„ilevel“ steht für Augenhöhe – wie eine Mädchengruppe Jugendliche stark macht
17. April 2019 | Diversität und Diskriminierung, Gender und Sexualität, Religion und Religiosität

Die Projekte der Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie e. V. (RAA) an ihrem Standort Heilbronn und Umgebung zeigen, wie muslimische Jugendarbeit gelingen kann. Die Autorin Julia Gerlach hat sich vor Ort angesehen, was das Geheimnis des Erfolgs ist.

Es liegt Aufregung in der Luft: Geschäftig laufen die Jugendlichen durch den großen Saal: Stühle werden in Reihen aufgestellt, Flyer auf einem Tisch arrangiert, auf der Bühne läuft der Soundcheck. Dirigiert werden die Vorbereitungen von Tanja El Ghadouini, die mit ihrem Lächeln und ihrer Energie im ganzen Raum für gute Laune sorgt. Sie zieht die Fäden, hat den Überblick, wo etwas fehlt, noch etwas organisiert werden muss. Doch sie tut es unauffällig, und das ist Teil ihres Konzeptes: Nicht sie steht im Vordergrund, sondern die Mädchengruppe „ilevel“. Es ist ihre Party, ihre Veranstaltung und sie sollen hier gefeiert werden.

„Zwei Jahre haben wir an diesem Projekt gearbeitet“, beschreibt Ece Anna. „Den Namen ilevel haben wir ausgesucht, weil wir einen coolen Namen haben wollten. Es ist eine Abwandlung des englischen Begriffs für auf Augenhöhe“, fügt sie hinzu. Die 21-jährige Zahnarzthelferin hat sich mit vier anderen Mädchen aus dem schwäbischen Landkreis Heilbronn zusammengetan und sich intensiv mit dem Thema Diskriminierung und Rassismus beschäftigt. „Wir wissen, wovon wir sprechen: Einige, weil sie zum Beispiel Kopftuch tragen, oder ich, weil ich zum Islam konvertiert bin.“ Gemeinsam haben sie sich mit den verschiedenen Formen von Diskriminierung beschäftigt und nach Ideen gesucht, was sich dagegen tun lässt. „Da wir alle in unserer Freizeit gerne etwas Künstlerisches machen, haben wir uns dann ein Projekt in dieser Richtung überlegt“, erklärt Güler Nur. Sie ist 18 Jahre alt und studiert Chemie: „Wir haben an mehreren Workshops zum Thema teilgenommen, viel gelesen und nach Künstlerinnen und Künstlern gesucht, die Jugendliche empowern können, sich nicht von Diskriminierung unterkriegen zu lassen“, ergänzt sie. Dabei hätten sie selbst viel gelernt: „Wir haben uns mit antimuslimischem Rassismus beschäftigt, weil das eine Diskriminierungsform ist, die bislang in der Öffentlichkeit nicht so sehr beachtet wird. Wir haben auch andere Formen angeschaut und an uns selbst gearbeitet“, sagt Ece Anna.

Rassismus: Nicht die Absicht zählt, sondern die Wirkung

Schließlich sind sie nicht nur Opfer von Diskriminierung, sondern manchmal auch selbst diskriminierend. Ein echtes Aha-Erlebnis sei die Auseinandersetzung mit dem sogenannten „positiven Rassismus“ gewesen: „Da sagt man zum Beispiel zu einer schwarzen Person, was sie für tolle Haare hat und fasst die an. Auch, wenn es eigentlich nett gemeint ist: Es ist eine Grenzüberschreitung“, erklärt Ece Anna. Auch sie habe an ihrem Verhalten einiges geändert: „Mir ist klar geworden: Nicht die Absicht zählt, sondern die Wirkung.“ Dies ist dann auch der Spruch auf einem der Aufkleber, die „ilevel“ als Resultat ihrer Arbeit produziert haben. Ein anderes Ergebnis ist eine Broschüre mit vielen praktischen Tipps zum Umgang mit Rassismus, dem der anderen und wie jeder selbst weniger diskriminierend sein kann. Am Ende gibt es einen Awareness Check: Wie rassistisch bin ich selbst?

