„Gott hat aus muslimischer Perspektive einiges mit Sex zu tun“ – ein Interview mit dem Islamtheologen Ali Ghandour
3. Dezember 2020 | Gender und Sexualität, Jugendkulturen und Soziale Medien, Religion und Religiosität

Das 2019 erschienene Buch „Liebe, Sex und Allah: Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime“ des Islamtheologen Ali Ghandour stellt verbreitete Stereotype über Sexualität im Islam in Frage. Im Interview mit RISE-Projektmitarbeiterin Lina Najmi erzählt Ali Ghandour vom relativ offenen Verhältnis vormoderner muslimischer Gesellschaften zur Sexualität und erklärt, welche Implikationen seine Forschung für die Arbeit mit muslimischen Jugendlichen hat.

Lina Najmi (RISE-Team):

Herr Ghandour, vor genau einem Jahr (2019, Anm. d. Red) ist Ihr Buch „Liebe, Sex und Allah“ erschienen. Was hat denn Sex mit Allah zu tun?

Ali Ghandour:

Sex wurde in der muslimischen Tradition als eine Gabe Gottes verstanden. Wir finden erotische Darstellungen im Koran, das Sexuelle wurde von den Gelehrten im Namen Gottes reguliert und normiert. Die erotische Vereinigung wurde von manchen Sufis, wie z.B. Ibn al-Arabi, als etwas angesehen, was sich im gesamten Sein ereignet. Für ihn war der sexuelle Akt der reinste Weg zur Gotteserkenntnis. Wie man sieht, Gott hat aus muslimischer Perspektive einiges mit dem Sex zu tun.

Lina Najmi:

Dann ist es auch nicht mehr ganz so überraschend, dass sich ein Islamtheologe mit Sex und Erotik beschäftigt. Das ist ja auf den ersten Blick nicht so naheliegend.

Ali Ghandour:

Indem ich mich mit Sex und Erotik im muslimischen Kontext beschäftige, gewinne ich gleichzeitig Erkenntnisse über die Geschichte, die Moralvorstellungen und die Normen der unterschiedlichen muslimisch geprägten Gesellschaften. Theologie ist in meinem Verständnis kein Fach, das sich nur mit Gott auseinandersetzt. In der Theologie geht es für mich vor allem um die Menschen, um ihre Wünsche und Ängste, um ihre Vorstellungen von Gott und von der Welt, in welcher sie leben. Sex und Erotik sind vielleicht das Menschlichste, was es gibt, daher wäre eine Ausblendung dieses Aspektes in der Theologie quasi eine Art Selbstverleugnung. Dazu kommt, dass ich tagtäglich erlebe, dass Muslim*innen sehr viele Fragen bezüglich der Sexualität haben, die normativer Natur sind. Als Theologe versuche ich, ihnen sexpositive und auch gut begründbare theologische Positionen anzubieten.

Lina Najmi:

Das Buch wurde in Deutschland breit rezipiert und findet in der Öffentlichkeit weiterhin bemerkenswerte Aufmerksamkeit. Liegt das am Islam-Sexualität-Konnex oder ist die islamische Theologie heute en vogue?

Ali Ghandour:

Ich glaube eher, dass es am Islam-Sexualität-Konnex liegt. Das Thema Sexualität ist mehr denn je aktuell. Vor allem im Zuge der Diskurse der letzten Jahre rund um die Sexualidentität oder Gender. Es ist also natürlich, dass Muslim*innen auch das Thema aus ihrer Perspektive aufarbeiten und ihren Beitrag in diesem Diskurs leisten.

Lina Najmi:

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es in den 1970er-Jahren eine „Re-Islamisierung“ vieler muslimischer Länder gab. Viele islamische Normen wurden dabei neu definiert und in eine bestimmte Vergangenheit zurückprojiziert. Haben wir es heute mit einer Art „erfundenem Islam“ zu tun?

