Opfernarrative durchschauen, Feindbilder dekonstruieren: bildmachen-Trainer_innen im Interview
10. Juli 2019 | Demokratie und Partizipation, Diversität und Diskriminierung, Jugendkulturen und Soziale Medien, Radikalisierung und Prävention

Um einen Einblick zu geben, wie die Workshops unseres Projekts bildmachen in der Praxis ablaufen, haben wir ein Interview mit Sabine Schreck und Yasin Sarikaya geführt. Beide arbeiten als Trainerin und Trainer in Nordrhein-Westfalen, wo bildmachen durch die Arbeitsgemeinschaft Kinder und Jugendschutz (AJS-NRW) umgesetzt wird.

ufuq.de: In den Berliner bildmachen-Workshops hat sich gezeigt, dass Rassismus für die Jugendlichen ein großes Thema ist. Ist das in NRW ähnlich?

Sarikaya: Auch in NRW sind Rassismus und Diskriminierung große Themen unter den Jugendlichen aus unseren Workshops. Die Jugendlichen sind sensibel für Ungerechtigkeiten und berichten auch von eigenen Erlebnissen mit antimuslimischem Rassismus. Sie berichten davon, dass die Medienberichterstattung ein negatives Bild über den Islam prägt. Das erkennen Jugendliche unabhängig von Migrationshintergrund oder Religionszugehörigkeit. Selbst muslimische Jugendliche erzählen von Angstgefühlen gegenüber bärtigen Männern oder Frauen mit Kopftuch. Gleichzeitig erleben wir in einigen Workshops eine Abwertung von Geflüchteten, die auch von Jugendlichen mit Migrationshintergrund ausgehen kann.

ufuq.de: Es gibt Studien, die die Rolle von rassistischer Diskriminierung betonen, wenn es zur Hinwendung zu islamistischen Weltbildern geht. Seht ihr diesen Zusammenhang auch in der Arbeit mit „ganz normalen“ Jugendlichen?

Schreck: Eine Frage zurück: Was sind ganz normale Jugendliche? Wir machen politische Bildung mit Schulklassen und treten unvoreingenommen an diese Jugendlichen heran. Denn je nach Hintergrund erfahren sie in Schule und Alltag Diskriminierung und wissen oft um ihre späteren Schwierigkeiten auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Sie sind sensibel für diese Ungleichbehandlung. Auf ihrer Suche nach Gründen und Erklärungen für den erlebten Rassismus treffen sie auch auf extremistische Weltbilder, die mit Gemeinschaft und einem gemeinsamen Ziel locken und gleichzeitig Menschenfeindlichkeit und Hate Speech verbreiten. Hier thematisieren wir mit den Jugendlichen auch die wechselseitige Verstärkung der Narrative des Rechtsextremismus gegen Musliminnen und Muslime und des islamistischen Extremismus, der sich gegen Nichtmusliminnen und Nichtmuslime, den Westen und Deutschland richtet.

ufuq.de: Islamistische Gruppen thematisieren sehr häufig den angesprochenen antimuslimischen Rassismus. Was ist vor diesem Hintergrund für euch ein Kippmoment, in dem ihr denkt, dass ihr neben der Thematisierung von Rassismus auch über Opfernarrative sprechen solltet?

Sarikaya: Wir sehen es als problematisch an, wenn sich muslimische Jugendliche als „die neuen Juden“ sehen und davon sprechen, dass das „deutsche System“ sie unterdrückt. Wenn Jugendliche davon sprechen, dass „Deutschland“ sie per se ausschließt oder sie sich auf die Position zurückziehen, dass etwa „die“ Medien letztlich nur Marionetten von „denen da oben“ seien, sehen wir einen Grund, näher darauf einzugehen. Denn dieses pauschale Feind- und Opferdenken führt zu einem starken Gefühl von Zugehörigkeit zur diskriminierten Gruppe, dem „Wir“, und dies führt wiederum dazu, dass eine Abwendung und Gewalt gegenüber den „Anderen“, in diesem Fall den „unterdrückenden Nichtmuslimen“, als legitim und notwendig angesehen wird. Wir möchten in unseren Workshops erreichen, dass Jugendliche diese „Opfernarrativ“-Propaganda durchschauen. Oft erkennen sie diese Feindbildkonstruktionen schon selbst, weil sie diese angebliche systematische Diskriminierung durch „die Deutschen“ in ihrem Alltag nicht so ausschließlich erleben und beispielsweise selbst gemischte Freundeskreise haben.

ufuq.de: Sind euch in eurer Arbeit auch andere Formen von Opfernarrativen begegnet als das „islamistische“?

