Muslimische Väter – Zwischen stereotypen Rollenbildern und progressiver Männlichkeit
25. Juni 2019 | Gender und Sexualität, Religion und Religiosität

Welche Bilder migrantischer oder muslimischer Männlichkeit existieren in den Medien? Was sind demgegenüber aktuelle Forschungsergebnisse zu sich wandelnen Vorstellungen von Männlichkeit und Väterlichkeit in der Gesellschaft? Gibt es Unterschiede zwischen „muslimischen“ und „nichtmuslimischen“ Vaterrollen? Diesen und anderen Fragen gehen die Wissenschaftler Michael Tunç und Umut Akkuş im Interview mit ufuq.de nach.

ufuq.de: Herr Tunҫ, immer wieder steht der „fremde“ und „bedrohliche“ Mann im Zentrum von Diskussionen über Migration, Integration und Islam in Deutschland. Welche Bilder migrantischer und/oder muslimischer Männlichkeit sind Ihnen in Ihrer Forschung begegnet?

Tunҫ: Einerseits kursieren in medialen Debatten Bilder über Männer und Väter mit Migrationshintergrund, die oft stereotyp und negativ sind: In diesen öffentlichen Diskursen kommen (junge) Männer mit Migrationshintergrund muslimischen Glaubens zumeist in Verbindung mit Themen wie Ehrenmord, Zwangsheirat, sexualisierter Gewalt gegen Frauen oder Kriminalität vor. Problematisch ist, dass Ereignisse wie beispielsweise die sexualisierten Gewalttaten zu Silvester 2015/2016 in Köln dann pauschal auf alle migrantischen oder muslimischen Männer übertragen werden. Nicht nur bei Rechten, sondern auch in Teilen der gesellschaftlichen Mitte kann man beobachten, dass sich diese Defizit- und Negativbilder entgegen aktueller empirischer Erkenntnisse als weitgehend allgemeingültig für migrantische bzw. muslimische Männer durchgesetzt haben.

Andererseits gibt es mittlerweile Forschungen darüber, wie sich Leitbilder und das Verhalten von Männern und Vätern ohne und mit Migrationshintergrund in der Gesellschaft insgesamt verändern. Da sieht man eine große Bandbreite zwischen modernen und traditionellen Leitbildern. Anders als in der Mehrheitsgesellschaft wird aber im Kontext von Migration, Integration oder Islam die Vielfalt unterschiedlicher vorhandener Männerbilder oft nicht wahrgenommen oder anerkannt.

Sie stellen sich in Ihrer Forschung die Frage nach der „Väterlichkeit mit Migrationshintergrund“. Was ist die gesellschaftliche Relevanz dieses Themas?

Tunҫ: Das Thema Väterlichkeit, oder unterschiedliche Entwürfe vom Vatersein, ist wichtig, denn eine fürsorgliche Väterlichkeit hat viele positive Auswirkungen auf die Gesellschaft. Einer großen UN-Studie von 2015 zufolge steigert engagierte Väterlichkeit Geschlechtergerechtigkeit, weil sie geschlechterstereotype familiäre Arbeitsteilungen verringern hilft, was wiederum die Einbindung der Mütter in den Arbeitsmarkt verbessern kann. Sie ist außerdem für das Kindeswohl und eine gute und gewaltfreie kindliche Entwicklung wichtig. Auch das Wohlbefinden der Väter steigert sich, wenn sie eine aktive Vaterrolle leben. Diese verleiht ihnen ein Gefühl von Sinn und Erfüllung, auch weil sie Männlichkeitsentwürfe jenseits stereotyper Geschlechterleitbilder ermöglicht.

Was genau verstehen Sie unter fürsorglicher Väterlichkeit?

Tunҫ: Für fürsorgliche Väterlichkeit ist grundsätzlich entscheidend, dass der Vater präsent und aktiv in der Erziehung und Bildung der Kinder ist. Das schließt eine möglichst partnerschaftliche Arbeitsteilung mit der Mutter mit ein. Wenig hilfreich ist, wenn Väter der Empfehlung einer deutschen Kampagne für väterliche Elternzeit folgen, die unter folgendem Motto lief: „Krabbeln lerne ich bei Mama, laufen dann bei Papa.“ Denn das Engagement fürsorglicher Väter sollte möglichst früh beginnen und Kinder dann kontinuierlich in allen Entwicklungsphasen begleiten – das beginnt schon mit der Geburt des Kindes.

