„Free to Speak, Safe to Learn“ – Das Unterrichten kontroverser Themen als Extremismusprävention
24. September 2018 | Demokratie und Partizipation, Diversität und Diskriminierung, Radikalisierung und Prävention

Das Unterrichten kontroverser Themen unterstützt Jugendliche dabei, demokratische Werte zu entwickeln und eine Resilienz gegenüber extremistischem Gedankengut aufzubauen. Lehrkräfte sollten „aufgeladene“ Themen im Unterricht nicht vermeiden. In seinem Beitrag stellt Dr. Bernt Gebauer die Kampagne „Free to Speak, Safe to Learn – Democratic Schools for All“ des Europarates vor, die Pädagog_innen bei dieser Aufgabe unterstützt und konkrete Übungen vorstellt, mit denen das Unterrichten kontroverser Themen eingeübt werden kann.

Der schulische Alltag in ganz Europa ist geprägt von vielfältigen, oftmals als schwierig wahrgenommenen Auseinandersetzungen, Widersprüchen und Kontroversen. Sie finden sowohl auf politischer, zwischenmenschlicher als auch auf inhaltlicher bzw. curricularer Ebene statt. Aktuelle, gut dokumentierte Beispiele finden sich zum Beispiel im Dossier von ufuq.de:

Auch stärker curricular verankerte Kontroversen sind oftmals emotional aufgeladen, zum Beispiel:

  • Gibt es im Geschichtsunterricht nur „Unsere Geschichte“ oder gibt es auch „Meine Geschichte“? Ein Beispiel sind Debatten um umstrittene Geschichtsdeutungen, zum Beispiel zur Bedeutung der NS-Zeit oder auch der „Nakba“ der Palästinenser.

Erfahrungen aus den USA zeigen auf, wie gesellschaftliche und politische Spannungen bzw. Polarisierungen sich direkt und indirekt auf die Lernatmosphäre im Klassenzimmer auswirken. Diane Hess und Paula McAvoy sprechen in ihrer Studie „The Political Classroom“ davon, wie gegenseitiges politisches Misstrauen außerhalb der Schule zu mehr gegenseitigen Verdächtigungen innerhalb von Schule führt – mit der Folge, dass einige Lehrkräfte besonders „aufgeladene“ Themen im Unterricht komplett vermeiden, während andere Kontroversität an sich komplett ausschließen (vgl. Hess/McAvoy 2015: 8).

Gelungene pädagogische Arbeitsbeziehungen stellen eine immer größere Herausforderung dar. So bemerkt etwa Tina Hölzel, Leiterin des Zentrums für inklusive politische Bildung in Dresden:

„[Jugendliche] nehmen […] also nicht nur wahr, dass politische Diskussionen immer mehr durch emotionale bzw. erhitzte Wortgefechte geprägt sind und nur noch selten zu Kompromissen oder respektvoller Auseinandersetzung führen, sondern auch, dass sie ob dieser Vorbilder politischer Auseinandersetzung Angst haben, eine solche beziehungsgefährdende Situation bzw. einen solchen Prozess entlang bestimmter kontroverser Themen einzugehen, da scheinbar keine Auseinandersetzung möglich scheint, die die Bindung nicht gefährdet.“ (Vgl. das Interview in Stockhausen/Wohnig 2018: 51)

Die Vielfältigkeit unserer Gesellschaft bzw. unserer Gesellschaften wird in der Schule zunehmend spürbar – mit allen damit verbundenen Chancen und Herausforderungen. Wie nun kann ein pädagogischer, auf Demokratiestärkung ausgerichteter Umgang mit Kontroversität im Unterricht (und in der Schule insgesamt) für Lehrkräfte, pädagogische Fachkräfte und Schulleitungsmitglieder aussehen? Anders gefragt: Wie kann ich als Bildungsexpert_in an meiner Fähigkeit arbeiten, mit kontroversen Meinungen zu leben, sie auszuhalten und diese im schulischen Kontext friedlich herauszufordern?