Schreck: Uns begegnen oft rechtsextreme Opfernarrative, so werden beispielsweise islamistische Terrorangriffe von rechtsextremen Gruppierungen instrumentalisiert, um alle Musliminnen und Muslimen als „gefährliche Feinde“ darzustellen. Dabei wird der Islam als Religion gleichgesetzt mit Islamismus. So bezeichnen viele Jugendliche Menschen, die an den Islam glauben, fälschlicherweise als „Islamisten“. Ebenso begegnen uns Narrative über eine „Umvolkung“, gerade in ländlichen Gegenden, oft gekoppelt mit dem Feindbild „Geflüchtete“. Dabei wird behauptet, dass diese „Umvolkung“ durch „die Politik“ gezielt vorangetrieben würde.

Sarikaya: Daher ist politische Bildung so wichtig, um mit jungen Menschen über Vorurteile, Abwertung, Hass und Extremismus zu sprechen. Die Feindbilder bedingen sich gegenseitig.

ufuq.de: Was sind typische problematische Äußerungen, die in den Workshops durch Jugendliche gemacht werden und wie geht ihr damit um?

Sarikaya: In den Workshops gibt es ganz unterschiedliche Äußerungen, die auch zum Teil problematisch sind. Wenn die Jugendlichen die Medienberichterstattung kritisch betrachten, gibt es auch die Überzeugung, dass „alle Medien gegen Muslime hetzen“. Dabei wird kritisiert, dass die einseitige Berichterstattung das negative Bild über Musliminnen und Muslime fördere und „die“ Medien daran schuld seien. Hierfür gibt es natürlich viele Beispiele, aber man kann nicht davon sprechen, dass pauschal alle Medien gegen Musliminnen und Muslime hetzen würden. Um die Jugendlichen zu unterstützen, ihre Perspektive auf dieses Thema zu erweitern, zeigen wir ihnen beispielsweise Bloggerinnen und Blogger, Autorinnen und Autoren oder Hashtags wie #schauhin, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass diese neutral oder positiv über muslimisches Leben in Deutschland berichten und dabei auch Muslimfeindlichkeit ansprechen. Gleichzeitig geben wir den Jugendlichen die Möglichkeit, durch Erstellen eigener Medienprodukte Einfluss auf die Darstellung von beispielsweise Muslim_innen in den Medien zu nehmen. Es kommt aber auch vor, dass eine einzelne Erfahrung seitens der Jugendlichen pauschalisiert wird, wie zum Beispiel eine schlechte Erfahrung mit einem Arzt, der nach Deutschland geflüchtet ist und bei einem der Jugendlichen eine falsche Diagnose stellte. In diesem Fall hinterfragten andere Jugendliche die Aussagen des Jungen, der aufgrund dieser einen Erfahrung insgesamt sehr negativ und pauschal über Geflüchtete sprach. Beispielsweise warfen sie ein, dass Ärzte unabhängig von Herkunft mal falsche Diagnosen stellen können und berichteten von eigenen positiven Erfahrungen mit Freundinnen und Freunden oder Bekannten, die Geflüchtete sind.

ufuq.de: Seid ihr bereits auf „islamistische Einstellungen“ in Jugendgruppen getroffen?

Schreck: Nein, aber von Seiten einiger Lehrkräfte wurde uns gesagt, dass es in ihren Klassen islamistische Positionen geben würde. Das waren dann im Nachhinein jedoch Fehlinterpretationen von Handlungen und Aussagen der Jugendlichen, die sich mit Unwissenheit und Unsicherheit der Lehrkräfte erklären lassen. Daher ist es sinnvoll, in Kombination mit den Workshops für Jugendliche auch Lehrkräfte zu Themen wie Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus fortzubilden und hierbei viel Wert auf deren Selbstreflexion und Hinterfragen eigener Denkmuster zu legen.

ufuq.de: Ihr arbeitet in einem Flächenland wie NRW mit sehr heterogenen Gruppen zusammen, sowohl was Geschlecht, Bildung als auch soziale Herkunft angeht. Macht das für euch einen Unterschied?

