Subtil zwischen Islam und Islamismus: Legalistischer Islamismus in Deutschland am Beispiel der Furkan-Gemeinschaft und Hizb ut-Tahrir-naher Organisationen
4. November 2021 | Radikalisierung und Prävention

Bild: Aleksandr Barsukov/unsplash.com

Welche Gruppen und Einstellungen können zu legalistischem Islamismus gezählt werden? Was ist an ihnen problematisch? Hanna Baron beschreibt am Beispiel der Furkan-Gemeinschaft und Hizb ut-Tahrir-naher Organisationen Strategien und Wirkungsweisen der Gruppen. Außerdem zeigt sie Möglichkeiten im Umgang mit legalistischem Islamismus für Pädagogik und Präventionsarbeit auf.

In den vergangenen Jahren stand vor allem der Salafismus im Fokus von (Fach-)Öffentlichkeit, Sicherheitsbehörden und Präventionsprojekten. Von dem sogenannten „legalistischen Islamismus“ schien dagegen – vor allem mit Blick auf den Aspekt der Gewaltbereitschaft – eine geringere Bedrohung auszugehen. Viele Initiativen, die diesem Spektrum zugeordnet werden, gelangten durch medienwirksame Aktionen wie etwa die #NichtOhneMeinKopftuch-Kampagne und diverse Demonstrationen in verschiedenen Großstädten nun verstärkt ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Sie können europaweit starken Zulauf verzeichnen, ihre Profile in den sozialen Medien haben oft eine größere Reichweite und sind erfolgreicher als die von salafistischen Akteur*innen. So können sie langfristig Einfluss auf politische und gesellschaftliche Diskurse ausüben und sprechen dabei vor allem junge Muslim*innen an. In Deutschland ordnen die Sicherheitsbehörden u.a. die Furkan-Gemeinschaft sowie die Initiativen Generation Islam, Realität Islam und Muslim Interaktiv, die ideologisch der seit 2003 verbotenen Hizb ut-Tahrir nahestehen, dem legalistischen Islamismus zu (vgl. BMI 2021a: 191, 220-225). Welche Aktionsformen wählen diese Bewegungen, welcher Narrative und Strategien bedienen sie sich und was macht ihre Attraktivität und Anziehung aus? Und: Welche Schlüsse lassen sich daraus für die Präventionsarbeit ziehen?

Was ist legalistischer Islamismus (nicht)?

Islamistische Gruppierungen, die ihre Ziele ohne den Einsatz von Gewalt, sondern mit legalen Mitteln erreichen wollen, werden „legalistisch“ genannt. Sie wirken wie die meisten der bekannteren islamistischen Strömungen ebenfalls auf eine Veränderung des politischen Gesellschaftssystems hin, möchten eine göttliche vor eine menschliche Ordnung stellen und ihre Interpretation des Islams zur verbindlichen Leitlinie für das gesellschaftliche und individuelle Leben machen (vgl. BMI 2021a: 188). Die Bezeichnung „legalistischer Islamismus“ wurde von den deutschen Sicherheitsbehörden geprägt und spiegelt eine spezifische Problem- und Sicherheitsperspektive wider (Vgl. Schiffauer 2015: 217, 232-235). Diese ist für andere Arbeitsbereiche wie etwa zivilgesellschaftliche Beratungsstellen nicht unbedingt notwendig oder gar hilfreich. So geht der Begriff „legalistischer Islamismus“ davon aus, dass es eine eindeutige Grenze zwischen Islam und Islamismus sowie legitimer und illegitimer Religionsausübung gibt. Tatsächlich gibt es dazwischen eher eine Grauzone, einen fließenden Übergang, der es erschwert, ohne genaueres Hinsehen zwischen einem eher konservativ verstandenen Islam und einer problematischen Ideologie mit Rückbezug auf den Islam zu unterscheiden. „Legalistischer Islamismus“ kann in diesem Bereich verortet werden. Durch diese Unschärfe gewinnt der Begriff auch in der politischen Debatte an Bedeutung. So werden die Begriffe des „legalistischen Islamismus“ bzw. des „politischen Islams“ beispielsweise von der CDU oder der österreichischen ÖVP nicht nur für den gewaltverzichtenden Islamismus verwendet, sondern schlechthin für alles, was am Islam anstößig erscheint (vgl. CDU 2016, ÖVP, Meier 2021a, Meier 2021b). Er sei „die größte Herausforderung unserer Zeit“ (CDU 2016). Problematisch an dieser Begriffsverwendung ist vor allem, dass der Islam hier mit Extremismus in Verbindung gebracht wird und damit einer Stigmatisierung von Muslim*innen Vorschub leistet. Rechtspopulistische Propaganda nutzt diesen Graubereich ganz gezielt, um den Islam mit Terrorismus in Verbindung zu bringen, zu problematisieren und Muslim*innen auszugrenzen (vgl. Fielitz et al. 2018: 24-31) [1].

