Frauen in ultranationalistischen türkischen Szenen: Interview mit Lena Wiese über Ideologie und Rollenbilder der Grauen Wölfe
2. Mai 2018 | Gender und Sexualität, Radikalisierung und Prävention, Religion und Religiosität

In Anbetracht der aktuellen Konflikte rund um die türkische Militäroffensive in Afrin geraten auch rechtsextreme türkische Organisationen und ihre Rolle in diesen Auseinandersetzungen wieder ins Blickfeld. Die Grauen Wölfe („Ülkücüler“) sind die größte rechtsextreme Gruppierung unter den zugewanderten Communities in Deutschland. Unter ihren etwa 18.500 Anhänger_innen finden sich auch viele Frauen. Wir haben mit Lena Wiese über Ideologie und Rollenbilder der Grauen Wölfe und speziell über die Rolle von Frauen gesprochen.

Rechtsextremismus galt lange als ein männliches Phänomen. Erst seit einigen Jahren richtet sich das Augenmerk auch auf Frauen und – allgemeiner – Gender und Geschlechterrollen in diesen Szenen. Wurde die Rolle von Frauen bei den Grauen Wölfen bislang vernachlässigt?

Diese Unsichtbarkeit von extrem rechten Frauen, die Sie skizzieren, ist vorhanden, und trifft auf Frauen in der türkischen extrem rechten Szene noch einmal verstärkt zu. Bisher lagen tatsächlich noch keine Studien zu dem Thema vor. Die Geschichte der Grauen Wölfe in der Türkei und in Deutschland ist dabei durchweg männlich dominiert. Frauen kommen als Akteurinnen in der Politik, bis auf seltene Ausnahmen wie z.B. Meral Akşener, nicht vor bzw. werden in der Literatur nicht rezipiert oder strukturell ausgeblendet.

Deshalb habe ich mit sechs Frauen qualitative Interviews geführt, die in unterschiedlichen Vereinen aus dem Umfeld der Grauen Wölfen aktiv sind. Mein Ziel war es, die Rollen und die Selbstpositionierungen der Frauen sichtbar zu machen und damit einen ersten Überblick über die Handlungsräume und ideologischen Überzeugungen ultranationalistischer Frauen zu geben.

Sie haben das Selbstverständnis von Frauen aus dem Umfeld der Grauen Wölfe untersucht. Wie beschreiben diese Frauen ihre Rolle in den Verbänden?

Zunächst gilt für alle der von mir interviewten Frauen, dass sie sich als wichtige Akteurinnen bei den Grauen Wölfe bzw. bei deren Verbänden in Deutschland wahrnehmen. Sie sind jedoch keineswegs als homogene Einheit zu betrachten, sondern haben durch ihre jeweilige Sozialisation und persönlichen Ressourcen verschiedene Schwerpunkte in ihren politischen Selbstpositionierungen und den Formen ihres politischen Handelns entwickelt.

Als weitere Gemeinsamkeit lässt sich festhalten, dass alle Interviewpartnerinnen sich selbst als starke Frauen charakterisieren und dass sie ihre politischen Überzeugungen sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum, online sowie offline selbstbewusst vertreten. Die jeweiligen Anlässe für das politische Handeln ähneln sich dabei und sind sehr emotional, meist durch Wut und Hass, motiviert. Dazu zählt z.B. die Resolution über den Genozid an den Armenier*innen, der „Putschversuch“ oder die Wahlen in der Türkei aber auch schlicht der Wunsch, sein eigenes Weltbild im persönlichen Umfeld zu verbreiten.

Sehen die Frauen sich eigentlich als gleichberechtigt in den Vereinen?

Ja, die meisten der Frauen sehen sich durchaus als gleichberechtigt. Je mehr Handlungsmacht die Frauen in den Vereinen haben bzw. je länger sie aktiv sind, desto kritischer sehen sie jedoch die starren Geschlechterrollen und Hierarchien, mit denen sie dort konfrontiert werden. Solange dieser kritische Punkt aber nicht überschritten wird, setzen sich die Frauen in ihrer Freizeit gerne und mit vollem Einsatz in den Vereinen ein. Wie bereits angesprochen, unterscheiden sich die Formen der Aktivitäten der Frauen vor allem in Bezug auf die faktische Übernahme von Verantwortung, Einflussnahme und Selbstbestimmung. So lassen sich a) Formen von Reproduktionsarbeit wie z.B. die Verpflegung bei Veranstaltungen, b) die Übernahme von partieller Verantwortung wie z.B. Öffentlichkeitsarbeit, c) eine größere Verantwortung wie z.B. die Leitung von Mädchengruppen sowie d) die tatsächliche aber äußerst seltene Gleichstellung durch die Übernahme von Funktionärsrollen unterscheiden.