Schreck: Jede Gruppe ist divers und unterscheidet sich von den anderen. Wir legen innerhalb der Workshops Wert auf einen respektvollen Umgang, das Respektieren unterschiedlicher Ansichten und bieten einen Raum, eigene Annahmen zu hinterfragen und miteinander in einen Austausch über gesellschaftlich relevante Themen zu kommen. Die Jugendlichen bringen unabhängig von Schulart, familiärem Hintergrund und Wohnort ähnliche Fragen mit, da sie über Soziale Medien mit aktuellen Themen in Berührung kommen. So geht es weder an ihnen vorbei, dass Islam bzw. Musliminnen und Muslime ein Dauerthema in den Medien sind, noch können sie sich Hate Speech im Internet entziehen. Dass alle Jugendlichen, mit denen wir bisher gearbeitet haben, das Internet mehrere Stunden am Tag nutzen, über soziale Netzwerke kommunizieren und mitbekommen, wie hier gegen Menschengruppen gehetzt wird, ist auch sehr interessant, ebenso wie die Einstellung dieser jungen Menschen, darin eine Gefahr für das Zusammenleben zu erkennen und dagegen etwas unternehmen zu wollen. Um den Gruppen gerecht zu werden, passen wir die Themen und Übungen an die Jugendlichen an.

ufuq.de: In der Präventionsarbeit, insbesondere im Feld der Islamismusprävention, besteht immer die Möglichkeit einer Stigmatisierung. Das heißt, man läuft Gefahr, bestimmten Gruppen islamistische Einstellungen zu unterstellen, wenn man sie als Ziel-gruppe definiert. Wie geht ihr damit um?

Sarikaya: Wir lassen uns auf jede Jugendgruppe ein, nehmen die Beschreibung von Lehrkräften zwar ernst, machen uns jedoch ein eigenes Bild über die Aussagen und Einstellungen der Jugendlichen.

ufuq.de: In euren Workshops entstehen immer tolle Memes. Habt ihr ein paar Tipps, wie die Arbeit mit Memes gut gelingen kann? Was macht ihr mit „problematischen Memes“, also solchen, die in den Workshops entstanden sind, aber selbst etwa Sexismus oder Rassismus reproduzieren?

Schreck: Wir legen viel Wert auf das Erleben eigener Einstellungen und Reflexion des eigenen Denkens und Verhaltens. Wir versprechen uns daraus eine nachhaltige Auseinandersetzung mit Vorurteilen gegenüber Mitmenschen anderer Herkunft, Aussehen oder Religion. Dafür bieten wir einen Raum, eigene Ängste, Fragen oder Aufregung über gesellschaftliche Entwicklungen oder Konflikte, Schieflagen und Diskriminierung zu thematisieren und sich miteinander darüber auszutauschen. Außerdem setzen wir uns mit Identität auseinander.

Sarikaya: Anschließend thematisieren wir die Inhalte extremistischer Propaganda, die Themen wie „Kultur“ oder Arbeitslosigkeit instrumentalisiert und damit auch mit den Ängsten der Jugendlichen spielt. Dabei sprechen wir über Bilder aus dem Internet auch über Parallelen in den Weltbildern von rechtsextremen und islamistischen Gruppierungen. Die hier benutzten Fake News und Hate Speeches gegenüber den „Feinden“ hinterfragen und entschlüsseln wir mit den Jugendlichen. Diese finden Hate Speech in der Regel nicht gut. Wir geben ihnen daher die Möglichkeit, selbst aktiv zu werden, indem sie sich mit ihren Meinungen in die Bilder im Netz einbringen. Dazu erstellen sie Memes, Gifs und Videos. Wir nehmen uns dann die Zeit, um die Medienprodukte zu präsentieren und zu erklären und diskutieren problematische Darstellungen mit der Gruppe.

Skip to content