Gruppierungen im legalistischen Spektrum: Die Furkan-Gemeinschaft und Hizb ut-Tahrir-nahe Initiativen

Die Furkan-Gemeinschaft hat ihren Ursprung 1994 in der Türkei. Ihr geistiger Führer ist Alparslan Kuytul, der zuletzt mehrere Monate in türkischer Haft verbrachte. Ihr Kernziel ist die Verwirklichung einer „islamischen Zivilisation“, in der alle Muslim*innen im Glauben vereint und der Mensch kompromissloser Diener Gottes sein soll. Umfassende Bildungsarbeit wird als ein Schlüssel auf dem Weg dorthin verstanden: Sogenannte „intellektuelle Gelehrte“ (türkisch: aydın alimler) sollen als avantgardistische Vorreiter-Generation den Islam nach eigener Interpretation verbreiten und eine göttliche Herrschaft schaffen. Die Gruppierung bietet zudem Gemeinschaftserfahrungen und soziale Bindungen durch attraktive Freizeitangebote und soziale Hilfen und erreicht damit zahlreiche Menschen. Ihre wichtigsten Standorte in Deutschland sind Hamburg und Dortmund (vgl. BMI 2021a: 253).

Die Hizb ut-Tahrir, eine transnationale, panislamische Bewegung, hat ihren Ursprung in Jerusalem in den frühen 1950er Jahren. Sie geht zurück auf den Rechtsgelehrten Taqi ad-Din an-Nabhani und hatte zunächst das Ziel, Palästina von der „Besetzung“ durch Israel zu befreien. Mittlerweile hat sich ihr Hauptanliegen auf die Befreiung aller Muslim*innen von der wahrgenommenen Unterdrückung durch den „Westen“ und westliche Ideologien verlagert. Auch die Hizb ut-Tahrir wünscht sich eine Rückkehr zum „wahren“ Glauben, eine uneingeschränkte Herrschaft Gottes und eine Vereinigung aller Muslim*innen. 2003 wurde die Gemeinschaft durch das Bundesministerium des Innern mit einem Betätigungsverbot belegt. Grund dafür waren offen geäußerte Israelfeindlichkeit und antisemitische Propaganda, die als Verstoß gegen den Gedanken der Völkerverständigung und als Befürwortung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele gewertet wurden. In den folgenden Jahren passten sich die Anhänger*innen an, bildeten dezentrale Strukturen und neue Initiativen, die der Hizb ut-Tahrir ideologisch offenkundig nahestehen, sich aber nicht zu ihr bekennen. Realität Islam kann zu ihnen gezählt werden, eine Initiative (gegr. 2015), die ihren Sitz in Hessen hat. Ebenso Generation Islam (gegr. 2014) und Muslim Interaktiv (gegr. 2020), die beide ihren Ursprung in Hamburg haben. Die drei Netzwerke zeigen auch untereinander deutliche Parallelen mit Blick auf Themen, Vorgehen und spezifische Begriffe (bspw. „Zwangsassimilation“, „Wertediktatur“) (vgl. BIS 2020).