In den letzten Jahrzehnten lässt sich auf jeden Fall ein langsamer Wandel der Rolle der Frau hin zu mehr Sichtbarkeit und Übernahme von Verantwortung in den Vereinen feststellen. So sind es aktuell vor allem die Frauen, die den (weiblichen) Nachwuchs in den Jugendgruppen rekrutieren und Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Dabei spielt das Geschlecht als Mittel der Politisierung eine wichtige Rolle. Aber auch der Reiz, Teil einer (trans)nationalen Bewegung oder zumindest einer Popkultur zu sein, ist nicht zu unterschätzen.

Obwohl sich die ultranationalistischen Vereine nur oberflächlich an die Bedürfnisse der jungen Frauen nach Mitsprache und Gestaltung anpassen, schaffen diese sich dennoch einen Raum, in dem sie agieren, sich ausprobieren und Anerkennung erfahren können. Umrahmt ist dieses Setting von recht starren Geschlechterrollen, die die Möglichkeitshorizonte der Frauen einschränken, sie aber nicht zwangsläufig zu »Opfern« ihrer Verhältnisse machen.

In Ihrer Studie betonen Sie die Selbstaufwertung, die Frauen im Ultranationalismus erleben. Sie sehen die Frauen nicht als Opfer, sondern als Subjekte und Handelnde.

Das Festhalten an konservativen, kollektiven und hierarchischen Phantasmen kann als eine Reaktion auf erlebte Verunsicherungen, Orientierungslosigkeit oder Diskriminierungserfahrungen in der Migrationsgesellschaft interpretiert werden. Als alleinige Erklärung scheint mir dieser Ansatz aber zu kurz zu greifen, denn die genannten Erfahrungen führen ja nicht zwangsläufig zu ultranationalistischen Selbstpositionierungen.

Mit der Zuwendung zu ultranationalistischen Ideologien artikuliert sich vielmehr der Wunsch nach Macht und Stärke. Dies ist wiederum kein Phänomen, das sich auf Menschen mit Diskriminierungs- und Entfremdungserfahrungen reduziert. Es ist in diesem Fall genuiner Ausdruck des türkischen Ultranationalismus und der Konstruktion der nationalen Identität, die grundsätzlich mit einer Selbstaufwertung einhergeht. Diese Selbstaufwertung äußert sich in Deutschland u.a. durch die Selbstwahrnehmung als gesellschaftliche »Elite« und dem Phänomen einer »geschlossenen Gemeinschaft«, gerade um sich selbst auch gegenüber »anderen Türken« aufzuwerten.

Welche Motive nennen die Frauen für ihr politisches Handeln und was macht für sie die Attraktivität dieser Ideologie aus?

Die meisten der von mir interviewten Frauen gaben an, dass bereits ihre Familien und insbesondere ihre Väter oder Onkel bei den Grauen Wölfen politisch aktiv waren. Und häufig ist diese familiäre Prägung auch die Ursache für den Erstkontakt der Frauen mit ultranationalistischen Ideologien. Die Familie ist dabei die Instanz, in der die patriarchalen und autoritären Strukturen vor allem durch die Erziehungsarbeit der Mütter reproduziert und verhandelt werden. Dadurch sind Frauen nicht nur Opfer dieser Verhältnisse, sondern sie reproduzieren und stabilisieren die Hierarchisierung der Geschlechter durch die Weitergabe der konservativen, ultranationalistischen Werte. Die Machtverhältnisse werden so über die Generationen weitergegeben und finden ihre Entsprechung in der ultranationalistischen Ideologie. Für die interviewten Frauen war es jedoch wichtig zu betonen, dass sie sich aus eigenem Interesse oder aufgrund ihrer charakterlichen Neigung politisch betätigen.