„Free to speak, safe to learn“ – das Unterrichten kontroverser Themen im Kontext der Bildungsprogramme des Europarates

Das Unterrichten kontroverser Themen erfordert mehr als das souveräne Moderieren von Unterrichtsgesprächen. Es sollte – so der Ausgangspunkt dieses Beitrags – Jugendliche dabei unterstützen, demokratische Werte zu entwickeln und eine Resilienz gegenüber extremistischem Gedankengut aufzubauen. Da kontroverse Themen bei allen Beteiligten oftmals starke Gefühle auslösen, ergibt sich zugleich ein Bezug zur Extremismus- und Gewaltprävention. Für Pädagog_innen genauso wie für die Schüler_innen scheint eine klare Unterscheidung zwischen Respekt und Toleranz hilfreich. So kann das Leben mit Widersprüchen entwickelt werden – als Zielkompetenz bietet sich (vermutlich für alle) vor allem die Ambiguitätstoleranz an.

Ausgangspunkt ist dabei der Ansatz des Europarates, der bereits zwei aufeinander aufbauende Publikationen veröffentlicht hat, die über die Homepage des Europarates zu beziehen sind:

Den konzeptionellen Bezugsrahmen liefert der im Mai 2018 vom Europarat veröffentlichte Referenzrahmen „Kompetenzen für eine demokratische Kultur“ (KDK). Dieser beschreibt ein Modell der Kompetenzen, die Lernende erwerben sollen, wenn sie sich effektiv an der Kultur der Demokratie beteiligen und friedlich mit anderen in kulturell unterschiedlichen demokratischen Gesellschaften leben möchten. Seit April 2018 ist dieser Referenzrahmen in Verbindung mit erläuterndem und den Implementierungsprozess unterstützenden Zusatzmaterial als dreibändige Gesamtausgabe (pdf 0,3 MB) beim Europarat erhältlich. Band 1 stellt den Entstehungskontext sowie das Kompetenzmodell ausführlich vor, Band 2 beschreibt die dazugehörigen Deskriptoren und erläutert den Umgang mit ihnen, Band 3 bietet umfassende Unterstützung bei den entsprechenden Implementierungsprozessen.

Die Studie von Francesco Ragazzi von 2017 „Students as Suspects? The challenges of counter-radicalisation policies in education in the Council of Europe member states“ untersucht weiterhin kritisch die demokratische Qualität von Deradikalisierungsprogrammen in den Mitgliedsstaaten des Europarates.

Die Ende 2018 beginnende, auf drei Jahre angelegte Kampagne „Free to Speak, Safe to Learn“ soll zur europaweiten Implementierung dieses Referenzrahmens beitragen. Zielsetzung ist, Schulen angesichts aktueller Radikalisierungs- und Ideologisierungstendenzen zu Orten der mündigen Diskussion über kontroverse Themen zu machen; hierbei bestehen starke Bezüge zur Demokratiebildung, deren Aufgabe es sein muss, im Rahmen der grundständigen Ausbildung aller künftigen Pädagog_innen die Fähigkeit zur Thematisierung von Demokratiethemen als Lerninhalt für unterschiedliche Zielgruppen und Kontexte aufarbeiten und vermitteln zu können.

Der Referenzrahmen „Kompetenzen für eine demokratische Kultur“ als konzeptionelle Unterstützung für Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte

Die Zielgruppen des Referenzrahmens umfassen alle im Bildungs- und Erziehungsbereich tätigen Menschen, den Vorschulbereich ebenso wie Hochschulen oder die Erwachsenenbildung.

Der Referenzrahmen

  • bietet eine detaillierte Beschreibung von 20 Demokratiekompetenzen (siehe Abbildung),
  • bietet mit den dazugehörigen Deskriptoren eine sehr ausdifferenzierte Operationalisierung dieser Kompetenzen,
  • und somit einen Ansatz, um deren Unterrichten, Lernen und Beurteilen systematisch planen und durchführen zu können,
  • umfasst gesellschaftliche Aufgaben wie unter anderem Demokratie- und Menschenrechtserziehung (EDC/HRE), Politische Bildung, Bildung zur Nachhaltigkeit, Friedenspädagogik, Gewalt- und Radikalisierungsprävention und sieht Interkulturelles Lernen als Grundlage für erfolgreiche Bildungsprozesse im Bereich einer demokratischen Kultur.