Vorgehen, Themen und Narrative

Gruppierungen, die klassischerweise in den 1990er und 2000er Jahren zum legalistischen Spektrum gezählt haben, waren die transnationale Missionsbewegung Tablighi Jamaat und Organisationen, die der ägyptischen Muslimbruderschaft oder der türkischen Millî Görüş-Bewegung zugerechnet wurden. Diese Gruppierungen sind für potenzielle Anhänger*innen in erster Linie wegen ihrer Vereinsarbeit, sozialen Hilfsangeboten, Bildungsmöglichkeiten, Freizeitaktivitäten und politischer Lobbyarbeit attraktiv. Sie legen ihre Schwerpunkte auf soziale Bindungen, Integration sowie Unterstützung und gewinnen so Menschen für ihre Gemeinschaften. Angebote im Onlinebereich sind dort in der Regel eher werbendes Begleitwerk. Vor allem bei der Furkan-Gemeinschaft, aber in Teilen auch bei den Hizb ut-Tahrir-nahen Initiativen lassen sich ebenfalls lebendiges Vereinsleben, gemeinschaftliche Tätigkeiten und Bildungsangebote verzeichnen.

Salafistische Szenen erlebten in den letzten Jahren den größten Zulauf, mittlerweile aber werden die Furkan-Gemeinschaft oder Hizb ut-Tahrir-nahe Initiativen vor allem bei jungen Menschen immer beliebter. Das kann zum einen am Niedergang des sogenannten Islamischen Staats liegen, zum anderen aber auch an staatlichen Maßnahmen gegen salafistische Propaganda, durch die die Sichtbarkeit ehemals populärer Prediger deutlich eingeschränkt wurde. Von Bedeutung könnte aber auch sein, dass vielen jungen Menschen vor allem der dschihadistische Salafismus zu gewalttätig, offensichtlich provokant und problematisch erscheint. Für diese Menschen können deshalb gewaltverzichtende Zusammenschlüsse und Bewegungen interessant werden, die zwar nach wie vor Gemeinschaft, Antworten auf Sinnfragen und Identität bieten, dabei aber zunächst für einen unverfänglichen, legitimen politischen Aktivismus stehen (vgl. Bayaral 2021). Sowohl die Furkan-Gemeinschaft als auch die ursprüngliche Hizb ut-Tahrir haben in ihren früheren Jahren in Deutschland versucht, Menschen mit hohem Bildungsniveau und potenziellem Einfluss für sich zu gewinnen. Die Missionsbemühungen aus diesem Umfeld richten sich noch immer primär an bildungsorientierte, politisch interessierte junge Muslim*innen, sind aber vor allem mit Blick auf die sozialen Medien auf die veränderten Opportunitätsstrukturen ausgelegt (Vgl. Kahl 2020). So nutzen Generation Islam, Realität Islam und Muslim Interaktiv das Internet ähnlich wie viele salafistische Szenen als zentrale Aktionsplattform, während die Furkan-Gemeinschaft ihren Fokus weiterhin auf offline-Angebote legt, die in den Online-Angeboten größtenteils nur beworben werden.

