Homosexualität im Islam: Menschenwürde muss für alle gelten!
24. August 2016 | Diversität und Diskriminierung, Gender und Sexualität, Religion und Religiosität

Wie passen Homosexualität und Islam zusammen? Nicht gut! So sehen es zumindest viele Muslime und auch die Mehrheit der religiösen Gelehrten. Einem homosexuellen Muslim bleiben daher in der Regel nur drei Strategien: den Islam verlassen, Religion und Sexualität voneinander trennen oder im Stillen leiden. Dies liegt allerdings nicht unbedingt am Islam, so der Islamwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza. Er ist unter Muslim*innen in Deutschland bekannt, weil er sich in Vorträgen in Gemeinden und in Aufsätzen mit heiklen religiösen und gesellschaftlichen Themen auseinandersetzt. In diesem Beitrag untersucht er die islamischen Quellen und kommt zu dem Schluss: Homophobie ist im Islam nicht unbedingt angelegt. Und wichtiger noch: Die Menschenwürde zu wahren, ist ein weit höheres Gebot.

Einige Wochen vor dem Amoklauf eines Gewalttäters muslimischen Glaubens in Orlando, schrieb mir ein befreundeter Ex-Muslim, er vermisse den Islam. Zur Erklärung: Er verließ den Islam, da er homosexuell ist.

„Orlando“ – das hätte zu einer tief gehenden Diskussion in der muslimischen Gemeinschaft über das sexuelle Selbstbestimmungsrecht des Muslims und eines verantwortungsvollen Umgangs mit der eigenen Sexualität vor Gott führen können. Ganz im Sinne des reformistischen Ansatzes: „Solange du stehst, reiche jenen, die am Boden liegen die Hand.“ Doch dazu kam es nicht. Sobald bekannt wurde, dass der Täter wohl selber homosexuell war und aus Selbsthass handelte, konnte man in den sozialen Netzwerken beobachten, wie Muslime die Flucht nach vorne antraten. Getreu dem Motto: „Also hat das mit dem Islam ja nichts zu tun.“

Woher kommt aber dieser Selbsthass? Zwei Dinge mögen hier auf Omar Mateen eingewirkt haben: Zum einen die immer noch stark homophobe US-amerikanische Kultur und zum anderen, die nahezu gänzlich homophob eingestellte muslimische Gemeinschaft. Beantworten wir Muslime uns doch ehrlich die Frage: Wo hat ein geouteter muslimischer Homosexueller einen Platz in unserer Gemeinde? Er hat keinen. Wer homosexuell und Muslim ist, dem bieten sich nur drei Strategien an, damit umzugehen: 1) den Islam verlassen, 2) Religion und Sexualität voneinander zu trennen, in dem Wissen, dass seine sexuelle Identität von der Religion und seinen Glaubensgeschwistern nicht gebilligt wird, oder 3) im Stillen unter seiner Homosexualität zu leiden.

Der Islam ist kein Subjekt

Wenn Gott Homosexuelle verabscheut, wie es ja in weiten Teilen der abrahamitischen Religionen gelehrt wird, dann sind all jene, die dennoch in ihrer Religionsgemeinschaft bleiben zu bewundern, denn ihre Liebe zu Gott scheint größer zu sein, als Seine Barmherzigkeit ihnen gegenüber.

Aus seinem Selbsthass heraus konvertierte Mateen zu einem Extremismus, der sich in einer vertrauten Sprache äußert, nämlich der islamischen. Gewalt beginnt nicht damit, dass man andere Menschen umbringt. Gewalt nimmt ihren Anfang beim Wort. Dann ist es nicht mehr weit, dass einige sich ermächtigt fühlen, aus dieser geistigen Brandstiftung auch eine echte machen zu müssen.

Also ist der Islam Schuld? Wer dazu tendiert, immer alles auf den Islam schieben zu wollen, macht es sich zu einfach. Der Islam ist kein Subjekt. Er spricht nicht. Der Islam, das sind zunächst zwei Textquellen: Gotteswort (Koran) und Prophetenwort (Hadith). Ihr Verständnis ist gänzlich das Werk von Menschen. Das Nachdenken über diese beiden Quellen hat im Laufe von über 1400 Jahren zwar zu einer heterogenen muslimischen Denktradition geführt, in der aber seit jeher einhellig gelebte Homosexualität abgelehnt wird. Traditionen sind wichtig, denn sie verbinden über 1,5 Milliarden Muslime weltweit. Sie dürfen aber nicht zu Götzen erhoben werden. Es braucht eine kritische Auseinandersetzung mit ihnen, denn schließlich gibt es gute und schlechte Interpretationen.

