Hanau und „wir“ – Was hat Rassismus mit uns zu tun?
6. August 2020 | Diversität und Diskriminierung, Radikalisierung und Prävention

Symbolbild Menge an brennenden Kerzen; Bild: unsplash.com/Eduardo Casajús Gorostiaga

Deutschland habe – nicht erst mit dem Hanauer Anschlag im Februar 2020 – ein Rassismus­problem, hieß es nach dem Anschlag in der Presse. Warum und wie schlägt sich das in der pädagogischen Praxis nieder? Die Erziehungs­wissen­schaft­lerin und promo­vierte Sozio­login Inga Ober­zaucher-Tölke appelliert daran, sich fortlaufend der Selbst­reflexion zu unterziehen, und zeigt beispielhaft Fallstricke durch sozialisierte Deutungsmuster auf.

Am 19.02.2020 wurden in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven ermordet. Am 26.02.2020 schrieb die Wochenzeitung Die Zeit: „Deutschland hat ein Rassismusproblem“ und ließ 142 von Rassismus Betroffene von ihren Erfahrungen berichten. Dabei wurde sehr eindrücklich deutlich, dass Deutschland viele Rassismusprobleme hat, die sich nicht erst in Gewalttaten gegenüber der migrantischen Bevölkerung zeigen. Vielmehr stellt Rassismus eine Alltagserfahrung eines großen Teils der deutschen Bevölkerung dar. Auch aus einer theoretischen Perspektive manifestiert sich das Phänomen Rassismus auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, also nicht nur auf intrapersonaler Ebene, sondern auch auf einer diskursiv-kulturellen, einer strukturell-gesellschaftlichen und einer institutionellen Ebene (vgl. Mecheril & Melter, 2011). Damit betrifft Rassismus nicht nur diejenigen, die potenziell zur „Opfergruppe“ gehören, sondern auch die Angehörigen der potienziellen „Täter*innengruppe“. Ferda Ataman, Autorin, sagt dazu in der Zeit:

Alle fragen uns jetzt, wie es uns nach diesem rassistischen Terroranschlag geht. Sie fragen uns, weil wir Menschen „mit Migrationshintergrund“ automatisch Angehörige der Opfergruppe sind. Aber wenn wir zur Opfergruppe gehören, gehören die Fragenden zur Tätergruppe. Ich finde, wir sollten zurückfragen: Wie geht es Ihnen damit?

Ja, wie geht es den Angehörigen der „Täter*innengruppe“ nach Hanau? Im öffentlichen Diskurs verwiesen zahlreiche Politiker*innen recht bald auf die (Mit-)Verantwortung der AfD für die Tat. Die Partei schaffe ein rassistisches Gesellschaftsklima, in dem die brutalen Taten Einzelner erst möglich werden. Diese Verantwortung und damit die möglichen Folgen rechtspopulistischer Diskurse sind natürlich keinesfalls von der Hand zu weisen. Gleichzeitig wird Rassismus mit dem Reflex, die Verantwortung für ihn „Anderen“, also zum Beispiel „Rechtspopulist*innen“ und „Rechtsextremist*innen“, zuzuschreiben, einmal mehr negiert. Ismail Küpeli nennt dies in der Zeit „Erklärungsversuche und Selbstzusicherungen, dass man selbst und die Mehrheit der Deutschen nicht rassistisch sei“. Aus einer psychoanalytischen Perspektive handelt es sich dabei um das Phänomen der Abwehr: Durch Projektion von Rassismus auf die „Anderen“ wird sich die eigene Verbindung und Verstrickung mit Rassismus quasi „vom Leibe gehalten“.

Diese innerpsychische und gleichzeitig gesamtgesellschaftliche Dynamik liegt sicherlich nicht zuletzt in der transgenerationalen Verstrickung vieler Biodeutscher mit dem Nationalsozialismus begründet, welche in Teilen noch immer unverarbeitet ist. Zur Abwehr der Auseinandersetzung mit der eigenen, vielleicht allzu schmerzhaften und schambesetzten (Familien-)Geschichte bietet sich nun die Projektion von Rassismus auf „Andere“ an, wie zum Beispiel auf „AfD-Wähler*innen“, „Rechtsextremist*innen“ oder auch gleich pauschal „Ostdeutsche“ (vgl. Oberzaucher-Tölke, 2017).

