„Und täglich grüßt das Murmeltier“: Das Interview zum Thema Rassismus, das ich gern einmal führen würde
22. Oktober 2018 | Diversität und Diskriminierung

Tupoka Ogette ist Expertin rund um das Thema Rassismus. Sie gibt viele Interviews für Radio, TV und Printmedien. Und jedes Mal bekommt sie die gleichen, „weißen“ Fragen gestellt. Deshalb hat sie ein Interview mit sich selbst geführt – über die wirklich wichtigen Fragen.

„Ich arbeite als Trainerin, Beraterin und Keynote Speakerin rund um das Thema Rassismus. In den letzten sechs Jahren durfte ich mit hunderten von Menschen über das Thema Rassismus sprechen. Ich habe auch ein Buch herausgebracht – „exit Racism. Rassismuskritisch denken lernen.“ Die Rückmeldungen, die ich von meinen Leser_innen erhalte, sind überwiegend sehr positiv. So weit, so wunderbar.

Zu meiner Arbeit gehören auch Pressetermine. Interviews für Radio, Printmedien und ein paar Mal auch fürs Fernsehen. Im Zuge der #MeTwo-Debatte gab es – wie immer, wenn das Thema „Rassismus“ mal wieder Konjunktur hat in der deutschen Medienlandschaft – eine große Zahl an Interviewanfragen für Menschen wie mich, die ihr täglich Brot damit verdienen, andere Menschen auf eine rassismuskritische Reise mitzunehmen.

Und vorweg, damit mich niemand falsch versteht: Ich freue mich über das Interesse der Journalist_innen. Interessant ist allerdings, dass ich, seitdem ich diese Arbeit mache – also seit knapp zehn Jahren – jedes Mal fast ausnahmslos exakt die gleichen Fragen gestellt bekomme. Ich sage fast, weil es natürlich einige sehr ermutigende Ausnahmen gab und gibt. Auch in Redaktionen sitzen inzwischen immer mehr Schwarze Menschen und People of Color und insgesamt Menschen auf einem rassismuskritischen Weg. Aber in gefühlter Endlosschleife kommt die Frage danach, ob ich denn auch Rassismuserfahrungen mache? Oder ob es in Deutschland denn wirklich Rassismus gäbe?

Und auch wenn ich aus meiner Arbeit weiß, dass es Teil der Jobbeschreibung ist, dass ich bestimmte Inhalte, Mechanismen und Zusammenhänge immer wieder neu erklären, besprechen, analysieren muss und dies auch wirklich gern und mit großer Leidenschaft tue, frage ich mich doch ernsthaft, warum es in den deutschen Medien, in der gesamtdeutschen Rassismusdebatte nur wenig Bewegung zu geben scheint. Und es ist überhaupt nicht so, dass ich alle Journalist_innen anprangern will. Im Gegenteil. Was mich wundert, ist, warum es an dieser Stelle, wenn es um das Thema Rassismus geht, scheint, als wären wir in dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ gefangen, wo wir immer wieder am selben Tag aufwachen.

Ich bin keine Journalistin. Aber ich habe hier einmal das Interview mit mir selbst geführt, welches ich gern einmal mit einer Journalistin führen würde:“

Das Interview

Frau Ogette, wir führen in Deutschland ja nicht das erste Mal eine öffentliche Debatte zum Thema Rassismus. Haben Sie das Gefühl, dass sich die Qualität dieser Debatten verändert?

Tupoka Ogette: Im Gegenteil. Die Diskussion erfolgt fast ritualisiert immer wieder nach dem gleichen Muster.

Jemand benennt Rassismus öffentlich. Daraufhin gibt es Menschen, die von Rassismus betroffen sind, die sich nun trauen, auch ihre Erlebnisse zu schildern. Direkt im Anschluss gibt es einen Aufschrei aus der gesellschaftlichen Mitte. Nicht etwa ein allgemeines Entsetzen darüber, wie so viele unserer Mitbürger_innen täglich Alltagsrassismus ausgesetzt sind, sondern darüber, ob diese Erfahrungen denn überhaupt valide sind. Ob sie überhaupt Rassismus genannt werden dürfen. Ob diese Menschen nicht vielleicht doch zu emotional und übersensibel seien. Ob sie überhaupt ein Recht darauf haben, ihre Erfahrungen zu benennen.

Und dann beginnt eine nicht enden wollende Diskussion, in der die Einen immer wieder fragen: „Ach, Ihr erlebt wirklich Rassismus?“ Und wenn die Gefragten dies dann bestätigen, heißt es: „Das ist aber übertrieben. Das müssen Sie erst einmal beweisen. Wir sind doch keine Rassisten!“.

Es dauert dann nicht lange, und es hüllt sich wieder ein Mantel des Schweigens über das Thema. Die Einen, weil sie frustriert sind, mal wieder nicht gehört worden zu sein, obwohl sie sich durch das Erzählen ihrer persönlichen, schmerzhaften Erfahrungen verletzlich gemacht haben, und die Anderen, weil sie sich nicht länger sagen lassen wollen, dass sie Rassisten sind. Und auch (Sarkasmus an), weil sie oft diejenigen sind, die in den Schaltzentralen sitzen und Diskurse an- und abschalten können, wenn sie unbequem werden (Sarkasmus aus).