Homophobe Muslime begründen ihre Einstellung im Gespräch zunächst immer mit der Lot-Erzählung. Sie gehört zum kulturellen Gut der Homophobie von Juden, Christen und Muslimen und verbindet auf verkehrte Weise diese drei Religionen. Aber im Grunde lesen alle drei die Lot-Erzählung nicht wirklich genau. Schließlich geht es in ihr überhaupt nicht um Homosexuelle. Es geht um mit Frauen verheiratete Männer, die männliche Fremde und Besucher überfallen und vergewaltigen. In diesem Sinne heißt es im Koran: „Und als Unsere Sendboten zu Lot kamen, geriet er ihretwegen in Bedrängnis, da er sie nicht beschützen konnte“. (11:77)

Lots Ausrufe: „Wahrlich, ihr kommt mit Sinneslust zu Männern statt zu Frauen! Ja, ihr seid ein ausschweifendes Volk!“ (7:81), „Nähert ihr euch ausgerechnet Männern“ (26:165) werfen Fragen auf. Was prangert Lot hier an? Dass Männer mit Männern Sex haben oder dass mit Frauen verheiratete Männer außerhalb der Ehe ihrer Bisexualität frönen?

Historischer Kontext der Lot-Geschichte

Mittelalterlichen Exegeten urteilten, dass die Auflehnung gegen die gottgewollte Natur der Heterosexualität eine Auflehnung gegen Gott selbst sei. Doch dies setzt eine willentliche Entscheidung voraus. Die Sexualpräferenz ist jedoch angeboren oder bildet sich im Laufe des Erwachsenwerdens. Man kann sie erweitern, aber man kann Homosexualität nicht in ihr Gegenteil umkehren, genauso wenig, wie man Heterosexualität umpolen kann. Insofern haben die Exegeten unrecht. Ihre Behauptung trifft allenfalls für die Bi-Sexualität zu. Vielleicht gehört Homosexualität als eine gottgewollte Abweichung von der Norm ebenso zur Schöpfung. Entscheidend ist, wie man mit der Sexualität umgeht.

Da Gott, so argumentieren homophobe Muslime auch gerne, das Volk Lots vernichtet habe, sei hieraus abzuleiten, dass Homosexuelle kein Lebensrecht besitzen. Aber das steht nirgends im Koran. Dort wird der Versuch der Gruppenvergewaltigung als Vernichtungsgrund aufgeführt: „Sie verlangten tatsächlich seine Gäste von ihm. Darum blendeten Wir ihre Augen: ‚So kostet Meine Strafe und Meine Warnungen!’“ (54:37). An keiner Stelle autorisiert Gott im Koran Gläubige zur Selbstjustiz. Auch findet sich keine Strafe für Homosexualität im Koran.

Wenn Muslime heute über Homosexualität sprechen, verwenden sie dafür das arabische Wort liwat, abgeleitet von dem Namen Lots. Allerdings bedeutet dies überhaupt nicht Homosexualität, sondern bezeichnet den Analverkehr. Die meisten Juden, Christen und Muslime sind sich überhaupt nicht bewusst, dass das Wort Homosexualität erst 1868 entstand. In der Neuzeit beginnt man Homosexualität als eine sexuelle Identität zu verstehen. In der Vormoderne verurteilte man lediglich bestimmte sexuelle Handlungen. Dies wird in den klassischen Rechtstexten muslimischer Gelehrter deutlich. So unterscheidet der Rechtsgelehrte Ibn Hajar Haytami (gest. 1567) zwischen dem Analverkehr, der zwischen zwei Männern stattfindet, und dem Verkehr zwischen zwei Frauen. Nach heutigem Verständnis wäre beides Ausdruck von Homosexualität. Für die Rechtsgelehrten stand der Analverkehr zwischen zwei Männern auf der gleichen Stufe wie ein verheirateter Mann, der fremd geht. Den Liebesakt zwischen zwei Frauen erachtete man, wenn überhaupt, als viel weniger verwerflich.

Dies, weil im Mittelalter Sex anders definiert wurde, als wir es heute tun würden. Sex war männlich bestimmt. Sex war synonym mit Penetration. Da diese bei lesbischen Handlungen wegfällt, fand da auch kein Sex statt. In den Rechtstexten findet man den Ausdruck reiben (sihaq). Muslime schreiben heute dem Wort liwat eine Bedeutung zu, die es ursprünglich niemals hatte.

