokratie ein eminent wert-voller Horizont aufgespannt. Dies bedeutet, dass der Begriff „wert-voll“ nicht primär „moralisch“ zu verstehen ist. Sondern die Rede von einer wert-vollen demokratischen Zivilgesellschaft zielt auf die Bestimmung des Menschen in seiner je eigenen Würde ab.

Diese zivilgesellschaftliche Wert- und Würde-Orientierung ist institutionell breit verteilt. Sie ermöglicht die Ausgestaltung unterschiedlichster öffentlicher Bildungsbereiche. Seien es Schule oder außerschulische Bildungsarbeit, sei es im Blick auf die Zielgruppe von Kindern und Jugendlichen, Erwachsenen und Senioren. Dies bedeutet, dass der Sache nach die politische Reflexion und wertebildende Praxis nicht an einen bestimmten Bildungsbereich exklusiv delegiert oder gar auf eine einzelne Bildungsträgerschaft monopolhaft delegiert werden darf. Und damit kommt nun eben auch der Zusammenhang von Religion und Demokratie in den Blick.

Wie politisch ist religiöse Bildung?

Dieser weite Raum des Politischen umgreift seiner Sache nach auch die Religion. Religiöse Haltungen, Einstellungen und Praktiken sind selbst für die Zivilgesellschaft höchst bedeutsam. Religion ist eben nur auf den ersten Blick unpolitisch, oder womöglich gar eine Privatsache. Man mag zwar durchaus seine persönliche Religiosität pflegen, womöglich sogar im stillen Kämmerlein. Der Anspruch jeder Religion ist aber der Sache nach eben immer auf den Bereich der Öffentlichkeit hin ausgerichtet – und wie vorher gesagt, jede religiöse Haltung ist immer mit dem öffentlichen Leben selbst verbunden. Dies beginnt bei der grundrechtlichen Garantie der Religionsfreiheit, beinhaltet Meinungsfreiheit in religiösen Fragen, schließt die Gewährleistung religiöser Praxis ein und nicht zuletzt auch das Recht auf religiöse Bildung und damit auch den Religionsunterricht.

Und so reicht also der Raum des Politischen zugleich in das Kerngebiet religiöser Bildungsverantwortung hinein. Religiös fundierte Bildungsprozesse sind in ihrer Ausrichtung und Zielrichtung mit dem demokratischen Grundverständnis des Menschen als wert- und würdevollem Gemeinschaftswesen unmittelbar verbunden.

Wie steht es um den Rückzug des Religiösen ins Private?

Eine strikte Trennung zwischen religiöser und politischer Bildung ist nun aber angesichts des fundamentalen anthropologischen Grundsachverhalts individueller Gemeinschaftsbedürftigkeit und -fähigkeit ebenso ausgeschlossen wie aufgrund der geteilten Bildungsverantwortung der säkularen und religiösen Bildungsinstitutionen. Sowohl in der Schule wie in der religiösen Gemeinde stellt sich auf je unterschiedliche Weise täglich neu die wesentliche Frage nach der Menschlichkeit des Menschen und nach der Zielrichtung seiner individuellen und gemeinschaftsbezogenen Lebensführung. Schule und Gemeinde sind somit bei aller sachlich richtigen und notwendigen Unterscheidung in Fragen des Politischen unmittelbar aufeinander verwiesen und auch angewiesen. Eine strikte Trennung zwischen vermeintlich neutraler Menschenrechts- und Wertebildung einerseits und religiöser Bildung andererseits entspricht den Notwendigkeiten einer allgemeinen zivilgesellschaftlichen Bildung in keiner Weise (vgl. Schlag 2011).

Insofern wäre es fatal, würden sich der schulische Religionsunterricht und auch die kirchliche religiöse Bildung auf eine solche säkularistische Forderung nach dem Rückzug ins Private einlassen. Damit würden sie nicht nur zur vielfach beklagten Selbstsäkularisierung und zum weiter schleichenden Legitimationsverlust ihres öffentlichen Bildungsanspruchs beitragen, sondern gerade ihrem notwendigen Orientierungsauftrag gegenüber Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nicht gerecht werden.

Wie kann man die Fehler der Vergangenheit vermeiden?