 

20 Demokratiekompetenzen

Quelle: Council of Europe (2016): Kompetenzen für eine demokratische Kultur. Gleichberechtigtes Zusammenleben in kulturell unterschiedlichen, demokratischen Gesellschaften. Kurze Zusammenfassung: 7

 

Der Referenzrahmen kann als Update-Möglichkeit im Allgemeinen und Konkreten verstanden werden. Zum einen für die Lehrer, um sich an veränderte Gegebenheiten anzupassen – die Demokratie ist auch in Gefahr geraten, weil sie so selbstverständlich geworden ist und so in ihrer Bedeutung aus dem Blickfeld entweicht. Die 20 Kernkompetenzen und die Deskriptoren dienen demnach als Referenzinstrument, um kritisch auf das eigene Lehrer_innenhandeln und auf den Unterricht zu schauen. Handele ich nach demokratischen Grundsätzen, veranlasse ich, so zu handeln, übe ich Kompetenzen einer demokratischen Kultur ein? Genügt mein Unterricht diesen Ansprüchen?

Zum anderen sollte aber auch die Entwicklung der eigenen Schulkultur überprüft und ggf. eine Fortentwicklung anhand der Kompetenzbereiche des KDK angeregt werden. Oftmals wird vor Ort sehr viel für die demokratische Kultur getan, nur eben unbewusst – hier fehlt schlicht das (einheitliche) Wording. Um ein Bewusstsein und die Kompetenzentwicklung der Schülerinnen und Schülern für die eigene demokratische Kultur zu schaffen und Möglichkeiten der Weiterentwicklung zu erkennen, braucht es das Sprechen darüber – mit geeigneten Begriffen. Die nötige Begriffswelt steuert der Referenzrahmen bei.

Die Begleitdokumente (siehe Literatur) bieten detaillierte Hilfestellung, wie dieses Kompetenzmodell und die dazugehörigen Deskriptoren in Bildungssystemen implementiert und genutzt werden können. Insbesondere der Aspekt einer ganzheitlichen, demokratiebezogenen Schulentwicklung wird intensiv mitgedacht.

Einstiegsmöglichkeiten

Das vom Europarat herausgegebene Material Leben mit Widersprüchen. Das Unterrichten kontroverser Themen im Rahmen der Politischen Bildung und der Menschenrechtsbildung (EDC/HRE, pdf 2,3 MB) bietet sich – in Kombination mit weiteren, ausgewählten Publikationen zum Beispiel von Ahmad Mansour, Kurt Edler oder Christa Kaletsch – für die weitere Befassung mit dieser Thematik als Einstiegsmöglichkeit an:

„[Die Trainingsmaterialien] sollen Lehrkräften helfen, den Wert zu erkennen, junge Menschen in kontroverse Themen einzubeziehen, und das Selbstvertrauen und die Kompetenzen erwerben, um diese zu einem Bestandteil ihres Alltags zu machen, insbesondere durch die Schaffung eines „sicheren Umfelds“ in den Klassenzimmern, in denen SchülerInnen Themen, die sie interessieren, ungezwungen und frei von Angst behandeln können – und den Einsatz von Lehrmethoden und -techniken, die einen offenen und respektvollen Dialog fördern.“ (Europarat 2015: 9)

Sie konkretisieren exemplarisch folgende grundsätzliche Fragen:

  • Wie genau soll ich auf widersprüchliche Wahrnehmungen und Meinungen der Schüler_innen reagieren?
  • Soll ich Partei ergreifen? Wie? Wann?
  • Wie kann ich die Empfindlichkeiten einzelner Schüler_innen schützen?
  • Wie kann ich eine offene und freie Diskussion ermöglichen?
  • Wie kann ich die Kinder- und Menschenrechte als Bezugsrahmen stärken?
  • Wie kann ich die Schüler_innen ermutigen, sich die Meinungen der anderen anzuhören?
  • Wie kann ich mit fehlendem detaillierten gesellschaftlichen oder politischen Hintergrundwissen oder einem Mangel an vertrauenswürdigen Informationsquellen umgehen, ohne mich angreifbar zu machen?
  • Welche Unterrichtsmethoden bieten sich an?
  • Wie können bzw. müssten Schulleitungen diese Arbeit unterstützen?
  • Traue ich mir das überhaupt zu?