Drängt man homophobe Muslime so in die Ecke, dann weichen sie auf das Prophetenwort aus, in dem homosexuelle Handlungen mit dem Tode bestraft werden: „Wer von euch einen findet, der das begeht, was das Volk Lots begangen hat, so tötet die beiden, den Täter und den anderen, mit dem er dies getan hat.“

Homosexuelle Muslime müssen Gehör finden

Doch was sagt der Text wirklich aus? Was war das Vergehen des Volkes Lots? Bisexuelle Handlungen? Vergewaltigung? Alles zusammen? Stutzig macht auch die Aussage, man solle beide bestrafen. Das Volk Lots verübte, so zumindest der koranischen Kontext, Vergewaltigungen. Überträgt man diese Tatsache auf das Prophetenwort, so wären Täter und Opfer zu bestrafen. Dies würde jedoch jedes Gerechtigkeitsempfinden verletzen. Wenn das Prophetenwort aber einvernehmlichen Sex zwischen zwei Männern meint, so lässt sich wiederum kein Bezug zur koranischen Lot-Erzählung herstellen. Dieses Prophetenwort wirft mehr Fragen auf, als das es Antworten gibt. Also muss der mündige Gläubige es auch zurückweisen.

Ein letztes Argument, das von homophoben Muslimen gerne angeführt wird, zielt auf die Verantwortungslosigkeit von Homosexuellen. Homosexueller Sex wird als schmutzig und animalisch abgewertet, da Klappensex, Cruising, Gay-Saunen und Darkrooms verdeutlichen, dass es bei Homosexuellen um schnell verfügbaren und anonymen Sex geht.

Es stimmt ja, all die genannten Formen von anonymem Sex existieren, aber sie sind nicht Ausdruck einer homosexuellen Subkultur. Sie sind Ausdruck einer männlichen homosexuellen Subkultur. In der Lesbenszene sind all diese Dinge unbekannt. Anonymer Gelegenheitssex ist im weiteren Ausdruck von männlicher Sexualität. Dies betrifft sowohl Homosexuelle als auch Heterosexuelle. Selbst in der muslimischen Gemeinschaft haben (männliche) Gelehrte Wege gefunden, um Gelegenheitssex zu institutionalisieren. Wenn Muslime behaupten, der Islam erlaube Sex nur in der Ehe, so ist dies schlicht und ergreifend nicht wahr.

Richtig muss es heißen, die muslimischen Gelehrten gestatten einer Frau nur Sex in der Ehe, aber dem Ehemann ist es gestattet, auch außerhalb der konventionellen Ehe mit anderen Frauen zu schlafen. Er muss hierzu nicht einmal seine Ehefrau um ihr Einverständnis bitten. Bei der schiitischen Konfession heißt eine solche Verbindung Zeit-„Ehe“ (mut’a) und bei den Sunniten Besuchs-„Ehe“ (misyar). Hier geht ein verheirateter oder unverheirateter Mann eine temporäre Beziehung mit einer unverheirateten Frau ein. Dabei tritt sie eine Reihe von Rechten ab, die ihr nach der konventionellen Ehe zustehen. Doch all dies hat wenig mit der islamischen Auffassung von Ehe zu tun, die auf Langfristigkeit und Stabilität angelegt ist.

Als Muslime müssen wir, was Sexualität anbetrifft, zugeben, dass es gerade in unserer Gemeinschaft drunter und drüber geht. Deswegen wäre es notwendig, es in institutionalisierter Form, einer Art Konzil, zum Thema zu machen. Gemeinsam mit homosexuellen Muslimen. Ihre Stimmen müssen Gehör finden, statt dass nur über sie gehetzt wird. Gerade weil Muslime in der Moderne es nicht geschafft haben, Strukturen zu schaffen, die unabhängig von politischer Macht sind, kann heute jeder ungebildete und selbsternannte Internetimam Hetze und Feindschaft predigen – und findet auch noch Gehör. Damit haben wir Muslime aber nichts mehr mit der großartigen muslimischen Zivilisation des Mittelalters gemeinsam. Wir sind vielmehr nur noch eine Straßengang.

Vielleicht geht es in der Lot-Erzählung um homosexuelle Neigungen, die abzulehnen sind. Vielleicht geht es aber auch nur um Bi-Sexualität. Vielleicht auch eher um die Anprangerung einer unverantwortlich gelebten Sexualität und sexueller Gewalt. Vielleicht – aber was gewiss ist, niemand hat das Recht, zu Hetze und Mord aufzurufen. Die transzendente Würde des Menschen gilt für alle, gleich ob sie heterosexuell oder homosexuell sind. Und es ist die Pflicht eines jeden vernünftigen Muslims, immer wieder darauf hinzuweisen.

Doch was antworte ich meinem Freund, der den Islam vermisst?

 

Wir danken der Frankfurter Rundschau für die freundliche Genehmigung, diesen Artikel zu veröffentlichen.

Die Beiträge im Portal dieser Webseite erscheinen als Angebot von ufuq.de im Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX)
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