Lebensrealitäten von muslimischen Jugendlichen – Zwischen Fremdzuschreibungen, Rassismuserfahrungen und (kritischen) Selbstpositionierungen
4. März 2020 | Diversität und Diskriminierung, Geschichte, Biografien und Erinnerung, Jugendkulturen und Soziale Medien

Symbolbild: Jugendliche stehen auf einem Hausdach.

Die Übergangsphase vom Kind zum Erwachsenen ist durch bestimmte Herausforderungen und Chancen gekennzeichnet. Doch rassifizierte Jugendliche mit geringem oder entwertetem kulturellem Kapital haben nicht die gleichen Möglichkeiten zum adoleszenten Ausprobieren und Rebellieren wie Jugendliche, die nicht als „Andere“ gelesen werden. Canan Korucu zeigt auf, wie sich antimuslimische Rassismuserfahrungen auf den adoleszenten Möglichkeitsraum auswirken.

Lebensrealitäten von muslimischen Jugendlichen und solchen, die als Muslim*innen markiert werden, ähneln in vielen Punkten jenen von nicht-muslimischen Jugendlichen. Sie alle sind Heranwachsende und befassen sich mit jugendtypischen Fragen. Sie ringen mit adoleszenten Entwicklungsaufgaben und durchlaufen einen Transformationsprozess vom Kind zum Erwachsenen.

Nach Vera King (2013) ist die Übergangsphase vom Kind zum Erwachsenen im Sinne eines psychosozialen Möglichkeitsraums zu verstehen, der durch bestimmte Herausforderungen und Chancen gekennzeichnet ist. Diese Lebensphase, in der man nicht mehr Kind, aber noch nicht erwachsen ist, stellt eine Art Moratorium dar, „bei dem eigensinnig und eigenständig experimentiert werden kann und bei dem ohne starre Regelungen und mit genügend Raum und Zeit innere und äußere Realität umgearbeitet werden kann“ (King 2013, 40).

Welches sind die Fragen, mit denen die Jugendlichen ihre innere und äußere Realität umgestalten können? Es sind identitätskonstruierende Fragen wie zum Beispiel, wer bin ich, wer will ich sein, wo ist mein Platz? Sowohl Fragen nach dem Sinn des Lebens, der geschlechtlichen Identität als auch nach den eigenen Zukunftsperspektiven beschäftigen die Jugendlichen. Dabei nehmen die Peer-Beziehungen an Bedeutung zu, und die Eltern-Kind-Beziehung verändert sich. Vor allem die intergenerationellen Aushandlungsprozesse um Autonomie und Individualität mehren sich.

Und sofern es diesen Möglichkeitsraum des Experimentierens, des Ausprobierens, des Rebellierens gibt, kann etwas Neues entstehen: eigene Wertvorstellungen und von den Eltern und Großeltern abweichende moralische, politische sowie religiöse Orientierungen (Koller 2009, 198f.).

Allerdings steht die Adoleszenz als ein psychosoziales Moratorium nicht für alle Heranwachsenden selbstverständlich zur Verfügung. Beispielsweise wurde sie im 19. Jahrhundert lediglich den bürgerlichen männlichen Jugendlichen zugestanden (King 2013, 49). Auch heute sind die Chancen für die Nutzung der Möglichkeitsräume ungleich verteilt, und das Moratorium steht keinesfalls selbstverständlich für alle Heranwachsenden in gleicher Weise zur Verfügung (ebd.). Das heißt, die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz ist an bestimmte gesellschaftliche Voraussetzungen gebunden, die wiederum die individuellen Bildungs- und Selbstfindungsprozesse beeinflussen (ebd., 51f.). Insbesondere sind die Unterschiede für adoleszente Individuationsprozesse unter migrationsgesellschaftlichen Dominanz- und Differenzverhältnissen sehr groß.