In der UN-Studie sind also drei zentralen Ebenen benannt, auf denen sich aktive Väterlichkeit und ihr gesellschaftlicher Nutzen diskutieren lassen. Die UN-Studie zeigt allerdings auch, dass in der Realität Väterlichkeit teilweise mit Gewalt gegen Kinder und Frauen, wenig förderlichen bzw. negativen Einflüssen auf kindliche Entwicklung und mit dem Festhalten an traditionellen, nicht geschlechtergerechten bzw. gleichstellungsorientierten Männlichkeiten verbunden sein kann. So ergibt sich nicht nur für die Väterlichkeitsforschung, sondern auch für Ansätze der Männer- und Väterarbeit ein Spannungsfeld aus traditionellen wie progressiven Männlichkeiten und Väterlichkeiten. Es stellt sich außerdem die Frage, inwiefern sich in der Gesellschaft vorhandene Anzeichen positiver Entwicklungen auch bei Vätern mit Migrationshintergrund und/oder muslimischen Glaubens feststellen lassen. Die wenigen Studien der Entwicklungspsychologie weisen darauf hin, dass ebenso wie Mehrheitsdeutsche ohne Migrationshintergrund auch migrantische und muslimische Väter die Entwicklung ihrer Kinder mehrheitlich positiv beeinflussen. Das sollte auch in der Öffentlichkeit differenzierter diskutiert und in Zukunft dringend vertiefend erforscht werden.

Herr Akkuş, welche Bedeutung kommt der Diskussion über fürsorgliche Väterlichkeit im Bereich der Radikalisierungsprävention zu? Man kann Radikalisierung schwerlich an ausgesuchten biographischen Merkmalen festmachen – dennoch wird immer wieder die These aufgestellt, dass viele junge Menschen, die sich radikalisieren, mit abwesenden oder fehlenden Vaterfiguren aufwuchsen. Was ist der Stand der Forschung zu dieser Frage?

Akkuş: Es gibt momentan nicht so viele Studien, die sich explizit mit den Erziehungs- und Sozialisationsbedingungen als Faktoren für Radikalisierung beschäftigen. In der von uns unter der Leitung von Prof. Dr. Ahmet Toprak durchgeführten Studie „Die jugendkulturelle Dimension des Salafismus aus der Genderperspektive“ (pdf) war allerdings auffällig, dass der Großteil der Interviewten aus Familienverhältnissen stammten, wo die Eltern entweder geschieden waren, der Vater verstorben oder der Vater aufgrund seiner Arbeit wenig anwesend war.

Welche weiteren Risikofaktoren in Bezug auf eine Radikalisierung gibt es in den Bereichen Familie und Erziehung?

Akkuş: Neben dem Risikofaktor alleinerziehende Elternteilen gibt es Anhaltspunkte, dass Gewalterfahrungen in der Familie, wie auch autoritär-religiöse Erziehung, die Erziehung zu Gehorsamkeit oder aber auch konservativ-autoritäre Erziehung mit lediglich traditionell-religiösen bzw. kulturislamischen Bezügen (religiöser Analphabetismus) Faktoren sind, die den Radikalisierungsprozess mit begünstigen können. Auch prekäre Lebenslagen, wie unsichere Arbeitsverhältnisse der Eltern, Arbeitslosigkeit, Schulden, familiäre Konflikte und Krisen sind Aspekte, die oft zum Vorschein kommen und als mögliche Radikalisierungsfaktoren gelten.

Herr Tunҫ, gibt es überhaupt grundlegende Unterschiede zwischen „muslimischen“ und „nichtmuslimischen“ Vaterrollen?

Tunҫ: Nur wenige, finde ich. Ich denke, dass sich das Verhalten aktiver Väter herkunftsübergreifend ähnlich positiv auf kindliche Entwicklung auswirkt. Eine enge Bindung zum Kind, eine feinfühlige, emotional zugewandte Beziehung und eine auf soziale, körperliche, kognitive und emotionale Entwicklungsbedarfe der Kinder ausgerichtete Erziehung tut allen Kindern gut, unabhängig von Herkunft oder religiöser Identität. Die Begründungen für das fürsorgliche Vatersein sind bei muslimischen Vätern schon teilweise anders und beziehen sich teilweise stärker auf kulturelle oder religiöse Werte in Familien.

In einem meiner qualitativen Interviews mit geflüchteten Vätern muslimischen Glaubens sagte mir ein syrischer Vater, für ihn sei das Vorbild des Propheten Mohamed, dem zugeschrieben wird, dass er mit Kindern und Enkeln gespielt, sie auch geküsst hat, handlungsleitend. Er soll laut einer Überlieferung im Gespräch mit einem Mann, der das Umarmen und Küssen seiner Kinder ablehnte, geantwortet haben, dass sein Verhalten keine Barmherzigkeit Gottes erhalten werde. So begründete der befragte syrische Vater seine Werte und sein Verhalten als engagierter Vater auf Basis einer islamischen Quelle.