Übrigens reicht eigentlich ein kurzer Blick in die Kommentarspalten der Erfahrungsberichte oder die Antworten auf die #MeTwo-Tweets, um zu wissen, wie viel rassistischem Müll Schwarze Menschen und People of Color auch heutzutage ausgesetzt sind.

Warum, denken Sie, ist die Debatte so dermaßen emotionalisiert und warum gibt es diesen starken Impuls der Relativierung durch Menschen, die gar nicht von Rassismus betroffen sind?

Tupoka Ogette: Weil das Thema Rassismus wahnsinnig emotional ist. Und weil wir mit einem falschen Rassismusverständnis in diese Diskussionen gehen.

Rassismus wird immer noch als individuelle böse Tat einer oder eines Einzelnen verstanden. Und natürlich: Die Erstarkung der Rechten und das Salonfähig-Werden offener rechter Parolen in diesem Land und weltweit ist etwas, das vielen Menschen Angst macht und dies zurecht. Und da ist eine klare gemeinsame antirassistische Haltung von allen Menschen, die sich nicht bewusst rechts positionieren, wichtig, essenziell und klar gefordert. Aber: Rassismus nur aus dieser Perspektive zu betrachten, ist kurzsichtig und fatal.

Denn wenn solche Debatten wie #MeTwo etwas zeigen, dann dass die überwiegende Mehrheit der Alltags-Rassismuserfahrungen in dieser Gesellschaft dort passieren, wo die Menschen sitzen, die sich selbst für klar antirassistisch halten. Und die denken, dass „nicht rassistisch sein wollen“ reicht, damit Rassismus nicht reproduziert wird. Und diese gesellschaftliche Linke und Mitte sehen sich dann durch solche Erfahrungsberichte plötzlich in ihrer Selbstwahrnehmung bedroht.

Was ist Ihrer Meinung nach der Rassismusbegriff, mit dem wir arbeiten sollten, um in der Debatte wirklich voranzukommen?

Tupoka Ogette: Wir müssen begreifen, dass Rassismus ein gesellschaftliches soziales Konstrukt ist. Rassismus ist nicht nur die Ausnahmetat einzelner böser Individuen. Rassismus ist verflochten in allen Strukturen, allen Institutionen, allen Bereichen unserer Gesellschaft. Wir alle wurden in eine Welt hineingeboren, in der Rassismus in unseren Denkmustern, unserer Sprache, unseren Bildern steckt. Wir alle sind rassistisch sozialisiert worden. Das ist nicht das Gleiche wie „ein Rassist sein“.

Gilt das nur für Rassismus?

Tupoka Ogette: Nein, das gilt natürlich auch für alle anderen gesellschaftlichen Diskriminierungsformen wie Sexismus, Heteronormatismus, Ableismus etc.

Haben Sie manchmal das Gefühl, dass wir Rassismus so diskutieren, als ob wir es das erste Mal tun?

Tupoka Ogette: Ja absolut. Das interessante und gleichzeitig frustrierende ist, dass es seit vielen Jahren eine umfassende Forschung dazu gibt. Viele Menschen haben sich im deutschen Raum bereits damit beschäftigt. Auch mein Buch reiht sich in eine rassismuskritische Tradition von vielen anderen Büchern und Artikeln, wissenschaftlichen Schriften und Debatten ein, die es seit Langem gibt und die schon lange geführt wurden und werden. Viele Studien haben immer wieder empirisch belegt, dass es keinen Raum gibt, in dem Rassismus nicht existiert. Rassismus ist also die Norm und nicht die Ausnahme. Wenn wir Rassismus so diskutieren würden, dann müssten wir nicht mehr Zeit damit verschwenden, darüber nachzudenken, ob Rassismus nun wirklich real ist und tausende Tweets über Rassismuserfahrungen in ganz Deutschland nicht vielleicht doch nur subjektive und individuelle Rachefeldzüge einzelner frustrierter „Ausländer“ sind. Wir könnten Talkshows, Zeitungskolumnen mit echten produktiven Debatten über Veränderungen füllen, die dieses Land tatsächlich rassismusärmer machen würden.

Was ist der Bereich, in dem Sie sofort etwas ändern wollen würden, und was genau würden Sie sich für diesen Bereich wünschen?

Tupoka Ogette: Es gibt so viel zu tun. Und jeder einzelne Bereich, in dem Rassismus wirkt, ist einer zu viel. Aber mir persönlich liegt das Thema Rassismus im Schulsystem ganz besonders am Herzen. Natürlich auch deshalb, weil ich als Mutter jeden Tag ein Schwarzes Kind in die Schule schicke.

Und auch die #MeTwo-Debatte hat – einmal mehr – ganz klar gezeigt, wie viele der Alltagsrassismuserfahrungen in Schulen stattfinden. Und zwar vom Lehrpersonal ausgehend. Wo ist der Aufschrei von Lehrer_innen, von Menschen im Schulsenat, in den Schulaufsichten, den Schulpsycholog_innen, den Schulsozialarbeiter_innen darüber, wie viele Kinder täglich in ihrer Obhut solche traumatisierenden Erfahrungen machen?