In diesem Beitrag möchte ich den Fragen nachgehen, (1) inwiefern migrationsgesellschaftliche Dominanz- und Differenzverhältnisse den psychosozialen Möglichkeitsraum von muslimischen oder als muslimisch markierten Jugendlichen in Schule und Familie beeinflussen und (2) welche Auswirkungen fehlende bzw. eingeschränkte psychosoziale Möglichkeitsräume für ihre Individuationsprozesse haben können.

Der adoleszente Möglichkeitsraum in der Schule

In Deutschland ist der Zugang zu höherwertigen Schul-, Ausbildungs- und Berufsabschlüssen wie auch der Zugang zum Studium nach wie vor stark durch soziale Herkunft, Bildungsstand und berufliche Stellung der Eltern bestimmt. In keinem anderen industrialisierten Land korreliert der Schulerfolg weiterhin so stark mit der sozialen Herkunft wie in Deutschland (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2000, 393; Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, 151f.; OECD 2014, 6-7). Wovon ist aber wiederum die soziale Herkunft abhängig?

Nach dem kapitaltheoretischen Ansatz von Bourdieu (1983) ist die soziale Herkunft maßgeblich durch das Vorhandensein von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital innerhalb der Familie bestimmt. Je mehr Kapital innerhalb der Familie zur Verfügung steht, desto wahrscheinlicher ist der Erwerb hoher formaler Bildungsabschlüsse und damit eine entsprechende Positionierung im spezifischen Feld des sozialen Raums [1]. Allerdings ist das soziale sowie kulturelle Kapital migrationsgesellschaftlichen Dominanz- und Differenzverhältnissen unterworfen. Das heißt, unter den migrationsgesellschaftlichen Bedingungen kann das soziale Kapital eine Entwertung, unter anderem durch Nichtanerkennung von Bildungstiteln, erfahren. Auch das inkorporierte kulturelle [2] Kapital, wie zum Beispiel Sprache, Wertorientierungen, Denk- und Handlungsschemata, kann aufgrund der Migration eine Entwertung erfahren, vor allem wenn ihm die Anschlussfähigkeit an die Kultur der Mehrheitsgesellschaft abgesprochen und ihm eine Fremdheit zugeschrieben wird. Auch die im Herkunftsland über Jahre oder gar über Generationen aufgebauten sozialen Netzwerke und Beziehungen, sei es in Institutionen, in beruflichen oder familiären Zusammenhängen, verlieren mit der Migration an Bedeutung. Migration macht die Investition in neue Netzwerke und Beziehungen, sowohl in Form von Zeit als auch von Geld notwendig. Bourdieu spricht hierbei von „materiellen und symbolischen Tauschbeziehungen“ (Bourdieu 1983, 191). Somit verfügen Jugendliche, die selbst oder deren Eltern bzw. Großeltern nach Deutschland migriert sind, in der Regel nicht im gleichen Maße über anerkanntes soziales und kulturelles Kapital wie Jugendliche, die keine eigenen oder familiären Migrationserfahrungen haben.

Neben der Ungleichheitskategorie Klasse sind bei muslimischen und als muslimisch markierten bzw. rassifizierten Jugendlichen weitere Kategorien wie ethnische Herkunft, Gender, Religion und Alter wirksam. Die Verschränkung mehrerer Ungleichheitskategorien schränkt die Chancen für die Nutzung des psychosozialen Möglichkeitsraums weiter ein. Zur Veranschaulichung soll hier ein Beispiel aus der pädagogischen Praxis angeführt werden, das im Rahmen einer Fortbildung als Fallbeispiel vom Lehrer persönlich eingebracht worden ist (entnommen aus Karakaşoğlu 2009).