Der zentrale demokratische Wert der Freiheit (Rede-, Meinungs- und Gedankenfreiheit) wird dort in einen unmittelbaren Zusammenhang mit den dafür nötigen sicheren Lernvoraussetzungen gebracht:

„Zu lernen, wie man mit Menschen, deren Werte sich von den eigenen unterscheiden, in einen respektvollen Dialog tritt, ist ausschlaggebend für den demokratischen Prozess und unverzichtbar für den Schutz und die Stärkung der Demokratie und die Förderung einer Kultur der Menschenrechte.“ (Europarat 2015: 8)

Schülerinnen und Schüler können dabei lernen, in einen freien Gedankenaustausch zu kommen, gegensätzliche Meinungen auszuhalten, Perspektivwechsel zu vollziehen und Konflikte sprachlich zu lösen. Lehrkräfte sollten, so auch die Beobachtung von Ahmad Mansour, die individuelle Begegnung mit Jugendlichen suchen und auch Zeit zum Zuhören haben. Zentral ist auch, dass Argumente ohne Angst vor Sanktionen vorgebracht werden können – in gegenseitigem Respekt. So ermöglicht es zum Beispiel die Methode des „Gedankenexperiments“ dem Lehrenden, Alltagsrivalitäten aus einer unterrichtlichen Betrachtung auszuklammern. Schüler können sich in die Lage versetzen, spielerisch „zu tun als ob“ und damit neue Denkansätze erst einmal überhaupt zuzulassen.

Ahmad Mansour schlägt als weitere Methode den Einsatz von inhaltlichen Debatten vor, um „bei Lernenden die Fähigkeit zum autonomen Denken“ zu stärken (Mansour 2016: 260-61). Ansgar Kemmann weist mit der Freiheit zum Dissens auf eine weitere Stärke dieser Methode hin:

„Tatsächlich geht es in Debatten auch darum, festzustellen, in welchen Punkten Einigkeit besteht. Die Einigung als Ziel jedoch gehört zu einer anderen Form von Gespräch, nämlich zur Form der Verhandlung. Ziel der Debatte ist genau das Gegenteil: herauszustellen, wo die Einigung zwischen den Positionen endet und Differenz, ja Dissens besteht. Demokratiepädagogisch (Fußnote) ist dieser Aspekt von größter Bedeutung. Denn nur, wo man zur Zustimmung nicht verpflichtet ist, wo man auch nach eingehender Erörterung noch Nein sagen darf, herrscht politische Freiheit. Nur hier ist die Minderheit geschützt.“ (Kemmann 2018: 99)

Gleichzeitig bietet die Methode des Debattierens aufgrund ihrer starken Strukturierung einen Handlungsrahmen, in dem sich die Schüler_innen freier bewegen dürfen und können. Unverzichtbare Grundlage einer funktionierenden Debattierkultur ist aber eine sichere Lernumgebung, also sichere Gesprächsräume, in denen Jugendliche Themen, die sie interessieren, ungezwungen und angstfrei behandeln können. Laut Definition des Europarates hilft ein solches Umfeld „den Schüler/innen beim Umgang mit Differenzen, baut Spannungen ab und fördert gewaltfreie Methoden der Konfliktlösung. Es fördert die Selbstreflexion, die Fähigkeit, anderen zuzuhören, und den interkulturellen Dialog. Es gibt Minderheiten eine Stimme, baut gegenseitige Toleranz und gegenseitigen Respekt auf und begünstigt einen kritischeren Ansatz gegenüber Informationen, die aus den Medien bezogen werden.“ (Europarat 2015: 12)

„Free to Speak, Safe to Learn“ – Hinweise zur demokratiepädagogischen Lehrer_innen(aus)bildung

Kurt Edler fordert für Lehrkräfte die sogenannte Grundrechtsklarheit:

„Lehrkräfte und Erziehungspersonen, die einem jungen Menschen gegenüberstehen, der die Grundlagen der Demokratie in Zweifel zieht, müssen eine persönliche Überzeugungskraft unter Beweis stellen. Das ist weitaus mehr als die Fähigkeit zur Diskussion. Es geht vielmehr um ihre Identifikation mit dem demokratischen Verfassungsstaat und mit der Demokratie als Lebensform […] – und um das Talent, diese plausibel zu vertreten.“ (Edler 2015: 57)