Will nun religiöse Bildung in wertvoller Weise zur Lebensorientierung vor dem Horizont des Politischen beitragen, so sind allerdings bestimmte Fehler der Vergangenheit unbedingt zu vermeiden. Nicht ganz zu Unrecht hat man dem Religionsunterricht insbesondere der 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts vorgeworfen, den Politisierungs- und Ideologisierungstendenzen der damaligen Zeit mehr oder weniger blind gefolgt zu sein. Dabei habe religiöse Bildung die Kernsubstanz ihrer eigenen Inhalte aus dem Blick verloren.

Die religionspädagogische Wende hin zu einer stärkeren symbolorientierten und schließlich ästhetischen und performativen Ausrichtung des Unterrichts seit den 80er und 90er Jahren hat dann genau das Gegenteil bewirkt. Nun rückte der Bezugshorizont des Politischen sehr deutlich in die Hintergrund oder geriet sogar ganz aus dem Blick verloren. Indem die individuelle religiöse Wahrnehmung zum Ausgangs- und Zielpunkt religiöser Bildung wurde, blieben Fragen nach den Prinzipien eines gemeinsamen wertvollen und humanen Zusammenlebens mindestens unterbelichtet. In der reichen didaktischen Landschaft blieb das Politische ein Randbereich (vgl. etwa Grümme u. a. 2012).

Es ist also an der Zeit, sich im Rahmen religiöser Bildung nochmals sowohl inhaltlich wie didaktisch in neuer Weise auf die Herausforderungen des Politischen einzulassen – und zwar sowohl aus Gründen der religiös-inhaltlichen Botschaft wie auch aufgrund der konkreten Lebenslagen der jeweiligen Bildungsklientel in Schule, Gemeinde und der weiteren Öffentlichkeit (vgl. Schlag 2010; Grümme 2009).

Dies soll im Folgenden in einer dreifachen Hinsicht konkretisiert und näher ausdifferenziert werden:

Religiöse und politische Bildung am Beispiel des Themas Rassismus

Die Rede von „Rassismus“ löst weitreichende Assoziationen und erhebliche Emotionen aus – diese verbinden sich mit Intoleranz, Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt. In den gegenwärtigen Auseinandersetzungen im Zusammenhang des Aufstiegs und Auftretens populistischer Parteien spielt die Frage nach rassistischem Gedankengut eine erhebliche Rolle. Bestimmte, bewusst gesetzte Sprachverwendungen knapp an der Grenze des juristisch Erlaubten wecken die Erinnerung an die Täterschaft und das Opferleid der nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Würde und Menschlichkeit auf der Grundlage rassischer und völkischer Zuschreibungen (Holtmann, 2018). Diese populistischen Zuschreibungen werden in politisch-strategischer Hinsicht aktualisiert und konkretisiert, um so Abgrenzungen derer, die vermeintlich „dazu gehören“ und derer, die „fremd“ sind und eben „nicht dazu gehören“, vorzunehmen (Priester, 2012; Müller, 2016; Jörke/Selk, 2017).

Die ausgesprochen hitzige Debatte um den türkischstämmigen deutschen Staatsbürger und Nationalspieler Mezut Özil im Jahr 2018, seine eigenen Erklärungen sowie die daran anschließenden sportpolitischen und politischen Debatten zeigten, wie facettenreich und höchst subtil die Rede vom Rassismus für unterschiedliche Interessen und letztlich auch zur Untermauerung bestimmter Machtverhältnisse (Bühl, 2017) funktionalisiert werden kann. Schon unter Kindern und Jugendlichen werden bestimmte rassistische Denkweisen bis in deren alltägliches Denken und Verhalten hinein festgestellt (Leiprecht, 2001; in empirischer Hinsicht Zick/Klein, 2014; Zick, 2016).

Das Schulwesen ist keineswegs frei von rassistisch konnotierten Ausgrenzungsdynamiken (Broden/Mecheril, 2010; Fereidooni, 2016). An Universitäten ist Rassismus ein weitgehend verschwiegenes und in den letzten Jahren intensiver debattiertes Thema. Auch in der deutschen Hochschullandschaft wird Rassismus konstatiert (Kuria, 2015).