Der Lehrer beschreibt folgende Situation: Der Achtklässler mit einem türkischen Migrationshintergrund habe sich geweigert, seiner Aufforderung, das Klassenzimmer auszufegen, nachzukommen. Als Begründung habe der 14-jährige Schüler angegeben, dass es sich bei dieser Aufgabe um „Frauenarbeit“ handele. „Dem Lehrer stieg daraufhin nach eigener Auskunft vor Wut das Blut zu Kopf. Er habe dem Schüler mit aller Nachdrücklichkeit mitgeteilt: ‚Wie das bei dir zu Hause läuft, ist mir egal. Wir sind hier schließlich in Deutschland. Hier herrscht Gleichberechtigung!‘“ (Karakaşoğlu 2009, 298). Der 55-jährige Lehrer deutet das Verhalten des Schülers sogleich „als kulturelle Kampfansage“ (Karakaşoğlu 2009, 299), obwohl es durchaus auch andere Erklärungen gegeben hätte, zum Beispiel:

  • Der Schüler provoziert absichtlich (adoleszentes Rebellieren gegen Autoritäten sowie gegen ein Mitglied der oberen sozialen Schicht).
  • Der Schüler befindet sich gerade in einer Phase in der Entwicklung der eigenen Geschlechtsidentität, die mehrheitlich durch Abgrenzung vom anderen Geschlecht und in der Hervorhebung des Männlichen (doing Gender) gekennzeichnet ist – ebenfalls eine wichtige Entwicklungsaufgabe in der Adoleszenz.
  • Der Schüler mag den Lehrer nicht und weiß, wie er ihn durch kulturalistische Aussagen zur Weißglut bringen kann.

Die affektive Reaktion des Lehrers ist geprägt von rassistischen Zuschreibungen. Der Schüler, seine Familie und sein vermeintliches Herkunftsland werden im Gegensatz zu Deutschland („Hier herrscht Gleichberechtigung“) als rückständig markiert. Durch die Verweigerung des Schülers, „Frauenarbeit“ auszuführen, sieht der Lehrer in dem Schüler zuallererst den „kleinen orientalischen Macho“ (Karakaşoğlu 2009, 297) und nicht den pubertierenden Jungen aus einer bestimmten sozialen Schicht. Hinzu kommt, dass der Schüler mit dem Verweis auf „Wir sind hier schließlich in Deutschland“ als nicht zugehörig und fremd markiert wird. Diese Erfahrung machen viele rassifizierte Jugendliche in ihrer Bildungslaufbahn. Hauraa, eine 19-jährige Abiturientin, bringt es folgendermaßen auf den Punkt: „Ich betrachte Deutschland als mein Heimatland und werde dennoch nicht akzeptiert.“ (ReachOut 2014, 36f.)

Anhand des oben angeführten Beispiels lässt sich gut verdeutlichen, wie die Kategorien Klasse, ethnische Herkunft, Gender und Religion zusammenwirken und ein adoleszentes Verhalten, zum Beispiel sich einer Autorität zu widersetzen, nicht ohne weiteres möglich ist bzw. Nichtanerkennung und Abwertung zur Folge haben kann.

Für rassifizierte Jugendliche ist die Nutzung von adoleszenten Möglichkeitsräumen an Schulen weiter eingeschränkt. Denn die Schule ist mehrheitlich eine Mittelschichtsinstitution, „die Wertorientierungen, Umgangsformen und Arbeitshaltungen belohnt, die vor allem in Familien der Mittelschicht vermittelt und angeeignet werden“ (Bracke/Büchner 2012, 109). So weisen Studien darauf hin, dass Schüler*innen mit einem Migrationshintergrund häufiger die Klasse wiederholen, häufiger Empfehlungen für die Sonderschule erhalten und bei den Übergangsempfehlungen in die Sekundarstufe seltener Empfehlungen für das Gymnasium bekommen, obwohl die schulischen Leistungen für eine Gymnasialempfehlung ausgereicht hätten. Nicht die Noten, sondern der Bildungshintergrund der Eltern, die (angenommene) fehlende Unterstützung durch sie oder die (angenommene) ungünstige Lernumgebung werden als Entscheidungsgrundlage herangezogen (Bracke/Büchner, 114 f.). Eltern mit einem türkischen Migrationshintergrund [3] werden von befragten Lehrer*innen eine geringe Bildungsaspiration und damit eine geringe Unterstützung bei einer Berufsausbildung ihrer Kinder, vor allem ihrer Töchter, unterstellt (Weber 2003, 269), obwohl Studien zur Bildungsaspiration unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen genau das Gegenteil belegen. Demnach haben Eltern mit einem türkischen Migrationshintergrund [4] höhere Bildungsaspirationen für ihre Kinder als Eltern ohne Migrationshintergrund (Dollmann 2010, 87; Nauck 2000, 356, 374f.).