Dass es eine besondere Broschüre ist, zeigt schon das aufwendig gestaltete Titelbild. Stapelweise liegt sie auf dem Flyertisch im Treppenhaus des Gewerkschaftshauses von Heilbronn. Hier findet die „Ilevel“-Party statt. Inzwischen ist der Saal fast bis zum letzten Platz gefüllt. Familien mit Kindern sind gekommen, aber vor allem Jugendliche. Ece Anna tritt auf die Bühne. Sie und ihre Freundin Zühre Fidan sind die Moderatorinnen, sie begrüßen das Publikum und stellen das Programm vor. Diese Veranstaltung, die Organisation und Durchführung ist es, worauf die Mädchengruppe „ilevel“ seit Monaten hingearbeitet hat: Sie haben sich mit der muslimischen Kunstszene in Deutschland beschäftigt und Künstler und Künstlerinnen eingeladen, deren Kunst geeignet ist, Jugendliche stark zu machen. Gekommen sind Younes von den Datteltätern, Boujemaa von UMA LAMO, Hosnijah von I’slam und noch einige andere. Drei Stunden Unterhaltung plus eine Pause, in der die Gäste bei Snacks vom selbstgemachten Buffet ins Gespräch kommen. „Ich bin begeistert. Dass wir so eine tolle Party hier in Heilbronn erleben! Sowas gibt’s sonst nur in Stuttgart oder Berlin. Das ist super!“, freut sich eine Teenagerin, die mit ihren Freundinnen gekommen ist.

Unterstützung durch Land und Kommune

Zufrieden zeigt sich auch Karl-Heinz Wolfsturm, Referent des Baden-Württembergischen Ministeriums für Integration und Soziales: „Es ist schön, so viele engagierte Jugendliche zu sehen, die sich für Demokratie und ein besseres Miteinander in der Gesellschaft einsetzen“, sagt er. Dass es sich um muslimische Jugendliche handelt, findet er besonders begrüßenswert. In seiner Ansprache hat er das Engagement der Jugendlichen gewürdigt und ihren Beitrag für ein friedliches und demokratisches Zusammenleben gelobt. Ganz bewusst habe er in seiner Ansprache darauf verzichtet, die Themen anzusprechen, die fast immer in öffentlichen Reden im Zusammenhang mit jungen Muslim_innen erwähnt werden: Radikalisierung und Prävention. „Man muss mit beiden Begriffen vorsichtig sein, denn sie werden viel zu oft verwendet. In diesem Zusammenhang hier sehe ich keine Veranlassung, über diese Themenbereiche zu sprechen. Es geht doch hier um Engagement und um Ideen von Jugendlichen für eine demokratische Gesellschaft. Das ist sehr positiv“, sagt er.

Katharina Fischer, die zuständige Beauftragte für Integration und Migration des Landkreises Heilbronn, ist ebenfalls voll des Lobes für das Engagement der Jugendlichen: „Diese Jugendlichen machen Projekte für sich als Jugendliche. Die Religion spielt dabei eine Rolle, steht aber nicht im Vordergrund. Es sind eher Jugendprojekte“, sagt sie und begründet, warum sie von Anfang an „ilevel“ und die anderen Projekte, die von der RAA Berlin initiiert wurden, unterstützt haben: Im Landkreis Heilbronn mit seinen vielen ländlichen Kommunen gebe es auch in kleineren Orten Moscheegemeinden und natürlich auch viele muslimische Jugendliche. Allerdings tauchten diese in den bestehenden Jugendgruppen und -strukturen noch nicht genug auf. „Viele dieser Jugendlichen klagen, dass sie von den staatlichen Stellen nicht gehört werden“, sagt sie und räumt ein: „Das mag auch an einem mangelnden Verständnis oder zu wenig Wissen über muslimische Gruppen auf Behördenseite liegen. Aus Angst, etwas falsch zu machen, macht man lieber gar nichts. Man muss sich mit dem Thema beschäftigen, und man muss sich auch mit den Strukturen ein bisschen auskennen. Das braucht Zeit.“

