Meine Geschichte – unsere Geschichte: Jugendliche diskutieren, welche historischen Ereignisse ihnen wichtig sind
7. November 2016 | Geschichte, Biografien und Erinnerung

Der 9. November gilt als Schicksalstag der deutschen Geschichte: Die Ausrufung der ersten deutschen Republik 1918, die Reichsprogromnacht 1938 und der Fall der Mauer 1989. Aus der Sicht von Schüler_innen ist das alles ziemlich lange her. Sie waren noch nicht geboren und in vielen Fällen lebten ihre Eltern und Großeltern damals noch nicht einmal in Deutschland. Was bedeutet den Jugendlichen das Datum? Welche anderen Tage sind ihnen wichtig? Julia Gerlach und Aylin Yavaş haben mit Zehntklässler_innen der Robert-Koch-Schule in Berlin-Kreuzberg darüber diskutiert. Ein Gesprächsprotokoll.

Aylin Yavaş: Vielen Dank, dass ihr heute mit uns diskutiert. Wir würden von euch gerne wissen, welche historischen Ereignisse für euch eine Bedeutung haben. Ich kann ja einmal anfangen: Das wichtigste Ereignis für mich war der 30. August 2010. Da ist Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ auf den Markt gekommen. Ich kann mich noch ziemlich genau an den Tag erinnern: Ich saß in meinem Leistungskurs Politik, meine Lehrerin brachte dieses Buch mit und die Klasse las sich gegenseitig daraus vor. Mich hat geschockt, dass es zu der Zeit salonfähig wurde, solch rassistische Thesen zu verbreiten. Das ist für mich auch ein wesentlicher Grund, dass ich mich heute in der Uni und auch in meiner Arbeit mit dem Thema beschäftige.

Julia Gerlach: Es gibt ziemlich viele Tage, von denen ich sagen würde, dass sie mein Leben verändert haben: zum Beispiel der Tag, an dem ich geheiratet habe oder der Tag, als mein Vater starb, aber um persönliche Ereignisse soll es heute nicht gehen. Für mich war tatsächlich der 9. November 1989 ein richtiger Wendepunkt, als die Mauer fiel. Ich habe damals in einer WG gewohnt und mein amerikanischer Mitbewohner sagte zu uns: „Hey guys, your wall fell.“ Ich habe ihm nicht geglaubt, bis ich den Fernseher angemacht habe. Es ist typisch, dass man sich an solche Tage ganz genau erinnert: Was man gemacht hat, als man davon hörte. Charakteristisch ist auch, dass es das eigene Leben veränderte. Was sind die Ereignisse, die für euch eine solche Rolle spielen?

Aylin S.: Im Sommer gab es einen Militärputsch in der Türkei. Es kam deswegen zu vielen Streitereien in meiner Familie, der Tag war für mich ziemlich aufreibend.

Wassim: Für mich war der Beginn der Jasmin-Revolution in Tunesien ein wichtiges historisches Ereignis. Ich bin Halb-Tunesier und deswegen betreffen mich die Veränderungen dort auch. Auch wenn es dort noch keine richtige Demokratisierung gibt, ist doch etwas Wichtiges geschehen. Und es hat auch die jüngere Geschichte beeinflusst: Syrien ist zerfallen, der Terror nimmt zu und das hat auch Europa beeinflusst. Mich persönlich betrifft dies, weil ich mir Sorgen mache, ob es meiner Familie und den anderen Tunesiern gut geht, oder ob sie von der Regierung unterdrückt werden.

Amira: Hier in Europa gab es in der letzten Zeit ja mehrere Terroranschläge, zum Beispiel in Paris, das hat das Sicherheitsgefühl in Deutschland auf jeden Fall verändert: Leute haben mehr Ängste und machen sich mehr Sorgen – weil der Terror jetzt näher dran ist, sind die Leute betroffener. Für mich ist das zwar eigentlich nicht neu, denn ich bin Deutsche und Palästinenserin und in Palästina herrscht ja schon lange Gewalt. Aber der Terror in Europa hat mein Umfeld hier verändert: Es gibt viele Diskussionen und Ängste. Es gibt auch mehr Rechtsextremismus – das zeigt sich ja auch an der AfD.