Den genannten Gruppierungen werden von den deutschen Verfassungsschutzämtern verhältnismäßig wenige Anhänger*innen zugeordnet – der Furkan-Gemeinschaft lediglich 400, der Hizb ut-Tahrir etwa 600, die Initiativen werden bzgl. der Personenpotenziale noch nicht genannt (vgl. BMI 2021a: 244, 253), allerdings erreichen ihre Profile in sozialen Medien eine deutlich größere Reichweite. So spielt der Onlinebereich eine zentrale Rolle für die Anwerbung und Rekrutierung für die beworbenen Aktivitäten. An der Spitze steht hier mit Abstand Realität Islam, die auf YouTube ca. 17.600 Abonnent*innen hat und über 1.4 Millionen Aufrufe ihrer Videos. Dabei unterhalten die Gruppierungen Profile mit regelmäßigen Postings auf YouTube, Facebook, Twitter und Instagram.  Es lässt sich beobachten, dass sie sich auch mit anderen Formaten versuchen, so unterhält Muslim Interaktiv beispielsweise ein Profil auf der vor allem bei Jugendlichen beliebten Kurzvideo-Plattform TikTok, die Furkan-Gemeinschaft nimmt für ein möglicherweise älteres Publikum Podcasts auf. Dabei sind die Initiativen äußerst professionell, digitalkompetent und versiert, haben hochwertig produzierte Videos, die mitreißen und emotionalisieren. Die Sprecher sind oft ebenfalls jung, wirken cool, rebellisch, nahbar und authentisch und werden so leicht zu Vorbildern. Sie kommunizieren auf Augenhöhe und nutzen dabei vertraute Bild- und Stilmittel. Dabei greifen sie sowohl aktuelles politisches und gesellschaftliches Geschehen als auch adoleszente Entwicklungsherausforderungen, Ungerechtigkeits- und Ausgrenzungserfahrungen ihres Publikums auf. Sie inszenieren sich als Sprachrohr oder Schutzmacht aller unterdrückten Muslim*innen, nehmen eine Verteidigungsperspektive ein und unterstellen der Mehrheitsgesellschaft, den Islam grundsätzlich auszugrenzen. Sie wollen die Identität der eigenen Gruppe gegen die zum Feind erklärte Mehrheitsgesellschaft verteidigen (Vgl. Kahl 2020: 5). Alle Gruppierungen und Initiativen führen dabei an, es gäbe großangelegte Verschwörungen „des Westens“, den „wahren“ Islam, wie sie ihn verstehen, zu bekämpfen. So erklärt beispielsweise Alparslan Kuytul, der „Westen“ akzeptiere allein einen „Euro-Islam“, der auf den privaten Raum beschränkt sei und keinerlei politische Ansprüche erhebe (vgl. FG 2014). Die Hizb ut-Tahrir und auch die ihr nahestehenden Initiativen argumentieren ähnlich und sprechen von einem „Assimilationszwang“, „Wertediktatur“ und der Diffamierung oder Dämonisierung des Islams als Ausdruck einer staatlich gesteuerten Islamfeindlichkeit.

Dabei geben die Initiativen vor, lediglich auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen und für Gerechtigkeit zu kämpfen. Angesichts von real existierenden Missständen, wie zum Beispiel Islamfeindlichkeit in der Gesellschaft, treffen sie damit einen Nerv, auch wenn die Darstellungen dieser Missstände selbst oft überzeichnet und manipulativ sind. So nehmen sie Geschehnisse gezielt aus dem Kontext, lassen bewusst Informationen weg und überspitzen. Sie vermitteln den Eindruck, Islamhass sei eine gesamtgesellschaftliche Einstellung, alle Muslim*innen Opfer und die deutsche Mehrheitsgesellschaft ein gemeinsamer Feind, gegen den man kämpfen muss, um die „muslimische Identität“ zu wahren. Dabei propagieren sie eine spezifische, ausschließende und vor allem antipluralistische Lesart des Islams und akzeptieren nur ihre Auslegung als wahr.

Zugleich bemühen sich diese Initiativen um Anschluss an Protestbewegungen, indem sie gesellschaftlich breit diskutierte Themen aufgreifen und für die eigene Propaganda vereinnahmen. Beispiele dafür sind der rechtsextreme Anschlag auf Hanau, die Reaktionen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und des österreichischen Kanzlers Sebastian Kurz auf die islamistischen Anschläge in Paris und Wien, Kindesmissbrauch, die COVID-19-Pandemie, die Menschenrechtsverletzungen an den Uigur*innen, die jüngsten Eskalationen im Nahostkonflikt und allgemein Diskriminierung von und Angriffe auf Muslim*innen.

Verstärkt wird die Wirkung dieser Narrative durch medienwirksame Protestaktionen, die im öffentlichen Raum durchgeführt werden. Beispiele hierfür sind mittlerweile zahlreich: Muslim Interaktiv leitete Autokorsos durch die Hamburger Innenstadt und organisierte Demonstrationen vor der österreichischen Botschaft in Berlin. Ihre Botschaft lautete, Muslim*innen seien die „neuen Juden“ und würden eine ähnliche Verfolgung wie im Nationalsozialismus erleben (vgl. BIS HH 2020). Die Furkan-Gemeinschaft ging mehrfach für die Freilassung Alparslan Kuytuls auf die Straße und protestierte gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan (vgl. Deutscher Bundestag 2019). Generation Islam initiierte zusammen mit Realität Islam 2018 die Onlinekampagne #NichtohnemeinKopftuch, die 170.000 Unterschriften erwirken konnte (vgl. BIS HH 2018). Über solche Aktionen werden Anhänger*innen mobilisiert, und Aufmerksamkeit und Anschlusspunkte für junge Menschen geschaffen, auch deutlich über die bisherige Community hinaus (Vgl. Kahl 2020:6). Die realweltlichen Aktionen werden medial aufbereitet, weit verbreitet und suggerieren eine starke Gemeinschaft, eine gemeinsame Identität und politischen Aktionismus.