Hat sich das Rollenverständnis muslimischer Väter in den letzten Jahren verändert? Wenn ja, wie wirkt sich dieser Wandel auf deren Kinder und die pädagogische Arbeit mit ihnen aus?

Tunҫ: Zu dieser Frage gibt es leider kaum detaillierte empirische Forschungsergebnisse. Es scheint aber Entwicklungen zu geben, dass sich Väterlichkeit bei Muslimen in Deutschland zunehmend in Richtung fürsorgliche Väterlichkeit verändert. Eine Studie zur Väterarbeit in Nordrhein-Westfalen untersuchte Bildungsangebote für (teils muslimische) Väter mit Migrationshintergrund, die väterliches Engagement zum Wohl der Kinder unterstützen. Diese interkulturellen Väterprojekte, an denen sehr viele muslimische Väter teilnahmen, erreichten zumeist ihr Ziel, die Bedürfnisse der Väter zu erfüllen und sie in ihrer Erziehungskompetenz zu stärken. Da ein großer Teil der befragten Väter sich selbst als muslimisch bezeichnet, lässt sich indirekt schlussfolgern, dass die untersuchten muslimischen Männer und Väter über vielfältige Ressourcen verfügen, die sie zum Wohl ihrer Familien und Kinder und im Zuge der Väterangebote weiterentwickelt haben.

Für Fachkräfte, die mit muslimischen Familien zusammenarbeiten, um die Entwicklung der Kinder zu fördern, bedeutet das, dass man Väter für die verbesserte Erziehung gewinnen kann – wenn man bestimmte fachliche Kriterien beachtet. Allerdings sind die erwähnten Ansätze kaum in der Fläche der Beratungs-, Bildungs- und Sozialarbeit verbreitet, so dass für den nötigen Transfer der genannten modellhaften Erfahrungen aus Nordrhein-Westfalen noch viel zu tun bleibt.

Sie haben nicht nur den Forschungsstand zu dieser Frage aufgearbeitet, sondern auch ein eigenes Modell „progressiver Männlichkeit“ entwickelt. Was verstehen Sie darunter?

Tunҫ: Die Grundidee ist sehr einfach: Im Alltag und in der Forschung stellt man immer mehr fest, dass sich Männlichkeiten in unserer Gesellschaft schrittweise verändert haben. Es gibt immer mehr gleichstellungsorientierte und emanzipierte Männer und fürsorgliche Väter. Die Forschung hatte bisher keinen Begriff dafür, weil die zentrale Perspektive die Kritik an sogenannten hegemonialen oder traditionellen Männlichkeiten (auch „toxische Männlichkeiten“) war. Die Tatsache, dass es nach einigen Jahrzehnten Frauen- und Geschlechterforschung an Begriffen mangelt, mit denen sich die Veränderungen auf Männerseite besser verstehen und erklären lassen, finde ich schon bemerkenswert. Ich habe mich auf die Suche nach einem Begriff gemacht, der die Veränderungen bei Männern verständlich machen kann, gerade bei weniger privilegierten Männern, das heißt mit Fokus auf ethnische, religiöse aber auch geschlechtliche Zugehörigkeiten, sexuelle Orientierungen, Behinderung (Disability) oder soziale Lage. In den USA hat die Afroamerikanerin Athena D. Mutua den Begriff „progressive black masculinities“ entwickelt, im übertragenen Sinn „progressive schwarze Männlichkeiten“. Diesen habe ich übertragen und den Begriff „progressive Männlichkeit“ geformt.

Was ist der Nutzen dieses Begriffs?

Tunҫ: Ich sehe da zwei Vorteile: Erstens bezeichne ich mit dem Begriff „progressive Männlichkeit“ emanzipatorische Entwicklungen, auf die sich Männer bestimmter Milieus und in bestimmten Kontexten beziehen, um Lebensentwürfe zu gestalten, die mit möglichst wenig Macht über andere Menschen beziehungsweise möglichst geringer Orientierung an traditionellen Männlichkeiten umsetzbar sind und die demokratische Geschlechterverhältnisse anstreben. Zweitens werden Männlichkeiten oft als zwei gegensätzliche Pole oder Positionen diskutiert: Sind bestimmte Männer modern oder traditionell? Mit solchen polaren Vorstellungen geraten Diskussionen oft  in Sackgassen und Debatten kommen nicht voran.