Mir fehlt die öffentliche Betroffenheit über diese Erfahrungen. Ich wünschte, sie würde dazu führen, dass Rassismuskritik und generelle Diskriminierungskritik, die Selbstreflexion zum Thema Rassismus und der Umgang mit dem Thema im Kollegium und im Klassenzimmer ab sofort als obligatorisches und umfassendes Modul in jede Lehrer_innenausbildung gehört.

Wie erleben Sie denn Schulen in Ihrer Arbeit und auch privat, wenn es um das Aufzeigen von Rassismus geht?

Tupoka Ogette: Auch und besonders in Schulen gibt es einen extremen Abwehrmechanismus, wenn Rassismus benannt wird. Ich habe bereits von Fällen gehört, wo allein das Aufzeigen und Benennen von Rassismus zur Folge hatte, dass Eltern, die Rassismus in Bezug auf ihre Kinder benannten, rechtliche Konsequenzen angedroht wurden. Dabei wäre es auch hier viel wichtiger und auch zielführender für alle, wenn Schulen sagen würden: Ja, Rassismus ist ein gesellschaftliches Problem, und wir nehmen dies ernst, wann immer wir ihn erkennen oder aufgezeigt bekommen. Auch wenn ich viele engagierte und mutige Lehrer_innen kennenlernen durfte und wir in Berlin derzeit eine unglaublich mutige, engagierte und kompetente Antidiskriminierungsbeauftragte für Schulen haben – diese Schule suche ich leider noch.

Bitte zeichnen Sie uns doch ein Bild davon, wie Schule Ihrer Meinung nach aussehen sollte, damit sie ein rassismusärmeres Umfeld für die Menschen innerhalb dieses Systems wird?

Tupoka Ogette: Ich würde mir Schulen wünschen, denen es wichtiger ist, sich mit den Wirkungsweisen von Rassismus und der eigenen Positioniertheit zu beschäftigen, als damit, ob der Rassismusvorwurf überhaupt legitim ist.

Schulen, die Materialien schaffen und nutzen, die diskriminierungsfrei, realitätsnah und – wenn ich träumen darf – sogar empowernd, stärkend sind für alle Kinder.

Schulen, in der Grenzüberschreitungen jeglicher Art nicht geduldet werden und Kinder ermutigt werden, aktiv gegen Ungerechtigkeiten zu kämpfen anstatt mit stereotypisierten Bildern über die „Anderen“ gefüttert zu werden.

Schulen, wo auch die Lehrer_innen heterogen, multiperspektivisch, vielfältig sind und alle gesellschaftlichen Perspektiven und Positionierungen abbilden.

Schulen, wo eben diese Lehrerschaft regelmäßig Räume des Austauschs und der Weiterbildung zu allen Diskriminierungsformen erhält.

Kurz: Schulen, die in Bezug auf ihre gesamte Ausrichtung und Vision als Spiegel einerseits und auch als Fenster in die Welt andererseits wirken.

Wenn Sie in der öffentlichen Debatte ein Plädoyer halten dürften, was würden Sie den Menschen sagen wollen?

Tupoka Ogette: Ich will nicht mehr darüber diskutieren müssen, ob Rassismus überhaupt ein Thema ist in Deutschland. Ich möchte nur noch darüber nachdenken, wie wir Rassismus in jeder Form – als Alltagsrassismus, als strukturellen oder institutionellen und natürlich auch rechte Strömungen wie die AfD in jedem Winkel dieser Gesellschaft – entlarven und dekonstruieren können. Und das mit möglichst vielen Menschen zusammen!

Und ich möchte echte, ehrliche, mutige und vor allem selbstkritische Debatten zum Thema Rassismus erleben. Und dies als Gesamtgesellschaft.

Ich möchte die rechten besorgten Wutbürger aus dem momentanen Rampenlicht wissen und ein Spotlight auf die vielen Menschen legen, die sich aktivistisch, künstlerisch, politisch, sozialpolitisch, akademisch oder auch ganz einfach im Kleinen und Großen im Alltag für ein pluralistisches, diskriminierungsbewusstes und diverses Deutschland einsetzen.

Und da ich mich ja beruflich täglich in Institutionen und Organisationen bewege und mit Menschen zum Thema Rassismus arbeite, fordere ich nochmals, dass alle Menschen, vor allem und besonders die, die mit der Bildung von Kindern und jungen Menschen beauftragt sind, sich in ihrer Ausbildung intensiv und ausführlich mit rassismuskritischen Inhalten auseinandersetzen müssen.

Ich wünsche mir eine Revolution der Liebe. Und damit meine ich nicht (nur) die romantische zwischenmenschliche Liebe, sondern die politische, aktivistische, mutige, hoffnungsgebende, widerständige Liebe.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 5. Oktober 2018 im Online-Magazin MiGAZIN (Migration in Germany). Wir danken der Autorin und den Herausgeber_innen für die Erlaubnis, den Beitrag hier zu veröffentlichen.

Skip to content