An diesen Überlegungen wird deutlich, dass eine differenzierte Haltung gegenüber Rassismus ohne Selbstreflexion und -kritik nicht denkbar ist. Rassismus muss als ein Problem verstanden werden, das alle Mitglieder einer Gesellschaft betrifft, da seine Wirkweise sonst persistent und gleichzeitig besonders subtil bleibt.

Für eine entsprechende Form der Analyse und Reflexion von Rassismus hat sich in der Rassismustheorie und -forschung sowie nicht zuletzt in der Bildungsarbeit der Begriff der „Rassismuskritik“ etabliert (vgl. unter anderem Mecheril & Melter, 2011; Scharathow & Leiprecht, 2011). Aus rassismuskritischer Perspektive geht es darum, „zum Thema zu machen, in welcher Weise, unter welchen Bedingungen und mit welchen Konsequenzen Selbstverständnisse und Handlungsweisen von Individuen, Gruppen, Institutionen und Strukturen durch Rassismen vermittelt sind und Rassismen stärken“ (Mecheril & Melter, 2010, S. 172). Rassismus wird also nicht (nur) als Problem Einzelner verstanden, sondern auch Institutionen und Strukturen werden auf ihre ausgrenzenden und diskriminierenden Effekte hin untersucht, wie zum Beispiel Schule und/oder Jugendarbeit (vgl. zum Beispiel Riegel, 2016).

Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden die Frage gestellt werden, was Rassismus mit „uns“ zu tun hat, also in verschiedenen pädagogischen Feldern Tätigen, die sich für Diversität und Vielfalt einsetzen und damit gegen Rassismus engagieren möchten. Dabei herrscht oft Konsens darüber, das „Richtige“ zu tun oder auf der „richtigen“ – also nicht-rassistischen – Seite zu stehen. Diese „Schwarz-Weiß-Malerei“ funktioniert jedoch in derselben Logik wie der Rassismus selbst und sollte deshalb unbedingt aufgebrochen bzw. differenziert werden. Eine rassismuskritische Perspektive kann dort Ambivalenzen und Widersprüche aufzeigen, wo die eigenen Gewissheiten allzu selbstverständlich sind.

Als Grundlage für eine rassismuskritische Perspektive wird im Folgenden zunächst ein theoretisch fundiertes Verständnis von Rassismus (1.) und seiner spezifischen Erscheinungsform des Kulturrassismus (2.) erarbeitet. Beides wird exemplarisch als Reflexionsfolie angewandt, um Situationen aus dem pädagogischen Alltag rassismuskritisch in den Blick zu nehmen und damit oben genannten Widersprüchen auf die Spur zu kommen (3.).

Rassismus

Aus rassismustheoretischer Perspektive wird Rassismus nicht als Einstellung oder Haltung Einzelner verstanden, sondern als Analysekategorie für historische und gegenwärtige soziale und gesellschaftliche Verhältnisse (vgl. Mecheril & Melter, 2010, S. 165). Rassismus ist dabei zu definieren als ein „machtvolles, mit Rassekonstruktionen operierendes oder an diese Konstruktionen anschließendes System von Diskursen und Praxen […], mit welchen Ungleichbehandlungen und hegemoniale Machtverhältnisse erstens wirksam und zweitens plausibilisiert werden“ (Mecheril & Melter, 2011, S. 15f.). Die Kategorie „Rasse“, die Rassismus zugrunde liegt, ist als Konstruktion zu verstehen. Robert Miles definiert diese Konstruktion als „einen Prozess der Grenzziehung zwischen verschiedenen Gruppen, wobei bestimmte Personen, primär mit Bezug auf (angenommene) angeborene (gewöhnlich phänotypische) Merkmale innerhalb dieser Grenzen verortet werden“ (Miles, 2000, S. 21). Dieser Prozess der racialisation vollzieht sich vor dem Hintergrund einer Bedeutungskonstitution, bei der „bestimmte somatische Merkmale (zum Beispiel die Hautfarbe) bedeutungsvoll aufgeladen [werden] und so zum Einteilungskriterium von als „Rasse“ definierten Bevölkerungsgruppen gemacht werden“ (ders., S. 18). Die Zuschreibung einer religiösen Zugehörigkeit als „Muslim*in“, zum Beispiel aufgrund des Namens oder der Haut- bzw. Haarfarbe ist als ein weiteres Beispiel für racialisation zu nennen, vor allem wenn die religiöse Zugehörigkeit als angeborenes Merkmal verstanden wird.