Wir können festhalten, dass rassifizierten Jugendlichen mit geringem bzw. entwertetem kulturellen Kapital nicht die gleichen Voraussetzungen zum adoleszenten Ausprobieren und Rebellieren zur Verfügung stehen wie für Jugendliche mit einem hohen anerkannten kulturellen, sozialen sowie ökonomischen Kapital.

Der adoleszente Möglichkeitsraum in der Familie

Auch innerhalb der Familie können die Möglichkeitsräume für Jugendliche eingeschränkt sein, zum Beispiel, wenn der Elterngeneration selbst das Moratorium des Experimentierens sowie des Rebellierens nicht ermöglicht wurde bzw. unter den gesellschaftlichen Bedingungen nicht zur Verfügung stand. In diesem Fall, so Bourdieu (1983), können die Eltern der nachfolgenden Generation dieses Moratorium nur schwer gewähren mit der Folge, dass sie ihre Kinder nur eingeschränkt in der Herausbildung eines Identitätsentwurfs unterstützen können. „Individuation ist immer gebunden an die Fähigkeit der jeweiligen Erwachsenen, die intergenerationalen Ambivalenzen zu ertragen und nicht in Destruktivität abgleiten zu lassen. Einen adoleszenten Möglichkeitsraum zur Verfügung zu stellen, bedeutet zunächst einmal, nicht störend oder gar abwertend und destruktiv in die Selbstfindungsprozesse einzugreifen“ (King 2010, 15). Und nicht zuletzt hat die Ermöglichung des adoleszenten Möglichkeitsraums auch Trennung und Loslösung von den eigenen Kindern zur Folge, was für die Eltern schmerzhaft sein kann. Zusammenfassend können wir festhalten, dass Ablösung die adoleszente Umgestaltung des Generationenverhältnisses bedeutet, was grundsätzlich nicht spannungsfrei vonstattengeht.

Gerade für Jugendliche der zweiten und dritten Generation der Arbeitsmigrant*innen birgt die Umgestaltung des Generationenverhältnisses weitere An- und Herausforderungen. Die (Groß-)Elterngeneration, die mit dem Ziel der sozialen Mobilität nach Deutschland migriert ist, aber unter den gesellschaftlichen Bedingungen nicht erfolgreich sein konnte, delegiert diese Aufgabe an die nächste Generation. Die (Enkel-)Kinder sollen hohe Bildungs- und Berufsabschlüsse erreichen, um eine hohe Position im sozialen Raum zu erlangen. Die nachfolgende(n) Generation(en) soll(en) das familiale Migrationsprojekt zum Erfolg führen. Denn die eigenen Entbehrungen, die harte körperliche Arbeit, die Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen sollen nicht umsonst gewesen sein (Tepecik 2011, Korucu-Rieger 2014). Jugendliche, deren (Groß-)Eltern zum Beispiel aus der Türkei migriert sind, kennen diesen Bildungsauftrag: „Kind, lern‘ einen anständigen Beruf“ oder „Kind, werde Arzt oder Anwalt“. Jugendliche, die diesen Bildungsauftrag annehmen und sich verpflichtet fühlen, das familiale Migrationsprojekt zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen, können sich in der Regel nicht so leicht von ihren Eltern ablösen, und das kann wiederum die Möglichkeitsräume für Individuationsprozesse einschränken.