Ein gelungenes Zusammenspiel von Wissen-, Haltungsebene sowie rhetorischen Fähigkeiten setzt die damit eng verknüpfte Präventionskompetenz voraus:

„Vom demokratischen Verfassungsstaat und der aufgeklärten Republik habe ich ein persönliches Konzept, kenne Programm und Strategie des Islamismus, bin rhetorisch trainiert und kann cool bleiben, so dass ich auch in zugespitzten Situationen genug pädagogische Rollendistanz wahren kann, um meine Schüler nicht als politische Gegner zu betrachten oder zu behandeln.“ (Edler 2015: 58)

Auch Ahmad Mansour betont Empathie, Respekt und Ambiguitätstoleranz als zentrale Kompetenz der Lehrenden:

„Erlebt ein Jugendlicher Interesse und Empathie, kann er mit der […] Meinung und Position [der Lehrkraft] freier umgehen. […] Um Interesse zu beweisen, muss man fähig sein, erst einmal auszuhalten, was manche Schüler an krausen Ideen vorbringen, demokratiefeindliche, verschwörungstheoretische, menschenverachtende Aussagen. Das zunächst in Ruhe anzuhören ist Grundvoraussetzung für einen Dialog, der die Jugendlichen in einem Prozess von ihren problematischen Meinungen abbringen kann.“ (Mansour 2016: 218)

Eine ausgeprägte Gesprächsfähigkeit in Verbindung mit der Kenntnis von extremistischen Narrativen und dem Wissen über und kritisches Verstehen der eigenen Person, so lässt sich Ahmad Mansour verstehen, ermöglicht es Lehrkräften, Schülerinnen und Schüler zur Selbstreflexion anzuleiten: „Sie an erster Stelle bewahrt vor Radikalisierung – Reflexionsfähigkeit ist das Elixier jeder demokratischen Gesellschaft.“ (Mansour 2016)

Der Ansatz von Christa Kaletsch und Stefan Rech verweist auf die Universalität der Menschenrechte als inhaltlichen Bezugsrahmen, um mit radikalen Positionen (auch methodisch) besser umgehen zu können: „Eine menschenrechtsbasierte Betrachtung trägt zu einer Versachlichung der Auseinandersetzung bei und hilft, eine weitere Reproduktion menschenverachtender, verletzender Aussagen zu verhindern.“ (Kaletsch 2016: 22) Neben dem Wissen über zum Beispiel Kinder- und Menschenrechte setzt dies auch bei Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften eine Selbstreflexion dieser als eigene Werte bzw. deren Wertschätzung voraus. Für eine methodische Umsetzung bieten sich beispielsweise das „Courage-Spiel“ oder der „Dilemma Dialog“ an (Kaletsch 2016; Kaletsch/Rech 2015: 190-200 sowie 143-148).

„Free to Speak, Safe to Learn“ – Unterstützende Methoden und Übungen für die Lehrer_innen(aus)bildung

Im Folgenden werden aus dem 2016 vom Europarat herausgegebenen Band „Leben mit Widersprüchen. Das Unterrichten kontroverser Themen im Rahmen der Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung (EDC/HRE)“ exemplarische Übungen vorgestellt, die erprobt, weiter entwickelt und angepasst werden können.

Die Übung „Einführung in kontroverse Themen“ (Europarat 2015: 33-34) hat die „Vorstellung des Konzepts kontroverser Themen und Besprechung der Argumente für das Unterrichten kontroverser Themen“ zum Ziel. Der Ausgangspunkt ist: „Kontroverse Themen sind per se äußerst bedeutsame Themen in einer Gesellschaft – das Lernen über diese Themen sollte Teil der sozialen und Politischen Bildung eines jeden jungen Menschen sein.“ (Europarat 2015: 35) Als eines der Hauptargumente, dass Lehrkräfte in ganz Europa sich dieser Thematik befassen sollten, wird zum Beispiel aufgeführt: „Das Debattieren kontroverser Themen ist Teil des demokratischen Prozesses – es hilft jungen Menschen, einige der wesentlichen Kompetenzen der demokratischen Bürgerschaft zu entwickeln, unter anderem Offenheit, Neugier, Bereitschaft andere zu verstehen, Toleranz und […] friedliche Konfliktlösung.“ (Europarat 2015: 35)