Aylin S.: In meinem Freundeskreis gibt es diese Ängste auch. Viele haben Panik, öffentliche Plätze zu besuchen.

Burak: Das merkt man ja auch daran, dass es kaum noch Touristen gibt in den Ländern, in denen es Krieg und Terror gibt.

Aylin S.: Mir wird auch oft gesagt, dass ich nicht an Orte mit vielen Menschen gehen soll – wie zum Beispiel zum Alexanderplatz. Oder auch zu Großveranstaltungen, wie dem Karneval der Kulturen. Man erwartet schon fast, dass es einen Anschlag gibt. Ich war dann trotzdem beim Karneval. Es ist nicht mehr nur Angst, es ist eine regelrechte Paranoia. Der Terror hat schon das Leben verändert.

Wassim: Mich macht sehr wütend, dass Leute wie Donald Trump diese Ängste ausnutzen. Seine Wähler gehen davon aus, dass sie selber machtlos sind und unterstützen ihn in der Hoffnung, dass der große Donald Trump endlich etwas verändern könnte.

Julia Gerlach: Dann hoffen wir mal, dass jetzt nicht der 8. November 2016 zu einem historischen Tag wird, weil dann Donald Trump gewählt wird. Wir machen hier einmal Schluss mit der Runde und zeigen euch ein paar Bilder. Sie zeigen verschiedene historische Ereignisse. Schaut doch mal, welches dieser Ereignisse für euch eine Bedeutung hat, womit ihr etwas verbinden könnt. Wer fängt an?

Ramies: Ich habe ein Bild von PEGIDA, die demonstrieren in Dresden und anderen Städten gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ und das macht mich wütend, weil ich selbst auch Muslimin bin.

Mert: Wir leben in einem Land, in der es die Meinungsfreiheit gibt, also dürfen die das auch sagen.

Amira: Ich finde auch richtig, dass man hier seine Meinung sagen darf, aber es macht mich trotzdem wütend, wenn die sagen, dass der Islam nicht zu Deutschland gehört. Iich bin auch Muslimin und ich gehöre zu Deutschland. Ich finde das echt traurig zu sehen, wie viele Menschen da auf einem Platz demonstrieren und dieser Meinung sind.

Aylin S.: Außerdem sind das ja rassistische Äußerungen.

Dila: Ich habe die Proteste gegen Erdoğans Regierung auf dem Taksim-Platz ausgewählt. Ich bin seit zwei Monaten in Deutschland und war damals in der Türkei. Als Erodğan Präsident wurde, hat sich in der Türkei alles verändert. Sogar meine Freunde und ich haben uns deswegen zerstritten. Die Türkei war mal auf einem viel besseren Weg. Jetzt ist das wie eine Diktatur. Der Wendepunkt war also nicht die Wahl des Präsidenten, sondern seine Veränderung.

Aylin Yavaş: Die Taksim-Demonstrationen markieren vielleicht auch den Punkt, an dem überhaupt sichtbar wurde, dass es Menschen gibt, die mit der Regierung nicht einverstanden sind.

Aylin S.: Ich habe ein Ereignis gewählt, was mich eigentlich gar nicht betrifft: das Massaker von Srebrenica. Ein Freund hat mir davon erzählt, sein Vater ist dabei ums Leben gekommen, dieser Teil der Geschichte hat mich sehr berührt und interessiert, weil das kaum bekannt ist.

Mert: „2014: Deutschland wurde Fußballweltmeister“, das hat mich sehr berührt (der Kurs lacht). Jetzt kann ich damit in der Türkei angeben, ich frage dann: „Wir sind Weltmeister und was seid ihr?“

Bekcan: Also mich juckt das gar nicht, weil das keine Auswirkungen auf uns hat.

Mert: Aber du lebst doch in Deutschland und freust du dich dann nicht, wenn sich alle freuen?

Tuğçe: Also ich habe mich in dem Moment zwar auch gefreut, aber es ist jetzt kein Ereignis, an das ich mich in zehn Jahren auch noch erinnern werde.