Zudem stellt sich aus der migrationsgesellschaftlichen Perspektive die Frage, inwiefern rassifizierte Jugendliche eigene, von den Eltern abweichende, Wert- und Normvorstellungen entwickeln und ausprobieren können – ohne dass dieses Bestreben und ggf. das Ergebnis dessen von der Mehrheitsgesellschaft einer Bewertung unterzogen wird. Ein gelangweiltes „Meine Eltern sind voll die Spießer, die nerven voll!“ oder ein echauffiertes „Meine Eltern wollen unbedingt, dass ich mit ihnen in den Urlaub fahre!“ hat unterschiedliche Reaktionen zur Folge, je nachdem, wie die Jugendlichen gelesen werden.

Auswirkungen der antimuslimischen Rassismuserfahrungen auf den adoleszenten Möglichkeitsraum

Eine weitere Herausforderung für muslimische und muslimisch markierte Jugendliche besteht in der Dauerpräsenz „des Islams“ und „der Muslim*innen“ in den Medien, größtenteils mit negativen Schlagzeilen und Nachrichteninhalten. Die Folge dieser Dauerpräsenz sind unter anderem negative Einstellungen von Teilen der Mehrheitsbevölkerung, darunter auch Jugendlichen (Stiftung Mercator 2018) über „die Muslim*innen“ und „den Islam“.

Umfragen und repräsentative Studien zur Wahrnehmung von Muslim*innen und der islamischen Religion zeigen auf, dass mehr als die Hälfte der nichtmuslimischen Befragten (57 %) den Islam als (sehr) bedrohlich empfindet (Bertelsmann Stiftung 2015), 24 % Muslim*innen die Zuwanderung nach Deutschland verbieten wollen (ebd.), 42 % der Befragten in den alten und 55 % in den neuen Bundesländern für die starke Einschränkung der „Ausübung des islamischen Glaubens“ sind (Pollack u. a. 2014) und 40 % der Befragten sich durch Muslim*innen als „Fremde im eigenen Land“ fühlen (Bertelsmann 2015).

Die Einstellungen über „die Muslim*innen“ bzw. die in den Medien vermittelten Bilder über „die Muslim*innen“ und „den Islam“ haben ganz reale Folgen für muslimische und als muslimisch markierte Jugendliche, wie Jaffar, ein 21-jähriger Sozialassistent, erzählt:

„Als meine Kumpels [nachts im Hotel, Anm. d. Verf.] eingecheckt haben – alle drei ohne Bart – wurden ihre Taschen nicht kontrolliert. Als ich einchecken wollte, fragte mich die Frau an der Rezeption: ‚Darf ich mal deine Tasche kontrollieren?‘ Und ich: ‚Warum?‘ – ‚Reine Routinekontrolle.‘ ‚Warum habt ihr dann von meinen anderen ausländischen Kumpeln nicht die Taschen kontrolliert? (…) Wenn Sie jetzt die Tasche kontrollieren, dann explodiert die.‘ Ich wollte ihr Angst machen. (…) ‚Was denken Sie von mir? Nur weil ich jetzt ein bisschen Bart habe, wollen Sie meine Tasche durchsuchen? Da werden Sie außer Unterhosen und Shampoo nichts finden. Da ist keine Bombe drin. Aber kontrollieren Sie ruhig die Tasche.‘ Ich bin sauer geworden. ‚Und fürs nächste Mal: Nicht jeder Mann mit Bart ist Terrorist. Nicht jeder Mann mit Bart hat eine Bombe in der Tasche.‘ Die Frau ist ganz rot geworden. Ich hatte echt ’ne riesige Wut. Die haben diese Klischees im Kopf, diese Vorurteile: Jeder Mann mit Bart ist ein Terrorist. (..) Es gibt so viele Männer mit Bart, aber niemand glaubt, dass sie Terroristen sind. Weil sie Deutsche sind.“

Jaffar, 21 Jahre, staatlich anerkannter Sozialassistent (ReachOut 2014, 26)

Diese Wut über Zuschreibungen und Ungerechtigkeit sowie über die Ohnmacht, nicht wertgeschätzt und anerkannt bzw. gleichbehandelt zu werden, ist für manchen muslimischen bzw. rassifizierten Jugendlichen Alltag, auch in der Schule.