Mit diesen Angeboten und Aktivitäten bewegen sich diese Gruppierungen subtil zwischen konservativ verstandenem Islam und Islamismus, ohne dass direkt erkennbar wäre, welche Ideologien und Ziele sie verfolgen. Ebenso ist nicht unmittelbar ersichtlich, dass sie ein pluralistisches Gesellschaftsbild, einen vielfältig gelebten Glauben, fundamentale Grundrechte wie Religions- und Meinungsfreiheit, Gleichheit der Geschlechter etc. ablehnen. So können sie leichter Anschluss finden, breiter auf Gesellschaft und Politik Einfluss nehmen und öffentliche Diskurse mitbestimmen. Die Bewegungen polarisieren dabei, verschärfen bestehende Konflikte, schaffen und verstärken Feindbilder und rufen ihre Follower*innen dazu auf, sich abzugrenzen. Militante Narrative, die auch Angriff als Verteidigung und als Mittel zur Vereinigung propagieren, ermöglichen letztlich kognitive Öffnungen für gewaltbejahende Ideologien. So lässt sich nicht ausschließen, dass sich einzelne Anhänger*innen im Anschluss militanteren Bewegungen anschließen und nicht mehr „nur“ politisch aktiv sein bzw. Widerstand leisten möchten.

Handlungsmöglichkeiten

Wie kann ein pädagogischer Umgang mit dem legalistischen Islamismus aussehen?

Ausstiegsberatung mit möglicherweise radikalisierten Personen oder ihrem Umfeld spielt im Bereich des „legalistischen Islamismus“ bisher eine untergeordnete Rolle, da sich im Grunde keine ausstiegswilligen Personen dieser Szenen beraten lassen möchten. Gründe dafür könnten sein, dass eine Loslösung mit weniger persönlichem Risiko und Hürden verbunden ist als in rechtsextremen oder salafistischen Szenen, dass durch fehlende militante Komponenten weniger Druck durch Umfeld und Sicherheitsbehörden verursacht wird und auch die Gefährdungslage als weniger drängend eingeschätzt wird. Notwendig ist also präventive Arbeit, die junge Menschen im Vorfeld oder in frühen Phasen einer Radikalisierung stärkt, unterstützt und immunisieren kann.

Zunächst kann durch Jugend- und Kulturarbeit ein Rahmen geschaffen werden, innerhalb dessen sich junge Menschen grundlegend kritisch und reflektiert mit Sinn- und Glaubensfragen, Werten und ihrer Identität auseinandersetzen können. Das kann (islamischer) Religions- oder Ethikunterricht an Schulen ermöglichen, aber auch nicht-religionsbezogene Angebote von Glaubensgemeinschaften, Interessen- und Hobbyvereinigungen, Vereinen oder Jugendzentren. Ein weiterer Vorteil, der sich bietet, sind alternative Freizeit- und Bildungsangebote sowie soziale Bindung, Gemeinschaft und Integration, die, wenn sie fehlen, eine Abwendung von der Gesellschaft hin zu extremistischen Angeboten befördern können.