Im Unterschied zum Phänomen der Fremdenfeindlichkeit zeigt sich ein programmatischer und generalisierender Umgang mit dem Anderen, dem man aufgrund seiner vermeintlich naturgegebenen Eigenschaften prinzipiell das Recht auf gleichberechtigte Wahrnehmung als Person bzw. seiner Menschenwürde und damit dieselben Menschenrechte abspricht. Im Hintergrund steht hier die Grundlage „einer nach ‚Wertigkeit‘ der Herkunft strukturierten und damit rassialisierten Hierarchie, die Ungleichheit schafft und diese selbstreferenziell legitimiert.“ (Alexopolou, 2018, 18)

Was kann der Religionsunterricht zur Rassismusthematik beitragen?

Die Thematisierung des Rassismus in der schulischen Bildung und erst recht im Religionsunterricht ist nun aber ein schwieriges und komplexes Unterfangen. Denn eine möglichst sachliche und differenzierte Auseinandersetzung im Horizont offener Unterrichtsprozesse, wie sie als didaktisches Grundprinzip angezeigt ist, scheint im Fall dieser Thematisierung kein leichtes Unterfangen zu sein. Denn ist hier nicht unbedingte Eindeutigkeit gefragt, so dass die grundlegenden Prinzipien des Überwältigungsverbots, des Indoktrinationsverbots und des Kontroversgebots an ihre sachliche und fachliche Grenze kommen?

Und insbesondere für den Bereich religiöser Bildung ist zu fragen: Was kann diese hier überhaupt leisten? Droht nicht im Fall eindeutiger Parteinahme sogleich die Emotionalisierung und Politisierung, so dass – wie man es gegenwärtig schon der kirchlichen Flüchtlingsarbeit teilweise massiv vorwirft – mit dem Verdikt einer Art pädagogischen Gutmenschentums zu rechnen ist? Sollte insofern nicht überhaupt die politische Bildung bzw. der Politikunterricht federführend zeichnen und sich religiöse Bildung hier bewusst zurücknehmen? So ist zu fragen, ob man im Religionsunterricht „einfach“ bzw. „lediglich“ an die Menschenrechtsstandards anknüpft oder nicht auch bewusst hier einen weiteren Deutungshorizont miteinzieht.

Für die Frage, was der Religionsunterricht im Blick auf die Rassismusthematik im Sinne einer menschenrechtlich orientierten Bildung (Schulz, 2018) beitragen kann, zeigt sich die grundsätzliche Herausforderung, den Religionsunterricht im Gesamtzusammenhang schulischer Allgemeinbildung in seiner integrierten wie in seiner spezifischen Positionierung deutlich zu machen.

Wie kann man Rassismus definieren?

Grundsätzlich meint Rassismus eine bestimmte Wahrnehmungs-, Urteils- und Handlungsweise gegenüber Anderen – seien es Einzelne oder Gruppen, die man aufgrund bestimmter zugeschriebener äußerlicher Eigenschaften als „anders“ und minderwertig ansieht und denen man aufgrund biologistischer oder politischer Kategorisierungen bestimmte negative Merkmale oder Verhaltensweisen zuschreibt oder unterstellt (Gomolla/Kollender/Menk, 2018; Koller, 2009; Schubert/Klein, 2016; Priester, 2003; zur historischen Entwicklung und juristischen Bedeutung des Begriffs Cremer, 2009; Naguib, 2014; Zick 1997).

Der Begriff selbst beinhaltet somit verschiedene Ebenen und Komponenten:

  • Auf persönlicher Ebene bezieht er sich auf persönliche Einstellungen, Werte und Überzeugungen von der Überlegenheit der eigenen Herkunft und der Minderwertigkeit anderer Herkünfte;
  • auf interpersonaler Ebene meint er Verhaltensweisen gegenüber anderen, die die Überzeugung von der Überlegenheit der eigenen Herkunft reflektieren;
  • auf institutioneller Ebene umfasst er Gesetze, Gebräuche, Traditionen und Praktiken, die systematisch zu „rasse“-bedingten Ungleichheiten und Diskriminierungen in einer Gesellschaft, in Organisationen oder Institutionen führen;
  • auf kultureller Ebene bezieht er sich auf die Werte und Normen des sozialen Verhaltens, die die eigenen kulturellen Gewohnheiten als Norm und Maßstab setzen und andere kulturelle Gewohnheiten als minderwertig darstellen (Informationsplattform Humanrights.ch).