Der Prozess der racialisation hat eine lange Geschichte aufzuweisen, die sich bis in den Kolonialismus zurückverfolgen lässt (vgl. Mecheril & Melter, 2010, S. 151). Mit Beginn der „Entdeckung“ Amerikas 1492 legitimierten „Rasse“ und „Kultur“-Diskurse den Kolonialismus als jahrhundertelange Herrschaftsbeziehungen, „die mit physischer, militärischer, epistemologischer und ideologischer Gewalt durchgesetzt wurden“ (Castro Varela & Dhawan, 2005, S. 13). In Deutschland hingegen wurde die Verwendung des Konstrukts „Rasse“ lange Zeit ausschließlich dem Nationalsozialismus zugeschrieben und Rassismusanalysen dementsprechend auf diese Zeit beschränkt (vgl. Mecheril & Melter, 2010, S. 164).

Auch heute sind jedoch in Deutschland Diskurse und Bilder kolonialen Ursprungs, zum Beispiel vom „Orient“ oder „dem Islam“ als „Anderes“ (vgl. Said, 1978) oder vom „Westen und dem Rest“ (vgl. Hall, 1994) wiederzufinden und wirkmächtig. Sie finden sich nicht zuletzt in öffentlichen und fachspezifischen Diskursen, wie zum Beispiel pädagogischen Diskursen zu „Schüler*innen mit Migrationshintergrund“, aber auch in den Erfahrungen kopftuchtragender Schülerinnen (vgl. zum Beispiel Yavaş, 2016) wieder bzw. werden durch diese reaktualisiert. Als Ausdruck von Rassismus gelten diese Diskurse und Bilder dann, wenn sie „die Unterscheidung von Menschen und ihre Einteilung in materiell und symbolisch hierarchische Gruppen“ (Mecheril & Melter, 2011, S. 16) zur Grundlage haben und verbunden sind mit der „Zuschreibung von Eigenschaften und Wesensmerkmalen, welche als quasi natürlich vorgestellt werden“ (ebd.).

Fallbeispiel I

Zwei mehrheitsangehörige Schulsozialarbeiterinnen unterhalten sich über einen Schüler aus der achten Klasse, mit dem es Schwierigkeiten gibt. Er schwänzt öfter die Schule, verhält sich respektlos gegenüber Lehrkräften, und auch die Sozialarbeiterinnen kommen nicht wirklich an ihn heran. Sie überlegen, ob sie nicht doch besser ihren Kollegen einer anderen Schule einschalten sollen. „Der hat ja auch einen Migrationshintergrund, vielleicht versteht der ihn ja besser.“

Hier wird deutlich, wie – unbewusst und in guter Absicht – Rassismus in einem pädagogischen Kontext zum Tragen kommt. Zwar werden die Schwierigkeiten mit dem besagten Schüler nicht direkt seinem „Migrationshintergrund“ zugeschrieben, wohl aber die Distanz zwischen ihm und den Schulsozialarbeiterinnen, welche aus deren Sicht nicht überwunden werden kann. Diese Distanz wird implizit vor dem Hintergrund einer vermeintlichen Differenz aufgrund des „Migrationshintergrundes“ gedeutet. Hierarchisch strukturiert ist diese Unterscheidung deshalb, weil sie für den Schüler im schulischen Kontext eng mit Bildungschancen bzw. ihrer Einschränkung verknüpft ist. Demgegenüber wird zwischen dem Schüler und dem Schulsozialarbeiter aufgrund des (zugeschriebenen) „Migrationshintergrundes“ eine „Gleichartigkeit“ vermutet. Implizit werden Schüler und Schulsozialarbeiter – über ihren „Migrationshintergrund“ und damit qua Herkunft – gemeinsame Eigenschaften und Wesensmerkmale unterstellt.