Ali Ghandour:

Zugespitzt und provokativ gesagt: „Islam“ großgeschrieben, im Gegensatz zum islam kleingeschrieben, im Sinne von Hingabe, ist und war immer „erfunden“. Die rechtlichen und ethischen Normen, die theologischen Ansichten oder die Textdeutungen wurden im Laufe der Geschichte von unterschiedlichen Gelehrten konstruiert und interpretiert. Ihr sozioökonomischer Kontext, ihre Psyche, ihr Wissensstand und ihr Weltbild flossen stets in diese Konstrukte mit ein. Ich unterscheide stark zwischen der Botschaft des Propheten und dem, was daraus gemacht wurde. Das, was daraus gemacht wurde und wird, ist ständig im Wandel. Deswegen lehne ich es eigentlich ab, vom „Islam“ als Subjekt oder als Kategorie zu sprechen. Es geht immer nur um Muslim*innen, um Menschen.

Lina Najmi:

Muslim*innen wird heutzutage oft eine gewisse sexuelle Prüderie zugeschrieben. Sie widerlegen das Bild der prüden Muslim*innen. Vielmehr schreiben Sie, dass muslimische Gemeinschaften der Vormoderne offen mit Sexualität umgegangen sind. Was ist in der Zwischenzeit passiert? Haben wir Muslim*innen unsere Sexrevolution verfehlt?

Ali Ghandour:

Natürlich dürfen wir unsere Vorstellung von sexueller Freiheit nicht auf die Zeit vor dem 19. Jahrhundert zurückprojizieren. Allerdings kann man mit guten Argumenten aufzeigen, dass die muslimisch geprägten urbanen Gesellschaften in jener Zeit sexuell vielfältiger waren als heute. Auch wenn es anachronistisch ist, wäre das Adjektiv „queer“ im Zusammenhang der Erforschung muslimischer Sexualitäten in der Vormoderne nicht ganz falsch. Denn wir begegnen in der Vormoderne Sexualitäten und Geschlechteridentitäten, die jenseits der heutigen heteronormativen Vorstellungen waren.
Ab dem 19. Jahrhundert ist allerdings vieles passiert, beispielsweise der Kolonialismus, die Begegnung mit der viktorianischen Prüderie und der christlichen Sexualmoral, die Herausbildung von repressiven Nationalstaaten, die massive Landflucht im 20. Jahrhundert und die Entstehung von islamistischen Ideologien. All diese Entwicklungen haben dazu beigetragen, dass eine rigide und nach Eindeutigkeit suchende Sexualmoral entstanden ist, oder anders gesagt, die Fähigkeit, mit sexueller Vielfalt umzugehen, ist untergegangen.

Lina Najmi:

Worin sehen Sie die Bedeutung Ihrer Forschungen für die Arbeit mit muslimischen Jugendlichen? Das Thema Sexualität und Sexualnormen kommt in Fortbildungen mit pädagogischen Fach- und Lehrkräften immer wieder auf. Wie wichtig ist Ihres Erachtens das Thema Sexualität und Islam für Jugendliche?

Ali Ghandour:

Sexualität im muslimischen Kontext ist ein Thema, das leider mit vielen Vorurteilen und Halbwissen belastet ist, nicht nur von Außenstehenden, sondern auch von Muslim*innen selbst. Es kommt nicht selten vor, dass „Islam“ und „Muslim*innen“ so diskutiert werden, als seien sie etwas Homogenes, das ohne Unterschiede und Widersprüche existiert. Gerade für eine stärkere Differenzierung in diesem Zusammenhang können Sexualpädagogik und die Thematisierung der Sexualität aus muslimischer Perspektive eine grundlegende Rolle spielen. Heutzutage zirkulieren die absurdesten Meinungen bezüglich Sex und „Islam“. Und glauben Sie mir, nicht nur mit Jugendlichen muss man diesbezüglich reden, sondern auch mit Erwachsenen. Bis heute werden von Theolog*innen und Imamen Positionen, die aus dem 10. oder 13. Jahrhundert stammen, weiter reproduziert und als eine absolute theologische Wahrheit vermittelt. Dabei wird die gesamte Forschung im Bereich der Sexualwissenschaft, von der man profitieren kann, fast komplett ausgeblendet.