Insofern ist analytisch zwischen rassistischen Denk- oder Handlungsweisen einzelner Personen, Bewegungen und Parteien und einem programmatischen politischen oder kulturellen Rassismus zu unterscheiden.

In einem weiteren Sinn der Analyse von Denkströmungen breiterer Bevölkerungsteile als „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (Heitmeyer, 2012) wird darüber hinaus eine Art alltäglicher Rassismus in unterschiedlich massiven Spielarten festgestellt. Die gegenwärtig mindestens für Deutschland zu konstatierende ansteigende Islamfeindschaft kann dabei geradezu als Rassismus in neuem Gewand erscheinen: „nun wird (vordergründig) nicht mehr biologistisch argumentiert, sondern die vermeintliche Rückständigkeit der islamischen Kultur thematisiert.“ (Decker/Kiess/Brähler, 2014, 48)

Was bedeutet dies nun in pädagogischer Hinsicht? Im Folgenden sollen in Orientierung an der Frage des Kompetenzerwerbs einige wesentliche Aspekte benannt werden, um diese anschließend für die thematischen Herausforderungen für schulische religiöse Bildungsprozesse fruchtbar zu machen – und dies gerade unter Berücksichtigung der oben bereits genannten Prinzipien des Überwältigungsverbots, des Indoktrinationsverbots und des Kontroversitätsgebots.

Wie bildet sich das Thema Rassismus in Lehrplänen und Materialien ab?

Hier können im Folgenden lediglich einige grundlegende Aspekte zur Behandlung des Themas entlang einer kompetenzorientierten Grundstruktur benannt werden, wie sie sich in einschlägigen Lehrplänen und Materialien abbilden: Im Sinn kognitiver Kompetenz wird für den Unterricht die möglichst umfassende gesellschaftspolitische Analyse, die ihrerseits historische und aktuelle Aspekte umfassen muss, gefordert. Hier wird etwa nach den Entwicklungslinien rassistischen Denkens und seinen Folgen, aber auch nach aktuellen Phänomenen, die sich als Rassismus bezeichnen lassen, gefragt. Hier wird aber auch in differenzierender Hinsicht gefragt, welche Motive einzelnen rassistischen Phänomenen zugrunde liegen, also etwa bestimmte politische Absichten, kulturelle Unterscheidungen oder eben auch religiöse Hintergründe (Broden/Hößl/Meier, 2017).

Im Sinn der Wahrnehmungs- und Deutungskompetenz sollen bei den Schülerinnen und Schülern bestimmte Fragehorizonte eröffnet werden wie etwa: Wonach konstituiert sich das Bild des Menschen, was macht sein Mensch-Sein und seine Person aus? Wie konstruieren wir Menschenbilder – warum kommt es überhaupt zu kollektiven Zuschreibungen, die das einzelne Individuum als Teil einer größeren, bedrohlichen Masse ansehen? Didaktisch wird es in diesem Zusammenhang als notwendig erachtet, die möglichen Gründe für Rassismus möglichst genau auszudifferenzieren und insofern bei den Schülerinnen und Schülern Differenzkompetenz zu ermöglichen.

Wie können Lehrkräfte ihre Rolle reflektieren?

An dieser Stelle kommen oftmals zugleich auch das Selbstverständnis und die Rolle der Lehrkräfte auf den Prüfstand. Wie geht man selbst mit dieser Thematik um, welche Bilder hat man im Kopf, wovor hat man möglicherweise selbst Angst?