Die zwar heterogenen, aber letztlich patriarchalen Familienstrukturen und frühkindlichen Prägungen sind für die Affirmation zu ultranationalistischen und autoritären Ideologien also nicht unerheblich. Die freiwillige Unterwerfung unter Personen, Kollektive oder Ideale und somit auch eine grundsätzliche Akzeptanz von Autorität und Unterordnung wird in den verschiedenen Sozialisationsinstanzen vermittelt. Auch wenn die Frauen nicht zwangsläufig den ultranationalistischen Ideologien ihrer Familien folgen müssen, bietet der Autoritarismus sowohl Frauen als auch Männern Zustimmung und Anerkennung in rechtsextremen Gruppen.

Sehen Sie Gemeinsamkeiten zwischen türkischem Ultranationalismus und deutschem Rechtsextremismus?

In seiner Grundstruktur entspricht der türkische Ultranationalismus dem »deutschen Rechtsextremismus«. Die Ideologie der rechtsextrem-nationalistischen MHP und damit auch der Grauen Wölfe stützt sich auf einen idealistischen Nationalismus, antidemokratische Grundhaltungen, Autorität, Gehorsam und Unterordnung, wie sie auch bei deutschen Rechtsextremist*innen zu finden sind.

Auch die ultranationalistische Ideologie in der Türkei ist historisch durch einen ausufernden, fast hysterischen Verfolgungswahn gekennzeichnet, der sich u.a. darin äußert, dass sich die Türkei stets von »Feinden« umzingelt sieht. Dies äußert sich letztlich in Formen des Antikommunismus, Antisemitismus, Antiamerikanismus und dem Verständnis von einem EU-Beitritt als einen »Ausverkauf nationaler Interessen«. Weitere ideologische Grundsätze der ultranationalistischen Bewegungen sind die unhinterfragte Liebe zur türkischen Nation und Flagge, die Bereitschaft zur Selbstaufopferung, die Pflege eines diffusen Gründungsmythos und Abstammungsnarrativs. Aber auch der Traum von einem Großreich »Turan«, die Hochhaltung des Führerprinzips und des absoluten Gehorsams sind Kernelemente der Ideologie.

Die ideologischen Überschneidungen zeigen sich auch historisch in der strategischen Zusammenarbeit mit deutschen Nationalsozialist*innen. Unterstützer*innen der pantürkistischen Bewegung sammelten sich hinter der Forderung nach dem Einzug in den Zweiten Weltkrieg auf der Seite Nazi-Deutschlands und für die Etablierung von NS-Gedankengut in der Türkei. Die politische Arbeit der MHP konzentrierte sich zu Beginn ihrer Existenz auf den Aufbau von Kommandoeinheiten, die im Straßenkampf gegen politische Gegner*innen vorgingen und die sich nicht zufällig an den Organisationsstrukturen der SS orientierten. Und es ist auch schon vorgekommen, dass Aktivist*innen von der Partei »Die Rechte« auf einer Demonstration der Grauen Wölfe gesichtet wurden.

Wo sehen Sie Unterschiede?

Unterschiede bestehen vor allem in Bezug auf die historische Herleitung und Verortung der türkischen Nation. Während sich Teile der deutschen Rechten nach dem Zweiten Weltkrieg vermeintlich vom Nationalsozialismus distanzierten, gab es für die türkische Rechte keinen Anlass, dies auch zu tun. Dies ist zumindest eine Erklärung dafür, weshalb der Nationalismus in der Türkei eine ganz andere Normalität und Selbstverständlichkeit als in Deutschland darstellt.

Ein weiterer Unterschied ist die Rolle der Frauen in den Verbänden: Das Bild der vermeintlich apolitischen und friedfertigen Frau in der deutschen rechtsextremen Szene wird in Wissenschaft und politischer Bildungsarbeit langsam revidiert. Vor allem im Vergleich dazu wird die Unsichtbarkeit von Frauen im türkischen Rechtsextremismus bzw. die Unfähigkeit sie überhaupt als politische Subjekte wahrzunehmen noch einmal deutlich.

So nehmen Frauen in der deutschen Rechten tatsächlich eine größere Rolle ein und bekleiden auch öfter Funktionärsposten, da die Anpassungsleistung an eine sich wandelnde Gesellschaft früher strategisch aufgegriffen wurde. Dennoch gibt es auch bei den Grauen Wölfen immer wieder Momente, in denen die ultranationalistischen Frauen aus den konservativen Geschlechterrollen ausbrechen. Sichtbar wird dies vor allem auf Demonstrationen, wo Frauen z.B. laut und aggressiv ihren Hass gegen Kurd*innen äußern. Dieser Hass und die Bereitschaft zur Militanz sind vorhanden, speisen sich aus den Selbstpositionierungen der Frauen und sind damit Grundlage ihres politischen Handelns, das sich auch außerhalb strikter Vereinsaktivitäten abspielen kann.