Fazit

Muslimische Jugendliche und solche, die als Muslim*innen markiert werden, sowie rassifizierte Jugendliche, haben mit weitaus mehr Herausforderungen in der Adoleszenz zu kämpfen und finden weitaus geringere Chancen und Strukturen vor als Jugendliche, die nicht als Andere gelesen werden und deren soziales sowie kulturelles Kapital keine Entwertung erfahren haben. Sowohl muslimische als auch rassifizierte Jugendliche sind mit mehrfachen Transformationsanforderungen konfrontiert: Neben dem Ablösungsprozess und der Umgestaltung des Generationenverhältnisses, kommt die Aufgabe auf sie zu, ihre Individuation infolge von Zuschreibungen, Entwertungen und in der Abgrenzung dieser zu bewerkstelligen. Eine weitere Entwicklungsaufgabe stellt die Aneignung von Strategien im Umgang mit Rassismuserfahrungen, insbesondere mit antimuslimischem Rassismus, dar. Auf welche vorhandenen (institutionellen) Strukturen und Vorbilder können sie dabei zurückgreifen? Jede*r Jugendliche*r ist individuell, die Umgangs- und Bewältigungsstrategien und Orientierungen sind so unterschiedlich wie die Jugendlichen selbst. Sie schaffen sich ihre eigenen Räume, stellen ihre Forderungen und können sich unter anderem in den Sozialen Medien national wie international vernetzen und sich über vielfältige Themen auseinandersetzen. Dennoch stellt sich auch die Frage, wie pädagogische Fachkräfte Jugendliche in ihren Individuationsprozessen unterstützen können. Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich einen Jugendlichen zu Wort kommen lassen, der am besten beschreiben kann, was er braucht:

„Ich möchte, dass die Lehrer_innen endlich verstehen, dass jeder Sechzehnjährige angepisst ist. Durchgehend. Das ist nichts, was sie persönlich nehmen sollten. (…) Ich war pubertierend. Ich war sauer. Und der Rassismus, den ich täglich erlebte, machte es nur noch schlimmer. (…) Ich hätte mir gewünscht, dass meine Lehrer_innen mir zuhören. Es gab keine Person, die sich mit mir hinsetzte und sagte: ‚Wie geht es dir?‘ Stattdessen wurde von mir erwartet, dass ich zuhöre, während sie mir erklärten, warum ihre rassistischen Äußerungen oder Handlungen gerechtfertigt seien. Und warum ich mich nicht darüber aufregen solle.“ (Otoo 2019, 64)

Dieser Beitrag erschien zuerst in Ansgar Drücker, Philip Baron (Hg.) (2019): Antimuslimischer Rassismus und Muslimische Jugendarbeit in der Migrationsgesellschaft. Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e. V. (IDA), Düsseldorf, S. 63-68 (pdf). Wir danken den Herausgebern und dem IDA für die freundliche Erlaubnis, den Text hier wiederzuveröffentlichen.


Anmerkungen

[1] Je mehr Kapital ein*e Akteur*in oder eine Gruppe zur Verfügung hat, desto weiter oben ist die Person positioniert. Dabei spielt auch die Zusammensetzung des verfügbaren ökonomischen und kulturellen Kapitals (Kapitalstruktur) eine Rolle (Bourdieu 1995). Ein Positionswechsel innerhalb des sozialen Raums ist „nur um den Preis von Arbeit, Anstrengung und vor allem Zeit“ möglich (ebd., 13).

[2] Nach Bourdieu unterteilt sich das kulturelle Kapital in inkorporiertes kulturelles Kapital (dauerhafte Dispositionen des Körpers durch Verinnerlichung, z. B. Geschmack), in objektiviertes kulturelles Kapital (kulturelle Güter wie Gemälde, Bücher, Musikinstrumente) und institutionalisiertes kulturelles Kapital (z. B. Bildungstitel) (Bourdieu 1983).