Wichtiger erscheint es mir, komplizierte Spannungs- und Mischungsverhältnisse zu verstehen: Mitunter können verschiedene Orientierungen zwischen patriarchal und emanzipiert, autoritär und fürsorglich gleichzeitig vorhanden sein. Das gilt nicht nur für migrantische oder muslimische Männer, sondern für alle Männer. Von Rassismus betroffene Männer können sich mittels des Konzepts „progressive Männlichkeit“ gleichermaßen rassismuskritisch wie geschlechterdemokratisch orientieren, sie leben aber trotzdem in den genannten Spannungen. Das sieht man oft bei Rap- oder Hip-Hop-Musikern of Color, die sich zwar künstlerisch gegen Rassismus wehren, sich dabei aber teils machohaft bis sexistisch inszenieren. Das ist problematisch, lässt sich mit dem Blick auf Anteile progressiver Männlichkeit und teils widersprüchliche Dynamiken zwischen patriarchalen und emanzipierten Anteilen eher verstehen. Dieser Zugang erscheint mir für das Thema Väterlichkeit im Migrationskontext produktiv.

Herr Akkuş, welche Relevanz könnte das Konzept der „progressiven Männlichkeit“ in der Prävention haben? In der Präventionsarbeit wird Müttern ja mittlerweile eine wichtige Rolle zugeschrieben, Väter werden kaum mitgedacht. Welche Rolle kommt ihnen in der Präventionsarbeit zu?

Akkuş: Mütter und Väter haben eine gleichwertig bedeutende Rolle als primäre Bezugspersonen, weshalb es wichtig ist, dass Kinder und Jugendliche den gleichen Zugang zu beiden Elternteilen haben. Eine starke Beziehung und Bindung zwischen Eltern und ihren Kindern stärkt nicht nur das Urvertrauen, Selbstbewusstsein und das Gefühl eines starken Rückhalts, sondern verringert ebenso das Risiko der Anfälligkeit der jungen Menschen für den Einfluss radikaler Gruppen. Ist eines der Elternteile aufgrund der beruflichen Situation, familienhierarchisch-autoritärer Unnahbarkeit oder einer gewissen Gleichgültigkeit nicht ansprechbar, kann dies starke Auswirkungen auf den kindlichen bzw. jugendlichen Entwicklungsprozess haben. In Familien, wo dies der Fall ist, muss deshalb das jeweilige Elternteil (meist der Vater) unbedingt stärker in den Erziehungsprozess einbezogen werden und eine größere Rolle im Leben der Kinder und Jugendlichen insofern spielen, dass sie die Bedürfnisse, Sorgen, Sinnfragen und Lebensentwürfe ihrer Kinder und Jugendlichen wahrnehmen und sich ernsthaft mit diesen befassen. Weder Vater noch Mutter dürfen zu Personen stilisiert werden, denen man nichts offenbaren, erzählen oder anvertrauen darf. Sie müssen ansprechbar sein und wichtige Bezugspersonen bleiben, an die sich junge Menschen bewusst wenden können.

Herr Tunҫ, Sie fordern eine „rassismuskritisch-migrationsgesellschaftliche Professionalisierung Sozialer Arbeit“, insbesondere der Sozialen Väterarbeit. Was verstehen Sie konkret darunter?

Tunҫ: Wir schauen inzwischen zurück auf über dreißig Jahre andauernde Debatten um eine sogenannte „Interkulturelle Öffnung“ nicht nur in Sozialer Arbeit, sondern auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Politik, Verwaltung, Wirtschaft oder Gesundheit. Es gibt erste gute Entwicklungen, aber viel zu wenig strukturelle Erfolge, so ist zum Beispiel der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund in Führungspositionen immer noch viel zu gering. Nehmen wir das Beispiel der Väterarbeit: Neben dem Mangel an guten Konzepten migrationssensibler Väterarbeit fehlen vor allem männliche Fachkräfte of Color in der Beratungs-, Bildungs- und Sozialarbeit. Ich bin dafür, offen über den Einsatz von Quoten zu diskutieren, um Fragen der gleichberechtigten Repräsentation in allen gesellschaftlichen Bereichen zu forcieren. Gleichzeitig sollten in der Aus- und Weiterbildung in der Beratungs-, Bildungs- und Sozialarbeit rassismuskritische und migrationsgesellschaftliche Entwicklungen und Kompetenzen viel stärker systematisch in die Lehrpläne aufgenommen und entsprechende Organisationsentwicklungen vorangetrieben werden. Es bleibt also viel zu tun.

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