Rassismus und Kultur

Wie zuvor dargestellt, muss Rassismus als Herrschafts- und Machtverhältnis verstanden werden, in dem mit Rassekonstruktionen und daran anschließenden Unterscheidungskategorien operiert wird. Neben körperlichen Merkmalen wie Haut- oder Haarfarbe, die der Kategorie „Rasse“ ursprünglich zugrunde gelegt wurden, werden aktuell vor allem religiöse und kulturelle Praktiken und Symbole für rassistische Unterscheidungen genutzt (vgl. Mecheril & Melter, 2010, S. 152). Dies ist vor oben dargestelltem Hintergrund als „Anschmiegungen und Anpassungsprozesse des Rassismus auf kontext- und zeitspezifische Erfordernisse“ (dies., S. 153) zu verstehen. Im subjektiven Erleben kann sich Rassismus also auch über Differenzkategorien wie „Religion“, „ethnische Zugehörigkeit“ und „Sprache“ ausdrücken. Besonders verbreitet und subtil ist hier jedoch die Verwendung der Kategorie „Kultur“.

Bereits 1990 setzte sich Étienne Balibar mit dem Aufkommen eines „Neo-Rassismus“ im Kontext von Migration auseinander, „dessen vorherrschendes Thema nicht mehr die biologische Vererbung, sondern die Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen ist“ (Balibar, 1990, S. 28). Demnach ist das Unterscheidungsmerkmal „Rasse“ aufgrund der zuvor genannten gesellschaftlichen Entwicklungen durch „Kultur“ abgelöst worden. Bei dem Rekurs auf „kulturelle Differenz(en)“ handele es sich dabei um neue Artikulationen, so Balibar, „in der sich in einer auf Dauer angelegten Weise gesellschaftliche Praxis und kollektive Vorstellungen, Lehren von Wissenschaftlern und politische Bewegungen miteinander verbinden“ (ders., S. 27), die also den Fortbestand von Rassismus als Macht- und Herrschaftsverhältnis quasi „unter neuem Namen“ sichern.

Im deutschen Kontext wird das Phänomen des Kulturrassismus besonders vor dem Hintergrund der Arbeitsmigration seit den 1960er Jahren und ihrer gesellschaftlichen Folgen relevant. Über die fortdauernde Zuschreibung einer „anderen Kultur“ in vielerlei Diskursen und Praktiken werden nämlich auch die zweite, dritte und mittlerweile vierte Generation der Nachkommen der Arbeitsmigrant*innen „mit der Unterstellung kultureller Fremdheit konfrontiert und damit immer wieder auf die Herkunft ihrer Vorfahren verwiesen“ (Messerschmidt, 2008, S. 6). Die damit implizit verbundene Vorstellung einer transgenerationalen Vererbbarkeit von „Kultur“ in Verbindung mit einem statisch und homogen verstandenen Kulturbegriff machen deutlich, dass „Kultur“ auch in diesem Zusammenhang als „Sprachversteck von Rasse“ (Mecheril, 2010, S. 62) zu verstehen ist.

Fallbeispiel II

Während einer Fallbesprechung in der Erziehungsberatungsstelle berichtet eine mehrheitsangehörige Pädagogin über eine Familie, die wegen der Schulschwierigkeiten ihrer Tochter Rat sucht. „Also ich merke schon, dass ich da in der Beratung teilweise an meine Grenzen komme, vor allem wenn der Vater der Mutter immer wieder ins Wort fällt. Es ist ja schon eine andere Kultur …“

Die Interaktion zwischen den Eltern sowie die daraus entstehende Reaktion der Pädagogin werden hier über die Kategorie „Kultur“ gedeutet. Den Eltern wird die Zugehörigkeit zu einer „anderen Kultur“ zugeschrieben und diese damit in Differenz zur Pädagogin selbst gesetzt. Über die emotionale Abgrenzung der Pädagogin wird zudem eine Unvereinbarkeit deutlich gemacht. Als ausschlaggebend hierfür gilt die vermeintliche Dominanz des Vaters gegenüber der Mutter, welche unmittelbar mit der „anderen Kultur“ verknüpft wird. Männliche Dominanz dient also offensichtlich als Merkmal und Erkennungszeichen der „anderen Kultur“. Im Sinne eines Otherings (vgl. Oberzaucher-Tölke, 2013) bleiben dabei Merkmale der „eigenen Kultur“ bezüglich Geschlechterverhältnissen unbenannt und unkommentiert und werden darüber normalisiert.