[3] In den genannten Studien wurden Eltern und ihre Kinder mit einem türkischen Migrationshintergrund befragt.

[4] In den genannten Studien wurden Eltern und ihre Kinder mit einem türkischen Migrationshintergrund befragt.


Literatur

Bertelsmann Stiftung (2015): Religionsmonitor – verstehen, was verbindet. Sonderauswertung Islam 2015. Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick, https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/51_Religionsmonitor/Zusammenfassung_der_Sonderauswertung.pdf.

Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen, S. 183-198.

Dollmann, Jörg (2010): Türkischstämmige Kinder am ersten Bildungsübergang. Primäre und sekundäre Herkunftseffekte. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Karakaşoğlu, Yasemin (2009): Islam als Störfaktor in der Schule. Anmerkungen zum pädagogischen Umgang mit orthodoxen Positionen und Alltagskonflikten. In: Schneiders, Thorsten G. (Hg.): Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen. Wiesbaden, S. 289-304.

King, Vera (2010): Adoleszenz und Ablösung im Generationenverhältnis. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, Nr. 1-2010, S. 9-20.

King, Vera (2013): Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften (2. Auflage). Wiesbaden: Springer VS.

Koller, Hans-Christoph (2009): Doppelter Abschied. Zur Verschränkung adoleszenz- und migrationsspezifischer Bildungsprozesse am Beispiel von Lena Goreliks Roman „Meine weißen Nächte“. In: King, Vera & Koller, Hans-Christoph (Hrsg.) (2009): Adoleszenz – Migration – Bildung. Bildungsprozesse Jugendlicher und junger Erwachsener mit Migrationshintergrund. 2. erweiterte Auflage. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 195-212.

Korucu-Rieger, Canan (2014): Die Bedeutung islamisch-religiöser Alltagspraktiken für weibliche Bildungsverläufe – ein Dreigenerationenvergleich. In: Weiss, Hilde/Schnell, Philipp/Ateş, Gülay (Hg.): Zwischen den Generationen. Transmissionsprozesse in Familien mit Migrationshintergrund. Wiesbaden, S. 217-242.

Nauck, Bernhard (2000): Eltern-Kind-Beziehungen in Migrantenfamilien – ein Vergleich zwischen griechischen, italienischen, türkischen und vietnamesischen Familien in Deutschland. In: Sachverständigenkommission 6. Familienbericht (Hg.): Familien ausländischer Herkunft in Deutschland: Empirische Beiträge zur Familienentwicklung und Akkulturation. Materialien zum 6. Familienbericht (Band I), S. 347-392.

OECD (2014): Deutschland – Ländernotiz – Bildung auf einen Blick: OECD-Indikatoren, https://www.oecd.org/berlin/publikationen/bildung-auf-einen-blick-2014-deutschland.pdf.

Otoo, Sharon Dodua (2019): Liebe. In: Aydemir, Fatma/Yaghoobifarah, Hengameh (Hg.): Eure Heimat ist unser Albtraum (5. Auflage). Berlin, S. 56-68.

Pollack, Detlef/Müller, Olaf/Rosta, Gergely/Friedrich, Nils/Yendell, Alexander (2014): Grenzen der Toleranz: Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt in Europa. Wiesbaden: Springer VS.

ReachOut – Opferberatung und Bildung gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus (Hg.) (2014): Blicke reichen aus. Antimuslimischer Rassismus in Deutschland – Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Berlin.

Stiftung Mercator 2018: Unterdrückung und Islamismus prägen das Islambild unter den Jugendlichen, https://www.stiftung-mercator.de/de/presse/nachricht/unterdrueckung-und-islamismus-praegen-das-islambild-unter-jugendlichen/.

Tepecik, Ebru (2011): Bildungserfolge mit Migrationshintergrund. Biographien bildungserfolgreicher MigrantInnen türkischer Herkunft. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Weber, Monika (2003) Heterogenität im Schulalltag. Konstruktion ethnischer und geschlechtlicher Unterschiede. Opladen: Leske und Budrich.

Skip to content