Darüber hinaus müssen deutsch-muslimische Identitäten und Diskriminierung und Rassismus als gesellschaftliche Themen benannt und adressiert werden. Gewaltverzichtende Bewegungen sind auch deshalb so erfolgreich, weil sie real existierende Missstände, legitime Gesellschaftskritik und Ungerechtigkeiten aufgreifen und diejenigen ansprechen, die Vorurteile erleben und Ausgrenzungserfahrungen gemacht haben. Um dem entgegenzuwirken, kann Präventionsarbeit jungen Menschen den Raum geben, sich mit Themen wie antimuslimischem Rassismus, Vorurteilen und Chancenungleichheit auseinanderzusetzen, ihnen Teilhabemöglichkeiten aufzeigen, eigene Interessen und Rechte geltend zu machen und sie dabei unterstützen, sich als gesellschaftspolitische Akteur*innen zu verstehen (El-Mafaalani et al. 2016: 238f).

Wichtig ist, dass junge Menschen die Möglichkeit haben, sich zeitnah und differenziert mit aktuellen oder „unbequemen“ politischen Themen auseinandersetzen zu können, um sich – auch in der Auseinandersetzung mit islamistischer Propaganda – selbst eine Meinung zu bilden. Das betrifft mit Blick auf die Bewegungen des legalistischen Islamismus beispielsweise Themen wie den Afghanistankrieg, den Nahostkonflikt, (Post-)Kolonialismus, Terroranschläge, Islamismus und Gewalt gegen Muslim*innen oder Rechtextremismus.

Ein weiterer Baustein der Präventionsarbeit in diesem Bereich ist die Stärkung von kritischer Medien- und Digitalkompetenz, damit junge Menschen eigenständig Propaganda, Fake News, Verschwörungserzählungen und Manipulationsversuche erkennen, sich aber gleichzeitig sicher in den sozialen Medien bewegen und von ihnen profitieren können. Für diesen Bereich bieten sich zudem Ansätze der Onlineprävention und -beratung an, die in der Lage sind, möglicherweise radikalisierte Personen und die Follower*innen der Initiativen direkt in den sozialen Medien zu erreichen und anzusprechen oder alternative Narrative oder Gegenbotschaften zu streuen.

Für all diese Bereiche ist die Sensibilisierung von Fachkräften und Multiplikator*innen für die Narrative und Strategien dieser Strömungen von Bedeutung, um tragfähige Präventionsansätze entwickeln zu können. So bieten Präventionsstellen seit einiger Zeit Workshops, Schulungen und öffentliche Fachtage an, die auf das Phänomen des „legalistischen Islamismus“ aufmerksam machen.

 


Anmerkungen

[1] Denkbar wäre, diese Gruppierungen stattdessen als „gewaltverzichtend“ zu bezeichnen, denn sie lehnen Gewalt nicht grundlegend ab, hetzen möglicherweise Menschen zu Gewalthandlungen auf und legitimieren in der Regel den Einsatz von Gewalt in bestimmten Gebieten und Kontexten, wie bspw. im als islamisch deklariertem Herrschaftsgebiet oder in Verteidigungssituationen. Sie verzichten aber aus meist strategischen Gründen und im deutschen Kontext auf den Aufruf oder den Einsatz von Gewalt zur Erreichung ihrer Ziele.


Literatur

Bayaral, Adem (2021): Die Furkan Gemeinschaft. Bundeszentrale für politische Bildung. Online verfügbar unter https://www.bpb.de/politik/extremismus/radikalisierungspraevention/333779/die-furkan-gemeinschaft (20.09.2021).

El-Mafaalani, Aladin; Fathi, Alma; Mansour, Ahmad; Müller, Jochen; Nordbruch, Götz; Waleciak, Julian (2016): Prävention und Deradikalisierung. In: Biene, Janusz; Daase, Christopher; Junk, Julian; Müller, Harald (Hrsg.): Salafismus und Dschihadismus in Deutschland. Ursachen, Dynamiken, Handlungsempfehlungen. Camus Verlag: Frankfurt a.M./ New York. 233-270.

BIS HH – Behörde für Inneres und Sport Hamburg (2020): „Muslim Interaktiv“. Neue Hamburger Gruppierung mit Nähe zur Hizb ut-Tahrir (HuT). Online verfügbar unter https://www.hamburg.de/innenbehoerde/schlagzeilen/14709388/islamismus-muslim-interaktiv-hut/ (03.08.2021).