Rassismuskritik

Es wurde hoffentlich deutlich, dass sich rassistische Denk- und Sprachmuster auch in pädagogischen Alltagssituationen wiederfinden, in denen Rassismus auf den ersten Blick keine Rolle zu spielen scheint. Um gerade diese subtilen und unbewussten Rassismen zu erkennen, kann eine differenzierte rassismustheoretische und -kritische Perspektive als Analyse- und Reflexionsinstrument auch für die Praxis äußerst hilfreich sein. Dabei kann es zum Beispiel darum gehen, die Verwendung von „Kultur“ und die Annahme „kultureller Differenz“ auf potenziell enthaltene Anschlüsse an rassistische Denk- und Sprachfiguren hin zu untersuchen und sich darüber die Unumgänglichkeit der eigenen Verstrickung in rassistische Strukturen bewusst zu machen.

Zur konkreten Reflexion eigener Praxissituationen kann folgende Frage hilfreich sein: Wer benutzt unter welchen Bedingungen mit welchen Wirkungen „Kultur“ als Deutungs- und Interpretationsmuster? (vgl. Kalpaka & Mecheril, 2010, S. 93).

Bezogen auf unsere Beispiele wird deutlich, dass „Kultur“ hier von pädagogischen Fachkräften mit Mehrheitszugehörigkeit ins Spiel gebracht wird (Wer benutzt „Kultur“ als Deutungs- und Interpretationsmuster?). In den meisten Feldern der Pädagogik sind – auch wenn sich derzeit ein deutlicher Wandel abzeichnet – immer noch Bedingungen vorherrschend, in denen die Professionellen hauptsächlich der Mehrheitsgesellschaft angehören, während die Minderheitenposition meistens den Klient*innen, Schüler*innen etc. vorbehalten ist (Unter welchen Bedingungen wird „Kultur“ als Deutungs- und Interpretationsmuster benutzt?). In beiden Beispielen wird der „Migrationshintergrund“ bzw. die „Kultur“ jeweils den „Anderen“ zugeschrieben und diese darüber einerseits zu „Fremden“ gemacht. Die eigene Zugehörigkeit und deren Bedeutung rücken damit in den Hintergrund. Zudem hat die Verwendung von „Kultur“ die Funktion, dass die Professionellen von ihrem eigentlichen Auftrag entlastet sind. Nicht das eigene Unvermögen ist Ursache für die Probleme im pädagogischen Alltag, sondern die Schwierigkeiten werden kulturellen oder sonstigen Differenzen zugeschrieben. Mögliche Fehlbarkeiten und daraus resultierende Verunsicherungen auf Seiten der Pädagog*innen können also über den Verweis auf „Kultur“ abgewehrt werden (Mit welchen Wirkungen wird „Kultur“ als Deutungs- und Interpretationsmuster benutzt?).

In Anschluss an derartige Reflexionen stellt sich nun immer wieder die Frage, was getan werden kann, um die Verwendung von „Kultur“ als Deutungsmuster zu vermeiden. Eine Vermeidung ist jedoch kaum möglich, sind wir doch in jedem Beruf auf professionsspezifische Deutungsmuster angewiesen und würden „Kultur“ allenfalls durch andere, nicht weniger diskriminierende Kategorien ersetzen. Tatsächlich geht es vor allem darum, die Verwendung von „Kultur“ und verwandten Kategorien rassismuskritisch zu reflektieren und zu erkennen, dass sich dabei ausgeprägte Spannungsverhältnisse ergeben: So muss einerseits in Betracht gezogen werden, dass Differenzen und Fremdheit in jedem pädagogischen, wenn nicht sogar zwischenmenschlichen Setting bestehen und es sich beim Gegenüber immer um einen „fremden Anderen“ handelt. Diese Universalisierung von Fremdheit sollte jedoch keine Nivellierung von Differenzen zur Folge haben. Denn Merkmale, die Klient*innen vor dem Hintergrund rassistischer Wissensbestände als „Andere“ markieren und die immer wieder als „kulturell“ deklariert werden (zum Beispiel Hautfarbe, Name, Kleidung, Sprache), sind für die Betroffenen oft sehr wohl relevant, unter anderem als Ursache für erlebte Diskriminierung. Es kann also auch keine Lösung sein, diese Merkmale als „nicht bedeutsam“ wahrzunehmen – hierbei würde es sich um einen „blinden Fleck“ weißer, mehrheitsangehöriger Pädagog*innen handeln.