Meltem: Für mich ist das kein historisches Ereignis, weil mich die deutsche Fußballmannschaft nicht interessiert – wenn die Türkei gewonnen hätte, hätte ich mich eher damit identifiziert.

Wassim: Wenn ich mich für Fußball interessieren würde, dann würde ich das vielleicht auch als wichtiges Ereignis sehen. Ich habe auch bestimmte Interessen und es gibt bestimmte Ereignisse, die mir deswegen etwas bedeuten. Das ist bei jedem anders und man muss es ernstnehmen.

Amina: Die Weltmeisterschaft war auch eine der wenigen positiven Ereignisse, die wir jetzt besprochen haben. Das macht es dann vielleicht auch zu etwas Besonderem, dass das ein Anlass ist, einfach mal zu feiern und Spaß zu haben – ohne Opfer.

Gizem: Ich habe die Französische Revolution ausgesucht – ich war natürlich nicht dabei, aber ich finde es bedeutsam, wie die Menschen sich für ihre Rechte eingesetzt haben. Wahrscheinlich sähe Europa jetzt anders auch, wenn es die Französische Revolution und ihre Ideen nicht gegeben hätte. Dann habe ich noch die Nuklearkatastrophe von Fukushima 2011 gewählt. Ich habe das zwar auch nicht so mitbekommen, aber jetzt gibt es ja viele Demonstrationen gegen Atomkraftwerke und das Bewusstsein dafür ist viel größer.

Amina: Ich habe den Gaza Krieg von 2014 gewählt. Ich kann mich noch genau daran erinnern: Meine Tante lebt in Gaza und meine Oma hat damals die ganze Zeit versucht sie anzurufen, aber sie ist nicht drangegangen. Wir haben uns alle viele Sorgen gemacht und deswegen hat mich das sehr geprägt. Meine Cousine hat in diesem Krieg ein Bein verloren.
Wir fahren nicht nach Palästina in den Urlaub, weil meine Mutter denkt, dass es dort zu gefährlich ist.

Julia Gerlach: Wenn ihr euch entscheiden könntet, welches Ereignis als nationaler Gedenk- oder Feiertag eingeführt wird, welcher wäre das?

Aylin S.: Ich würde das Massaker von Srebrenica als Trauertag festlegen, damit an das Ereignis gedacht wird.

Ramies: Ich finde, dass der Gaza-Krieg genauso behandelt werden sollte wie 9/11.

Ahmet: Ich glaube, es ist unmöglich, dass sich alle auf einen Tag einigen können. Da gibt es doch so viele unterschiedliche Meinungen und Geschichten.

Julia Gerlach: Du meinst, jeder sollte einen Tag im Jahr freimachen können, um an ein ganz besonderes Ereignis zu erinnern? Aber Feiertage sollen ja die Menschen eines Landes zusammenzubringen, um sich gemeinsam an ein Ereignis erinnern, das für sie als Land wichtig war.

Wassim: Also ehrlich gesagt glaube ich gar nicht, dass solche Feiertage so viel bringen. Die meisten Leute würden einfach nur den freien Tag genießen. Ich bin zwar eigentlich ein Optimist, aber man muss es ja ehrlich betrachten.

Aylin Yavaş: Ich weiß zwar, was am 3. Oktober passiert ist, aber ich sitze da nicht zuhause und denke an die Zeit der deutschen Teilung zurück, weil ich das gar nicht richtig mitbekommen habe. Aber, wenn zum Beispiel der 11. September ist, dann erinnere ich mich immer daran, wie mir meine Mutter nach der Schule die Tür öffnete und versuchte, mir die Bilder im Fernsehen zu erklären. In der Diskussion wurde ja jetzt auch deutlich, dass für euch auch vor allem die Ereignisse wichtig sind, die ihr selbst miterlebt habt und zu denen ihr einen Bezug habt.

Amina: Vielleicht ist es an solchen Tagen dann einfach immer so, dass manche sich erinnern und dass es für die anderen einfach ein freier Tag ist.

Wir danken den Schüler_innen des Philosophie-Kurses und dem Kursleiter für dieses Gespräch!

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