Um sich vermehrt zuzutrauen, auch emotional aufgeladene Themen im Klassenzimmer anzugehen, bietet sich als Übung der „Musical Chair“ an (Europarat 2015: 37-38): Das Ziel dieser Übung ist die „Untersuchung der emotionalen Dimension kontroverser Themen und deren möglicher Auswirkungen auf die Atmosphäre im Klassenraum und auf die Unterrichtsführung“. Die Teilnehmer_innen werden in einem Zufallsverfahren dazu aufgefordert, gegenüber einem_r anderen Teilnehmer_in ihre persönliche Meinung zu einer emotionalen, schulrelevanten kontroversen Problematik zu äußern.

Die besondere Relevanz dieser Übung wird in folgender Beschreibung deutlich: „Wenn man in der Öffentlichkeit kontroverse Themen diskutiert, können Gefühle hochkochen. Je eindeutiger wir uns in Bezug auf ein Thema positionieren, desto wahrscheinlicher sehen wir unsere Meinung als einen wesentlichen Teil unseres Selbstverständnisses als Menschen. Aus diesem Grund neigen wir dazu, Angriffe auf unsere Ideen und Argumente als Angriff auf uns als Person zu betrachten und wir fühlen uns ängstlich oder es ist uns peinlich, unsere Meinungen vor Menschen zu äußern, die wir nicht kennen oder denen wir nicht vertrauen. [Diese Übung] dient auch als Aufwärmübung, die den Teilnehmer_innen ermöglichen soll, sich gegenseitig kennenzulernen.“ (Europarat 2015: 37)

Aufschlussreich sind weiterhin die Tipps, die für die Durchführung dieser Übung gegeben werden:

„Einige Teilnehmer_innen könnten Bedenken haben, öffentlich ihre privaten Meinungen zu äußern. (Das ist tatsächlich die eigentliche Lektion.) Sagen Sie Ihnen, dass dies die einzige Übung ist, in der sie darum gebeten werden. Sie werden jeweils nur mit einer Person sprechen und sie werden nicht im Hinblick auf die von ihnen geäußerten Meinungen beurteilt. Erklären Sie ihnen, dass es wichtig ist, sie in diese Situation zu bringen, damit sie die Gefühle, die wahrscheinlich im Schulunterricht beim Diskutieren kontroverser Themen auftreten werden, verstehen und lernen, damit umzugehen.“ (Europarat 2015: 38)

Die Übung „Gepäckkontrolle“ (Europarat 2015: 44-46) bietet Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften die Möglichkeit zu untersuchen, „auf welche Weise die Überzeugungen und Werte von Lehrkräften ihre Einstellungen im Hinblick auf kontroverse Themen beeinflussen. [Sie beinhaltet die] Aufforderung an die TeilnehmerInnen, die Auswirkungen ihrer Überzeugungen und Werte zu reflektieren.“

Die Übung „Auf welcher Seite stehen Sie?“ (Europarat 2015: 48-52) berücksichtigt die Tatsache, dass Lehrkräfte, wie alle anderen Menschen auch, das Recht auf eine eigene Meinung haben (sollten). Im Rahmen einer pädagogischen Tätigkeit ist es jedoch wichtig, genauer hinzuschauen, da das Recht auf Meinungsfreiheit „nicht automatisch [bedeutet], dass Sie diese im Unterricht mitteilen sollten, oder gar, dass Sie die Schüler_innen bevorzugen sollten, die Ihre Meinung teilen“. (Europarat 2015: 48) Das Ziel der Übung ist die „Untersuchung der Vor- und Nachteile unterschiedlicher pädagogischer Ansätze um mit vielfältigen Meinungen im Klassenraum umzugehen.“

Diese Positionen reichen unter anderem von einer Selbstpositionierung („Die Lehrkraft gibt ihre Meinung während der Diskussion bekannt“), einer neutralen Position („Hierbei nimmt die Lehrkraft die Rolle eines [sic] neutralen Vorsitzes in der Diskussionsgruppe ein“) oder auch einem Vertreten der offiziellen Linie („Hierbei präsentiert die Lehrkraft die Meinung, die von den staatlichen Stellen vorgegeben ist“) und werden in ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen ausführlich vorgestellt. Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften kann durch diese Übung aufgezeigt werden, welche Positionierungen in welcher konkreten Lernsituation sinnvoll eingesetzt werden können.