Es ist also eher schwierig, „Kultur“ als Deutungsmuster zu vermeiden. Vielmehr geht es darum, die eigenen Deutungen und Selbstverständnisse vor dem Hintergrund der eigenen Zugehörigkeit grundlegend und beständig zu hinterfragen. Dabei können ausgeprägte Spannungsverhältnisse sichtbar werden: So kann ich mich einerseits als „anti-rassistisch“ wahrnehmen und entsprechend sprechen und handeln. Gleichzeitig kann ich mich unbewusst „(kultur-)rassistisch“ äußern oder verhalten, eben weil ich in rassistische Gesellschaftsverhältnisse und -diskurse eingebunden bin, die nicht zuletzt mein Denken und Fühlen beeinflussen. Diese Spannungsverhältnisse zu erkennen, auszuhalten und sich dennoch immer wieder neu zu hinterfragen ist meines Erachtens die größte, aber dennoch ertragreichste Herausforderung in der rassismuskritischen Selbstreflexion.


Literatur

Balibar, É. (1990). Gibt es einen „Neo-Rassismus“? In É. Balibar & I. Wallerstein, Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten (S. 23-38). Hamburg: Argument.

Castro Varela, M. & Dhawan, N. (2005). Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld: Transcript.

Hall, S. (1994). Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument Verlag.

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Mecheril, P. (2010). Die Ordnung des erziehungswissenschaftliches Diskurses in der Migrationsgesellschaft. In P. Mecheril, M. Castro Varela, I. Dirim, A. Kalpaka & C. Melter (Hrsg.), Migrationspädagogik (S. 54-76). Weinheim: Beltz.

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Mecheril, P. & Melter, C. (2010). Gewöhnliche Unterscheidungen. Wege aus dem Rassismus. In P. Mecheril, M. Castro Varela, I. Dirim, A. Kalpaka & C. Melter (Hrsg.), Migrationspädagogik (S. 150-178). Weinheim: Beltz.

Messerschmidt, A. (2008). Pädagogische Beanspruchungen von Kultur in der Migrationsgesellschaft – Bildungsprozesse zwischen Kulturalisierung und Kulturkritik. Zeitschrift für Pädagogik, 54(1), 5-17.

Miles, R. (2000). Bedeutungskonstitution und der Begriff des Rassismus. In N. Rätzel (Hrsg.), Theorien über Rassismus (S. 17-33). Hamburg: Argument.

Oberzaucher-Tölke, I. (2017). Wer ist hier „fremd“? Migration und Fremdheit in Psychoanalyse und Psychotherapie. Analytische Psychologie, 187, 84-104.

Oberzaucher-Tölke, I. (2013). „Deine Kultur, meine Kultur“: Warum es sich lohnt, die Kulturbrille hin und wieder abzusetzen. kindergartenpaedagogik.de.

Riegel, C. (2016). Bildung – Intersektionalität – Othering. Pädagogisches Handeln in widersprüchlichen Verhältnissen. Bielefeld: Transcript.

Said, E. (1978/2003). Orientalism. London: Penguin Books.

Scharathow, W. & Leiprecht, R. (Hrsg.) (2011). Rassismuskritik. Band 2: Rassismuskritische Bildungsarbeit. 2. Auflage. Schwalbach/Ts.: Wochenschau.

Yavaş, A. (2016). Antimuslimischer Rassismus: Erfahrungen aus unseren Workshops. www.ufuq.de, Juni 2016.

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