Lina Najmi:

Eine Frage begegnet uns in der Arbeit mit muslimischen Jugendlichen immer wieder: Wie hat‘s „der Islam“ mit Sex? Was würden Sie antworten?

Ali Ghandour:

Wichtig ist, den Jugendlichen aufzuzeigen, dass der sogenannte Islam nichts zum Thema Sex sagt, sondern die Theolog*innen und Rechtsgelehrten. Jugendlichen soll vermittelt werden, dass die muslimische Sexualethik pluralistisch ist. Das bedeutet, dass man nicht von einer homogenen muslimischen Sexualethik sprechen kann. Aus diesem Grund ist eine Sensibilisierung für die Pluralität in diesem Bereich zentral. Jugendliche sollen erfahren, dass Sex, Lust und Erotik Teile ihres Menschseins sind und dass die liebevolle Hingabe zu Gott ihrer Natur und ihren Bedürfnissen nicht widerspricht. Ich versuche, den Jugendlichen zu vermitteln, dass ihre Beziehung zu Gott nicht von dem abhängt, was andere Menschen denken oder für richtig halten. Jeder soll seine eigenen Glaubenssätze und Lebenseinstellung mit Überzeugung selbst wählen. Denn letztendlich geht es um die tiefe Überzeugung und nicht nur um die bloße Nachahmung, die manchmal destruktiv sein kann.

Lina Najmi:

Sie sind auf Instagram unterwegs, teilen Memes und produzieren Podcasts. Arbeiten Sie auf eine „Popkulturalisierung“ der Islamtheologie hin? Ein Islamtheologe 3.o?

Ali Ghandour:

Ich liebe Humor und ich glaube, dass die Memes oder kleine Videos ein gutes Medium sind, um kurze Botschaften zu vermitteln, die die Adressat*innen zum Nachdenken bringen können. Allgemein finde ich die Art, wie der muslimische Glaube heute vermittelt wird, total langweilig: lange Vorträge, kostenpflichtige Seminare, frontale Moscheeunterrichte oder Predigten. Solche Formate erreichen nicht die Instagram- und TikTok-Generation. Mit meinem bescheidenen Angebot will ich einfach mehr Entspannung im „Islam-Diskurs“ schaffen. Zu viel Ernsthaftigkeit ist auch ungesund.

Lina Najmi:

Eine letzte Frage. In einem Ihrer Interviews sagten Sie, dass Sie mit einem linken Vater aufgewachsen sind. Wenn ich mir Ihre Arbeit anschaue, frage ich mich, ob es so etwas wie (links-)progressive islamische Theologie gibt? Oder anders ausgedrückt: Wie politisch ist und darf islamische Theologie sein?

Ali Ghandour:

Die islamische Theologie ist seit ihrer Geburt im 8. Jahrhundert politisch gewesen. Aus einem einfachen Grund: Die Theologie ist ein Werk der Menschen, und der Mensch ist ein politisches Lebewesen. Es gibt keine menschliche Handlung oder Idee, die nicht politisch relevant ist bzw. sein kann. Wenn man sich über Normen, Ethik oder Werte wissenschaftlich im Rahmen der Theologie äußert, dann ist man automatisch in einem politischen Diskurs. Ich persönlich bezeichne mich nicht als links-progressiv, obwohl ich Positionen vertrete, die einem progressiven Spektrum zugeordnet werden können.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf der RISE-Webseite. Wir danken RISE und der Autorin für ihre Erlaubnis, den Beitrag hier wieder zu veröffentlichen.

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