Im „Perspektivenwechsel“ (Europarat 2015: 53-54) können die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Möglichkeiten untersuchen, „die persönlichen Empfindungen der Schüler_innen durch eine „Entpersonalisierung“ der Sprache, mit der Themen diskutiert werden, zu schützen.“ Die Übung „Die Schule am Waldrand“ (Europarat 2015: 55-57) stellt in diesem Zusammenhang das „Unterrichten kontroverser Themen durch Geschichten“ vor.

Im „Welt Café“ (Europarat 2015: 61-62) können Pädagog_innen untersuchen, „wie die ‚gemeinschaftliche Konfliktlösung‘ erlaubt, kontroverse Themen ausgewogen und fair im Unterricht und in der Schule zu behandeln, wenn nur wenige Hintergrundinformationen zur Verfügung stehen“. (Europarat 2015: 61) Der Umgang mit fehlendem Fachwissen stellt je nach Themenbezug eine besondere Herausforderung für die Vorbereitung solcher Lernsettings bzw. die spontane Reaktion auf entsprechende Schüler_innenäußerungen dar.

Die Perspektiverweiterung durch „Managing Controversy“

Für Lehrkräfte oder pädagogische Fachkräfte bzw. Schulleitungsmitglieder, die am Entwickeln einer Schulkultur interessiert sind, die den demokratischen Umgang mit Kontroversen fördert (Council of Europe 2017), bietet sich die Handreichung „Managing Controversy“ an. Der Umgang mit Kontroversität wird dort als Aufgabe und Verantwortung der ganzen Schule aufgezeigt, während gleichzeitig gefragt wird, welche Handlungsoptionen es für Schulleitungsmitglieder und andere Bildungsverantwortliche mit Blick auf den guten Umgang mit kontroversen Themen gibt. (vgl. Council of Europe 2017: 13)

Die Studie ist ein Plädoyer dafür, den Umgang mit Kontroversität systemischer zu denken, indem zum Beispiel Bezüge zwischen Lehrplänen und aktuellen, die ganze Schule betreffenden Themen hergestellt werden. Dialog, Diskussion und Debatte sind nicht nur Teil des akademischen Lernens, sondern können auch genutzt werden, um die demokratische Schulkultur zu stärken (vgl. Council of Europe 2017: 11):

„Im Hinblick auf die Schulleitung und -verwaltung treten politische Fragen auf; zum Beispiel wie man Lehrkräfte beim Unterrichten kontroverser Themen unterstützen kann, wie man zusätzliche Gelegenheiten für einen Dialog mit der Schulgemeinschaft schafft, beispielsweise über demokratische Formen der Schulleitung (Governance), wie man ein positives Schulethos fördert, wie man die allgemeine Qualität der Betreuung garantiert und wie man mit den Ängsten der Eltern und anderer Personen außerhalb der Schule umgeht.“ (Europarat 2015: 9)

Fazit und Ausblick

„Das Unterrichten kontroverser Themen“ setzt bei Lehrkräften ein Zusammenspiel von demokratierelevanten Werten, Einstellungen, Fähigkeiten und Wissen voraus. Der Referenzrahmen hilft dabei, in der demokratiepädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen genauer hinzuschauen, welche Werte (zum Beispiel Wertschätzung der Menschenwürde und der Menschenrechte), Einstellungen (zum Beispiel Respekt oder Offenheit gegenüber dem kulturellen Anderssein), Fähigkeiten (zum Beispiel Empathie oder Fähigkeit, zuzuhören und Dinge wahrzunehmen) und Wissensebenen (zum Beispiel kritisches Selbstverständnis) dafür relevant sein können.