Umso willkommener ist ihr das Engagement der Mädchen von „ilevel“ und der Frau, die im Hintergrund dafür sorgt, dass alles klappt: Tanja El Ghadouini. „Wir kennen uns schon lange, weil sie schon lange aktiv ist, und als sie vor zwei Jahren mit der neuen Projektidee der RAA Berlin auf uns zukam, haben wir sie sehr gerne unterstützt“, ergänzt Roswitha Keicher von der Stadt Heilbronn. Auch sie ist an diesem Nachmittag gekommen, das Erreichte zu feiern. „Wir wollen, dass die Jugendarbeit alle Jugendlichen in unserer Stadt erreicht, aber die Zusammenarbeit mit Moscheegemeinden ist manchmal nicht so leicht. Durch die RAA Berlin können wir direkt mit den Jugendlichen aus der Community zusammenarbeiten“, sagt sie. Neben dem unkomplizierten Zugang sei auch die effektive Organisation Teil des Erfolgsgeheimnisses.

Gleichzeitig mit „ilevel“ gingen in Heilbronn und Umgebung noch zahlreiche andere Projekte muslimischer Jugendlicher an den Start. Die RAA Berlin hatte Jugendliche und engagierte Erwachsene zusammengetrommelt und Projektideen entwickelt. Finanziert werden diese im Rahmen des Projektes „Extrem Demokratisch – Muslimische Jugendarbeit stärken“. Zusätzlich suchten die Jugendgruppen lokale Unterstützung und traten an den Landkreis und an die Kommune heran. Bei Roswitha Keicher liefen sie offene Türen ein: „Ich habe mir einen Vormittag Zeit genommen. Die Jugendlichen haben mir je eine halbe Stunde lang ihre Ideen präsentiert, und ich habe mein Adressverzeichnis gezückt und sie mit den richtigen Leuten zusammengebracht“, beschreibt sie. Schnell und unkompliziert konnten auch noch kleinere finanzielle Zuschüsse gewährt werden. „Jetzt würde ich mir wünschen, dass wir daraus eine dauerhafte Struktur schaffen können, damit wir in Zukunft noch mehr Projekte in diesem Rahmen machen können“, so Roswitha Keicher.

Erfolgsrezept: Engagement plus Verlässlichkeit

Was braucht man also, um erfolgreiche Projekte mit muslimischen Jugendlichen zu starten? Im Grunde kommt es auf die einzelnen, beteiligten Personen an: Es wird eine Person gebraucht, die andere motivieren und beisammenhalten kann. Eine, die Kontakte hat und als verlässlich gilt. Dazu werden Politiker_innen und Behördenvertreter_innen  gebraucht, die mutig und neugierig genug sind, auch mit ihnen bis dahin unbekannten Partner_innen zusammen Jugendprojekte zu fördern. Vor allem aber hängt es an den Jugendlichen, die Lust haben, sich zu beteiligen. Jugendliche wie Ece Anna, Zühre Fidan, Ayah, Jasmin und Güler gibt es aber nicht nur in kleinen Gemeinden im Landkreis Heilbronn, sondern überall in Deutschland. Und das Thema, das sie beschäftigt: Die Diskriminierung, der Muslim_innen in ihrem Alltag ausgesetzt sind, und der Rassismus, der von jedem und jeder Einzelnen ausgeht, auch wenn es gar nicht böse gemeint ist, gibt es auch überall. Leider.

Dieser Beitrag erschien zuerst im März 2019 auf der Internetseite Jugendarbeit Stärken. Wir danken dem Projekt „Extrem Demokratisch – Muslimische Jugendarbeit stärken“ und der Autorin herzlich für die Erlaubnis, den Beitrag hier wieder zu veröffentlichen.

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