Im Sinn der Reflexionskompetenz wird diese Wahrnehmungsebene in einzelnen Unterrichtsvorschlägen weiter vertieft, indem die möglichen Hintergründe eigener Haltungen und Einstellungen in den Blick kommen. So wird etwa gefragt: Wie gehen wir selbst mit den eigenen Vorurteilen um? Warum vertreten wir bestimmte Sichtweisen? Woher kommen überhaupt die eigenen Vorurteile und Prägungen? Wie sprechen wir selbst in ab- und ausgrenzender Weise und weshalb eigentlich? Dadurch sollen die Schülerinnen und Schüler dafür sensibilisiert werden, dass eine bestimmte Form dessen, was als rassistisch erscheint, möglicherweise auch entwicklungspsychologisch mit „notwendigen“ und komplizierten Prozessen der Identitätssuche und Selbstvergewisserung – für sich alleine oder in der jeweiligen Bezugsgruppe – zu tun haben kann.

Damit sich diese Analysen und Reflexionen mit der eigenen alltäglichen Praxis verbinden, soll im Sinn der Urteils- und Handlungskompetenz danach gesucht werden, welche Konsequenzen sich aus dem erworbenen Wissen und der vertieften Reflexion für das eigene Handeln ergeben könnten. Dabei werden „Täter“- wie „Opfer“-Perspektive in den Blick genommen: Was tun wir, wie gehen wir damit um, wenn wir bestimmte Äußerungen als rassistisch empfinden? Wie würden wir reagieren, wenn man uns selbst aus „rassistischen Gründen“ diffamiert, ausgrenzt und ausschließt?

Und schließlich – damit die entsprechenden Debatten  im Schulleben und im Alltag nicht folgenlos bleiben –, wird im Sinn der Partizipationskompetenz sondiert, ob und wie persönliches Engagement, sei es die bewusste Intervention im persönlichen Gespräch, sei es das Engagement in zivilgesellschaftlichen Netzwerken, möglich ist und was es dazu an Kompetenz und Motivation braucht. Hier können entsprechende schulische Projekte bereits anschaulich und erheblich zum Kompetenzerwerb für ein solches bewusstes Engagement beitragen.

Wie kann religiöse Pädagogik die Rassismusthematik bearbeiten?

Religiöse Bildung muss in der Beschäftigung mit der Rassismusthematik grundsätzlich zweierlei deutlich machen: Zum einen, dass sie selbst als Teil der schulischen und außerschulischen Allgemeinbildung zu einer positiven und wertschätzenden Menschenrechtskultur am Ort der Schule als Lebensort der Gesellschaft beitragen will und insofern eine konstruktive Bildungsleistung zum Umgang mit dem Thema Rassismus zu erbringen vermag.

Zum zweiten, dass die spezifisch religionsbezogene theologische Perspektive einer solchen Thematisierung einen Mehrwert für die Allgemeinbildung selbst hat: Weil hier Sichtweisen und Bilder eingespielt werden, die sich klar gegen solche Aus- und Abgrenzungsabsichten wenden. Gerade angesichts der zunehmenden Heterogenität auch im konfessionellen Religionsunterricht und in anderen Bildungszusammenhängen, das heißt konkret einer mehr und mehr multiethnisch zusammengesetzten Schülerschaft, besteht hier die Chance und Notwendigkeit, auch in diesem Unterrichtskontext über Abgrenzungen und Grenzziehungen ins Gespräch zu kommen.

Das Religiöse steht dabei in der Verantwortung, die Hintergründe des Themas so zu beleuchten, dass Kindern und Jugendlichen tatsächlich die ernsthafte, abwägend-verstehende Auseinandersetzung möglich wird. Alle Formen einer deutlichen Positionierung gegenüber einzelnen Phänomenen des Rassismus und den entsprechenden Aussagen sind zwar unbedingt notwendig. Andererseits kann eine bestimmte Form von „political correctness“ durchaus problematisch sein.

Wie gut eignen sich biblische Leitbilder?

Zu fragen ist, worauf man sich biblisch und theologisch zu beziehen vermag, ohne dass dies sogleich als blauäugig, klischeehaft oder schlichtweg idealistisch angesehen wird. Dafür seien im Folgenden – und dies nun auch in Aufnahme der oben genannten politikdidaktischen Kompetenzdifferenzierungen – einige Aspekte benannt: Auf der Ebene des Erwerbs kognitiver Kompetenz ist die Bezugnahme auf die biblischen Überlieferungen von zentraler Bedeutung. Allerdings sollte man sich hier vor allzu schnellen einlinigen und moralisch vermeintlich eindeutigen Relektüren und Bezugnahmen hüten. Denn der Umgang mit dem Fremden ist biblisch gesehen höchst ambivalent.