Die Konkretisierung der demokratischen Kompetenzen durch „Deskriptoren“ kann als weitere Diagnosehilfe dienen und somit die Demokratiekompetenzen bzw. Präventionskompetenzen erweitern:

  • Werte, zum Beispiel eine Lehrkraft/ein_e Sozialarbeiter_in/ein_e Schüler_in argumentiert, dass Menschenrechte grundsätzlich immer geschützt und respektiert werden sollten
  • Einstellungen, zum Beispiel Lehrkraft/ein_e Sozialarbeiter_in/ein_e Schüler_in gibt anderen Raum, sich zu artikulieren, sich auszudrücken
  • Fähigkeiten, zum Beispiel eine Lehrkraft/ein_e Sozialarbeiter_in/ein_e Schüler_in nimmt nicht nur wahr, was gesagt wird, sondern auch, wie es gesagt wird
  • Wissen und kritisches Denken, zum Beispiel eine Lehrkraft/ein_e Sozialarbeiter_in/ein_e Schüler_in kann ihre/seine Sicht auf die Welt kritisch reflektieren.

Die entsprechende Haltung von Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften spielt vermutlich die entscheidende Rolle: Um in Schule Radikalisierung und Extremismus von Kindern und Jugendlichen entgegenzuwirken, sollten alle Kinder und Jugendlichen als durch Wertschätzung und Anerkennung zu stärkende Individuen wahrgenommen werden. Ein kleiner Anteil von möglicherweise gefährdeten Kindern und Jugendlichen sollte unter antizipativen Aspekten besonders in den Blick genommen werden. Nur bei sehr wenigen Kindern und Jugendlichen muss dann tatsächlich interveniert werden.

Der im Herbst 2018 startende Schulwettbewerb des Europarats: „Free to Speak, Safe to Learn – Democratic Schools for All“ bietet für interessierte Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte die Gelegenheit, sich (weiter) intensiv und reflektiert mit dem „Unterrichten kontroverser Themen“ und den gesamtschulischen Bedingungen seines Gelingens auseinanderzusetzen. Detaillierte Informationen zu weiteren Themenschwerpunkten der Kampagne sowie den Teilnahmebedingungen für interessierte Schulen werden im November 2018 auf der Homepage des Europarates veröffentlicht.

Anmerkung: Der Autor dankt Ken Tetzlaff aus Thüringen (stellvertretender KMK-Koordinator im Education Policy Advisors` Network (EPAN)) für die kritische Lektüre und die Co-Autorschaft des Kapitels über den Referenzrahmen.


Literatur

Beutel, Wolfgang/Himmelmann, Gerhard (2014): Demokratie, Schule und Unterricht. In: Demokratiepädagogik (Sonderheft Wochenschau), Schwalbach/Ts.

Council of Europe (2017): Managing Controversy. Developing a strategy for handling controversy and teaching controversial issues in schools, Strasbourg.

Edler, Kurt (2015): Islamismus als pädagogische Herausforderung, Stuttgart.

Europarat (2015): Leben mit Widersprüchen. Das Unterrichten kontroverser Themen im Rahmen der Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung (EDC/HRE), Straßburg/Wien.

Hess, Diana/McAvoy, Paula (2015): The political classroom. Evidence and Ethics in Modern Education. Boston.

Kaletsch, Christa (2016): Radikale Positionen irritieren. Anregungen zur Auseinandersetzung im heterogenen Klassenzimmer, in: Gemeinsam Lernen. Zeitschrift für Schule, Pädagogik und Gesellschaft, 4/2016, S. 20-24.

Kaletsch, Christa und Stefan Rech (2015): Heterogenität im Klassenzimmer. Methoden, Beispiele und Übungen zur Menschenrechtsbildung, Schwalbach/Ts.

Kemmann, Ansgar (2018): Argumentieren und Abwägen als demokratische Basiskompetenz – Der Wettbewerb „Jugend debattiert“, in: Beutel, Wolfgang und Sven Tetzlaff (Hrsg.), Handbuch Schülerwettbewerbe zur Demokratiebildung, S. 93-102.

Mansour, Ahmad (2016): Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen, Frankfurt/Main.

Ragazzi, Francesco (2017): Students as Suspects. The challenges of counter-radicalisation policies in education in the Council of Europe member states. Strasbourg.

Stockhausen, Jette und Alexander Wohnig (2018): Politische Bildung in einer polarisierten Gesellschaft: Gedanken über die Bedeutung und den Umgang mit Emotionen in der politischen Bildung. Interview mit Tina Hölzel, Leiterin des Zentrums für inklusive politische Bildung (ZibP), in: Journal für Politische Bildung, 2/2018, S. 50-53.

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