Ideologisch gibt es auch zwischen Rechtsextremismus und Islamismus Parallelen. Welche Bedeutung spielen religiöse Argumentationen und Wertvorstellungen in der Ideologie und speziell den Rollenbildern der Grauen Wölfe?

Der Islam spielt für den türkischen Ultranationalismus zwar eine große aber dennoch umstrittene Rolle. Die Einbindung des Islams in die ultranationalistische Ideologie erfolgte erst ab den 70er Jahren durch die Entwicklung der Türkisch-Islamischen Synthese, die die Aufwertung des Islams zum Bestandteil der Parteiideologie zur Folge hatte. Die Türkei wird dabei gerne als das hegemoniale Zentrum der islamischen Welt dargestellt. Ziel dieser Synthese war eine neue türkische Identität, die die türkisch-nationalen mit den islamischen Elementen untrennbar verbindet. Dabei wird ein »idealer Türke« konstruiert, der nach moralischen und religiösen Prinzipien lebt, die ihre Ursprünge in der türkischen Geschichte und der Religion haben und die auch immer noch ihre Anwendung finden.

Erklären lässt sich dieser Wandel u.a. durch die konservativ-nationalistischen Regierungen der 60er und 70er Jahre, die eine Rückbesinnung auf konservative und religiöse Werte durchsetzten, was sich auch in einer neuen islamischen Staatsideologie äußerte. Gleichzeitig wurde der Islam seit den 50er Jahren als Schutz gegen den Kommunismus oder auch nicht-orthodoxe Muslime und somit als ein Element der nationalen Einheit betrachtet.

In den letzten Jahren verstärkt sich der Zuspruch, den der Islam in ultranationalistischen Kontexten erfährt. Die religiöse Einbettung kann zum einen den autoritären und patriarchalen Charakter der Ultranationalist*innen, die konservativen Familienwerte und den strikten Gehorsam gegenüber Autoritäten verstärken bzw. legitimieren und zum anderen weiteres Mobilisierungspotential von gläubigen Ultranationalist*innen sowie eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz der Partei ermöglichen. Die Verbände gehen damit auch den erwähnten religiösen Wandel mit, den die türkische Gesellschaft in den letzten Jahren erfahren hat. So wird von vereinzelten Vereinen oder Moscheeverbänden versucht, den Zugang zu ultranationalistischen Ideologien über die Freitagspredigten zu erleichtern. Die Frage nach der Einbindung des Islams hat aber immer wieder zu Abspaltungen innerhalb der Verbandsstrukturen geführt.

Die Mehrheit der von mir interviewten Frauen legte ein pragmatisches Verhältnis zum Islam an den Tag und orientierte sich somit an der Türkisch-Islamischen Synthese. So beschrieben sie sich durchaus als religiös, ordneten ihre Religionsausübung aber ihren alltäglichen Verpflichtungen unter. Lediglich eine Frau lehnte die Einbindung des Islams im Ultranationalismus absolut ab, auch da sie eine Verbindung zwischen der strukturellen Ausgrenzung von Frauen aus den Machtpositionen und dem in den Vereinen vorherrschenden, auch religiös begründeten, konservativen Frauenbild sieht.

Welche Rolle spielen wahrgenommene oder tatsächliche Diskriminierungs- und Ausschlusserfahrungen als Motiv der Hinwendung zu ultranationalistischen Ideologien?

Diskriminierungserfahrungen, strukturelle Ausgrenzung und die Verweigerung von Anerkennung durch die »deutsche Mehrheitsgesellschaft« haben vor allem für Heranwachsende tiefgreifende Folgen. Wie bereits angemerkt, nimmt dieser Erklärungsansatz über die Zuwendung zu ultranationalistischen Positionen jedoch eine große Dominanz innerhalb empirischer Studien über die Lebenswelten von Migrant*innen ein. Meiner Einschätzung nach führt dies zu einer Verfestigung von monokausalen und ahistorischen Erklärungsansätzen, die letztlich eine Viktimisierung ultranationalistischer Frauen zur Folge hat. Diese Perspektive vernachlässigt die Selbstverantwortung und Handlungspotentiale der Frauen, ebenso wie die historischen Dimensionen und Kontinuitäten des türkischen Ultranationalismus. Es handelt sich um eine verkürzte Perspektive, wenn lediglich die Konstruktion einer Binarität zwischen der »Mehrheits- und der Minderheitsgesellschaft« fokussiert wird. Es bedarf hier einer genauen Betrachtung der Ausdifferenzierungen innerhalb einer heterogenen Community.