Die biblische Überlieferung zeigt neben ihren vielfachen Mahnungen zur Annahme und Anerkennung des Fremden eben auch massive Ausgrenzungstendenzen des als „anders“ Empfundenen oder ganzer Volksgruppen. So etwa, wenn es um fremde Gottesbilder, andere moralische Wertvorstellungen oder kultische Praktiken angeht. Man denke hier beispielsweise an Gottes Befehl, die Diener anderer Götter zu steinigen (5. Mose 17,2-5), sie mit dem Schwert zu zähmen (Jes 65,11) oder Rache an den Heiden, die nicht gehorchen wollen, zu üben (Mi 5,14).

Die enge Verbindung von Volkszugehörigkeit und Religionszugehörigkeit, etwa unter dem Label des „auserwählten Volkes Gottes“, geht historisch gesehen, mit problematischen Exklusivitäts-, Superioritäts- und Absolutheitsansprüchen sowie programmatischen Diffamierungen und Verfolgungen einher. Dass sich die christliche und kirchliche Wahrnehmung der jüdischen Religion und ihrer Glaubensanhänger historisch gesehen durchaus in die Linie einer solchen programmatischen Abwertungskultur gestellt hat, was wiederum höchst problematische Folgerungen mit sich gebracht hat, darf folglich im Religionsunterricht keinesfalls tabuisiert werden (Schlag, 2016).

Hinsichtlich der Reflexions- und Urteilskompetenz sind deshalb gerade solche biblischen Leitbilder und Grundvorstellungen stark zu machen, die von der unbedingten Würde des Menschen in seiner geschöpflichen Existenz (1. Mose 1,26) und des damit verbundenen unbedingten Schutzanspruchs jedes einzelnen Verfolgten sprechen. Hinzuweisen ist darauf, dass die Grundpflicht der Annahme des Fremden und zu Schützenden sowohl alt- wie neutestamentlich von den Geboten der Nächsten- und Feindesliebe (Mt 22,38ff.; Jak 2,8; Joh 13,34) umfasst wird.

Von orientierender Bedeutung ist hier der Gedanke der Einheit des ganzen Menschengeschlechts (Apg 17,26; Joh 3,16; 1. Joh 2,2), Gottes Ansehen jeder Person (5. Mose 10,17; Apg. 10.34; Röm 2,11; Eph 6,9) und die von Paulus formulierte Absage an jegliche diskriminierende Zuschreibung, die er gerade aufgrund seiner anthropologisch- theologischen Sicht auf den Menschen ableitet (Gal 3,28). Von daher ist deutlich zu machen, dass die Rede von „Rasse“ überhaupt – selbst wenn sich der Begriff noch in den einschlägigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen (etwa in Art. 3,3 Grundgesetz) findet, anthropologisch und theologisch und folglich auch in rechtlicher Hinsicht unhaltbar ist (zum durchaus komplexen bildungstheoretischen Zusammenhang Schaede, 2014).

In diesem Sinn kann religiöse Bildung im Sinn der Erhöhung individueller ethischer Wahrnehmungs-, Reflexions- und Urteilskompetenz dazu beitragen, unter den Schülerinnen und Schülern Achtsamkeit und Aufmerksamkeit auf den je Anderen und den Fremden zu erhöhen. Die religionsdidaktisch immer wieder herausgestellte Differenzierungskompetenz muss sich jedenfalls gerade auch in Hinsicht auf die Rassismusthematik nochmals in ganz neuer Weise bewähren. Dies geschieht, indem reale politische Vorgänge und Entwicklungen, religiös begründete Vorurteilsstrukturen und problematische Praktiken sowie mögliche individuelle und interreligiöse Handlungsmöglichkeiten miteinander bedacht und erprobt werden.

Wie können konkrete Unterrichtsprozesse aussehen?