BIS HH – Behörde für Inneres und Sport Hamburg (2018): „Realität Islam“ immer aktiver. Islamistische Veranstaltung in Glinde geplant. Online verfügbar unter https://www.hamburg.de/innenbehoerde/schlagzeilen/11944902/realitaet-islam-hut/ (03.10.2021).

BMI – Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (2021a): Verfassungsschutzbericht 2020. Online verfügbar unter https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&ved=2ahUKEwjOlJr6843zAhWrhv0HHTo3CQwQFnoECAIQAQ&url=https%3A%2F%2Fwww.bmi.bund.de%2FSharedDocs%2Fdownloads%2FDE%2Fpublikationen%2Fthemen%2Fsicherheit%2Fvsb-2020-gesamt.pdf%3F__blob%3DpublicationFile%26v%3D5&usg=AOvVaw3MENRHOP9rUJz–U4V1734  (20.09.2021).

BMI – Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (2021b): Neuer Expertenkreis zum politischen Islamismus. Online verfügbar unter https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2021/06/expertenkreis-politischer-extremismus.html (18.09.2021).

CDU/CSU – CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag (2021): Die freiheitliche Gesellschaft bewahren, den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern, den Politischen Islamismus bekämpfen. Online verfügbar unter https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&ved=2ahUKEwiHyoGGqYjzAhU5gP0HHa_jDaYQFnoECCsQAQ&url=https%3A%2F%2Fwww.cducsu.de%2Fsites%2Fdefault%2Ffiles%2F2021-04%2FPP%2520Politischer%2520Islamismus.pdf&usg=AOvVaw2oN80Uf3Q9oYr-s3jpwwN- (18.09.2021).

Deutscher Bundestag 19. Wahlperiode (2020): Antwort der Bunderegierung auf die kleine Anfrage der Abgeordneten Stephan Thomae, Renata Alt, Nicole Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP. Drucksache 19/23641. Online ver­fügbar unter https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/236/1923641.pdf  (03.10.2021).

FG – Furkan Gemeinschaft (2014): USA will einen „Radikalen Islam“ und einen „Euro-Islam“ – Alparslan Kuytul Hocaefendi. YouTube-Video vom 27.10.2014. Online verfügbar unter https://www.youtube.com/watch?v=sP1T8bjq-M8 (03.10.2021).

Fielitz, Maik; Ebner, Julia; Guhl, Jakob; Quent, Matthias (2018): Hassliebe: Muslimfeindlichkeit, Islamismus und die Spirale gesellschaftlicher Polarisierung. Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft. Online verfügbar unter https://www.idz-jena.de/fileadmin/user_upload/IDZ_Islamismus_Rechtsextremismus.pdf  (20.09.2021).

Kahl, Martin (2020): Schlaglicht 2: Recht und salafistisch-dschihadistische Mobilisierung zur Gewalt. In: Döring, Maurice (Hrsg.) Netzwerktreffen 2019. Salafismus- und Extremismusforschung 2020: Prävention, Wissenstransfer, Vernetzung. Netzwerk für Extremismusforschung in Nordrhein-Westfalen. Online verfügbar unter https://www.bicc.de/uploads/tx_bicctools/CoRE-NRW_Netzwerktreffen_2019.pdf (20.09.2021).

Meier, Christian (2021a): Was ist eigentlich unter „politischem Islam“ zu verstehen? Bundeszentrale für politische Bildung. Online verfügbar unter https://www.bpb.de/politik/extremismus/radikalisierungspraevention/326260/was-ist-eigentlich-unter-politischem-islam-zu-verstehen (20.09.2021).

Meier, Christian (2021b): „Islamische Politik zu betreiben, ist legal und legitim“. Interview mit Gudrun Krämer. Frankfurter Allgemeine Zeitung. Online verfügbar unter https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/gudrun-kraemer-im-interview-ueber-politischen-islam-17148271.html?GEPC=s3&premium=0xf6ba80bac7bf830396d68c7754378ba6 (20.09.2021).

Schiffauer, Werner (2015): Sicherheitswissen und Deradikalisierung. In Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Handlungsempfehlungen zur Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus und Islamfeindlichkeit. Arbeitsergebnisse des Expertengremiums der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin, S. 217–244.

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