Wie bewerten denn die Frauen selbst eventuelle Diskriminierungserfahrungen?

Es gibt bei den ultranationalistischen Frauen ganz unterschiedliche Einschätzungen bzgl. ihrer eigenen »Integration« und erlebten Diskriminierungserfahrungen. Aber auch was jeweils unter dem Begriff der Diskriminierung verstanden wird variiert. So erleben manche Frauen auch die Kritik der Türkei als Diskriminierung. Alle interviewten Frauen haben einen mittleren bis hohen Schulabschluss und zählen auch auf anderen Ebenen zunächst nicht zu den »Opfern« gesellschaftlicher Ausgrenzung. Und von Theorien über das politische Handeln wissen wir auch, dass es eben nicht die gesellschaftlich Ausgegrenzten sind, die sich politisch engagieren, um gezielt ihre Interessen zu vertreten. Denn die Wahrscheinlichkeit des politischen Handelns liegt in den jeweilig vorhandenen Ressourcen und Opportunitäten begründet, kombiniert mit den jeweiligen persönlichen Motiven.

Und wie positionieren sich die Grauen Wölfe zu diesen Fragen?

Seit der Abkehr von offen ausgetragenen Aggressionen in den 70er Jahren wird in Deutschland eine Doppelstrategie der Grauen Wölfe sichtbar. Nach außen hin zeigen sich die verschiedenen Vereine integrationsoffen und an einer »Völkerverständigung« interessiert. Schnell kann diese »Erinnerungspflege« in eine aggressive Verteidigungshaltung umschlagen, wenn die nationale Identität in Bedrohung zu geraten scheint – denn aus den Selbstaufwertungen durch die nationale Zugehörigkeit lassen sich Dominanzansprüche und Abwertungen anderer Gruppen oder Kritiker*innen ableiten. Diese stehen allerdings in einem Widerspruch zu den offiziellen Verlautbarungen der ultranationalistischen Vereine und können daher nicht offen artikuliert werden.

Nach innen mobilisieren die Verbände zunächst mit abwechslungsreichen Freizeitangeboten für Jugendliche und einem attraktiven Gemeinschaftsgefühl. Dahinter kommt die aggressive ultranationalistische Ideologie zum Vorschein, die z.B. in Wochenendseminaren vermittelt wird. Neben den ideologischen Schulungen werden in Seminaren aber auch Strategien der Öffentlichkeitsarbeit vermittelt. Die heutigen Vereine zeigen ein weites Aktionsfeld von Vereinsarbeit und Internetpräsenz und somit auch die Bereitschaft zur Anpassung an die durchaus modernen Lebenswelten ihrer Zielgruppen. Im Zentrum steht jedoch die Vermittlung ultranationalistischer Ideologie.

Der türkische Rechtsextremismus arbeitet mit starken Feinbildern; so werden z.B. Juden, Christen, Armenier und Aleviten systematisch abgewertet. Wie vereinbaren die von Ihnen interviewten Frauen diese Feindbilder mit ihrem Leben in einer pluralen Gesellschaft? Wo finden sich Widersprüche oder Konflikte?

Zunächst wird die offensive Verteidigungshaltung von ultranationalistischen Überzeugungen und deren Symboliken deutlich. Diese ist notwendig, um den positiven aber dennoch brüchigen Bezug der eigenen Identität auf die türkische Nation aufrechtzuerhalten. Diese Identität wird vielfältig angegriffen und zur Abwehr werden miteinander verwobene Strategien der Relativierung, Überhöhung, Verdrängung und Externalisierung sichtbar. Durch diese Strategien versuchen die Frauen die Deutungshoheit über die Begriffe zurückzuerlangen.