Sowohl in pädagogischer wie in theologischer Perspektive ergeben sich damit für konkrete Unterrichtsprozesse und durchaus auch den fachübergreifenden Unterricht erhebliche Herausforderungen, aber auch Chancen. Demzufolge gilt es einen dialogischen Stil der Fremdbegegnung einzuüben und zu pflegen, der „die Fremdheit der fremden (und der eigenen) Religion als Herausforderung, als Neugierde erweckender Widerstand, der einen ‚Mehrwert‘ bietet“ (Streib, 2005, 237), zu verstehen lehrt.

Von seinen theologischen Grundlegungen aus ist dann auch die didaktische Frage zu bedenken, ob und wann man im Fall des Falles auch gegen bestimmte diskriminierende Einstellungen und Aussagen im Klassenzimmer intervenieren muss. Wie schon betont, gilt auch für religiöse Bildung, dass Kontroversität nicht unterbunden werden darf, sondern ihr der notwendige Raum gegeben werden muss. Gerade theologische Begründungsfiguren dürfen nicht im Modus der Überwältigung eingespielt werden, da dies gerade als indoktrinäre Verhinderung offener Unterrichtsprozesse empfunden werden könnte.

Im Blick auf die stärker handlungsorientierte Partizipationskompetenz steht religiöse Bildung vor der unbedingten Herausforderung, sich in entsprechende schulische Projekte zur Antirassismusarbeit zu integrieren bzw. diese selbst zu initiieren. Hier hat er aufgrund seiner sachlichen und oftmals auch personalen Nähe zu den kirchlichen Gemeinden auch besondere Potentiale, schulische und außerschulische Bildungsarbeit im Sinn der Netzwerkarbeit zu verbinden.

Zusammenfassung

Wie bereits angedeutet: Zivilgesellschaftliches Engagement setzt zu allererst die Fähigkeit zu kritischer Mündigkeit und reflektierter Teilhabe voraus. Damit ist ein konkreter Zielhorizont auch für religiöse Bildung angegeben. Religiöse Bildung hat dazu beizutragen, dass Menschen sich durch den Bezug auf bestimmte religiöse Traditionen möglichst lebensdienliche Orientierungsmaßstäbe für ihr eigenes Urteilen und Handeln aneignen können.

Kernaufgabe religiöser Bildung ist es, Menschen zu einem Blick auf ihresgleichen zu befähigen, der elementar und uneingeschränkt deren unverlierbare Würde voraussetzt, ernst nimmt und im Konfliktfall auch schützt und zur Sprache bringt (vgl. Schweitzer 2011).

Die tiefste und höchste politische Dimension religiöser Bildung besteht folglich darin, vom Gedanken eines schöpferischen, bewahrenden und befreienden Gottes aus im Angesicht des Anderen tatsächlich den würdigen und wertvollen Anderen erblicken zu können. Erst von einer solchen christlich grundierten vorurteilsfreien Empathie dem Anderen gegenüber können sich dann Fragen von Gerechtigkeit, Solidarität und Teilhabe in ihrem Tiefensinn erschließen. Dies bedeutet dann aber auch zugleich, dass der religiöse Kerngehalt immer auch ein überschießendes Moment enthält, das für Fragen des Politischen eben nicht funktionalisiert oder gar instrumentalisiert werden darf (vgl. Dressler 2012 und im weiteren Zusammenhang auch Klie/Korsch/Wagner-Rau 2012).

Dass von dort her religiöse Bildung auch in didaktischer Hinsicht selbst in hohem Maß „würdigen“ Charakter tragen muss, leuchtet unmittelbar ein. Hier ist die politikdidaktische Einsicht, dass etwa demokratische Bildung selbst unbedingt demokratischen und partizipatorischen Charakter tragen muss, von wesentlicher Orientierung auch für alle religiösen Bildungsangebote. Sowohl für den schulischen und außerschulischen wie für den kirchlichen Bereich gilt, dass der Diskurs über Fragen einer zukunftsfähigen Demokratie selbst den Charakter demokratischer Teilhabe tragen muss.

Der Beitrag ist eine gekürzte Fassung des Vortrags „Politische Bildung und religiöse Bildung für die Demokratie“, den Prof. Schlag im Oktober 2018 auf dem Fachtag „Jung, religiös, (un)demokratisch?“ der Evangelischen Akademie in Frankfurt gehalten hat. Wir danken dem Autor für die freundliche Überlassung.


Literatur

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