So kommt es zu einer Relativierung ultranationalistischer Positionen durch die Verbreitung eines allgemeinen Gleichheitspostulats. Es wird beständig und ausnahmslos die Gleichwertigkeit aller Menschen, Kulturen, Religionen und Nationen betont. Diese Gleichwertigkeit, konstruiert als ein friedliches Nebeneinander von geschlossenen Entitäten, ist so lange artikulierbar, bis es eine Bedrohung der türkischen Homogenität darstellt. Auch eine Entpolitisierung ultranationalistischer Symboliken zählt zu den Relativierungsstrategien, ebenso wie der Verweis auf die deutsche Geschichte oder deutsche Neonazis. Im Sinne des Europäischen Türkentums wird der Ultranationalismus zur Kulturpflege kleingeredet.

Bezogen auf die Existenz offensichtlich rassistischer oder antisemitischer Vereinsmitglieder, die eine Gefahr für den interkulturellen Ruf der Verbände darstellen könnten, sind auch Strategien der Distanzierung und Externalisierung sichtbar. So handele es sich um »die Älteren«, »fehlende Bildung« oder schlichtweg »Idioten, die das übertreiben«.

Ebenfalls verbreitet ist eine komplette Schuldumkehr und Lossagung von Verantwortung, die verschwörungstheoretische Züge annehmen. So seien vor allem die (deutschen) Medien und die Bundesregierung Schuld an dem existierenden Hass gegenüber der türkischen Bevölkerung in Deutschland, da sie wissentlich Unwahrheiten verbreiteten. Daran anknüpfend wird dann die Zuwendung zu ultranationalistischen Ideologien einzelner Vereinsmitglieder als logische Konsequenz gerechtfertigt und somit jegliche Eigenverantwortung abgegeben.

Welche Schlüsse ziehen Sie aus ihrer Forschung für die Bildungs- oder Jugendarbeit? Welche Angebote wären aus ihrer Sicht sinnvoll? Wie kann präventives Arbeiten mit Jugendlichen aussehen, ohne zu pauschalisieren und Rassismus zu schüren?

Zunächst ist es wichtig, ein Problembewusstsein in Bildung, Politik und Wissenschaft zu schaffen und die inhaltlichen Positionen der Ultranationalist*innen ernst zu nehmen. Grundsätzlich sollte es bei der Auseinandersetzung mit dem türkischen Ultranationalismus, wie mit allen anderen menschenverachtenden Einstellungen auch, aber vor allem darum gehen, die Ursachen zu analysieren.

In diesem Kontext halte ich es für ausgesprochen wichtig, dass Jugendlichen die Entwicklung von alternativen Identitätskonzepten, die fernab von nationalen Identitätszuschreibungen verlaufen können, angeboten wird. Dazu zählt ganz grundsätzlich eine Wertevermittlung des solidarischen Miteinanders und der Wertschätzung, die auch vielfältige Identitätskonzepte und somit auch Ausprobieren und Abweichung zulässt. Zusammen mit den Jugendlichen, die von Diskriminierung betroffen sind, lassen sich Empowerment-Strategien entwickeln, die ohne die Abwertung anderer Gruppen auskommen.

Auf dieser Basis lässt sich vielfältig mit Jugendlichen arbeiten. Konkret könnte man im Geschichtsunterricht auf die Entstehungsgeschichte der Türkischen Republik eingehen, auf die Ideologie der Jungtürken oder die Zusammenarbeit der Türkei mit Nazi-Deutschland. Dies muss nicht konfrontativ stattfinden, sondern kann für die Jugendlichen alternative Narrative zu den idealisierten Kriegsgeschichten bieten, die in den Familien und Vereinen vermittelt werden. Auch die Befähigung zu einem kritischen Medienkonsum ist in diesem Kontext wichtig. Die Unterscheidungsfähigkeit von Fake-News und Realität ist nicht zu unterschätzen. Dazu zählt auch die Befähigung zu eigenständiger Recherche und letztlich zum eigenständigen, kritischen Denken. Denn nur auf dieser Basis kann eine Abgrenzung zu den aus dem Elternhaus vermittelten, menschenverachtenden Werten und eine Kritik an der männlichen Hegemonie gelingen.

Zuletzt möchte ich noch einmal betonen, dass man den türkischen Extremismus nicht verharmlosen oder relativieren sollte oder die Täter*innen zu Opfern der gesellschaftlichen Verhältnisse macht. Denn diese Perspektive negiert die Handlungsmacht der politischen Subjekte und überbetont die strukturellen Begrenzungen der möglichen Handlungsräume.

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