Prävention in der Praxis – Was motiviert Fachkräfte, sich im Thema weiter zu qualifizieren?
7. Juni 2017 | Radikalisierung und Prävention

Radikalisierungsprävention – wen geht das etwas an? Warum sollten sich zum Beispiel Jugendämter, Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter/-innen oder Betreuer/-innen in Flüchtlingsunterkünften damit beschäftigen? Der Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb hat dazu Fachkräfte befragt, die im Frühjahr an der Fortbildung „Neosalafismus – Prävention in den Handlungsfeldern politische Bildung, Schule, Jugendhilfe und Gemeinde“ teilgenommen haben. Die Fortbildung wurde von der bpb zusammen mit der Agentur für partizipative Integration (API gUG) und ufuq.de an insgesamt vier Wochenenden in Nürnberg durchgeführt. 

 

Hermann Gabel, Leiter Amt Jugend und Familie – Sozialpädagogische Dienste, Landkreis Würzburg

Warum haben Sie sich für eine Teilnahme an der Fortbildung entschieden?
Unmittelbar nach dem Axtattentat durch einen unbegleiteten Flüchtling im Juli 2016 in Würzburg habe ich nach Möglichkeiten gesucht, wie man solche Vorfälle präventiv verhindern kann. Mich hat erschrocken, dass bei diesem Mann vorab überhaupt keine Anzeichen einer Radikalisierung erkennbar gewesen waren. Das haben alle Betreuungsinstitutionen und Kooperationspartner, die mit ihm zu tun hatten, bestätigt. Gemeinsam mit der Stadt Würzburg möchte das Jugendamt daher nun ein Netzwerk aufbauen, das sich mit der Prävention von salafistischer Radikalisierung beschäftigt. Von der Fortbildung habe ich mir Impulse für das Konzept versprochen.

Was hat Ihnen die Fortbildung gebracht?
Dieses Thema muss noch von Pionieren ausgestaltet werden, man kann nicht einfach in ein Buch schauen. Das Konzept für das Netzwerk hat durch die Fortbildung weiter Gestalt angenommen. Mit dem Thema haben ja ganz unterschiedliche Institutionen und Akteure zu tun. Das hat sich in der Gruppe der Teilnehmenden widergespiegelt und einen Austausch auf hohem Niveau ermöglicht, bei dem man den Blick der anderen kennenlernen konnte. Gleichzeitig war das Seminar sehr herausfordernd, weil durch die Referenten in kurzer Zeit viel Wissen vermittelt wurde.

Wie geht es bei Ihnen nun weiter?
Unser Netzwerk soll zwei Koordinationsstellen beinhalten, die aufklären – in den Bereichen Schule, Jugendarbeit sowie Flüchtlingsstrukturen und -unterkünfte. Außerdem möchten wir Bildungsträger integrieren. Eine Herausforderung dabei ist, das alles in einem Flächenlandkreis zu organisieren. Denn die Radikalisierung findet häufig auf dem Land statt und wir dürfen daher nicht alles auf die Städte konzentrieren. Wir möchten das Thema öffentlich machen und es soll vom Bayerischen Sozialministerium gefördert werden. Aktuell befinden wir uns in der Bewilligungsphase. Wenn alles klappt, geht es im Mai 2017 los und läuft bis 2019.

Joachim Ruopp, Pädagogisch-theologisches Zentrum der evangelischen Landeskirche in Württemberg, Stuttgart

Was ist Ihr Tätigkeitsbereich?
Ich bin für die Aus- und Fortbildung von Lehrkräften für den Religionsunterricht zuständig, vor allem an beruflichen Schulen. An den beruflichen Schulen wird der Religionsunterricht in der Regel im Klassenverband erteilt, da sind die muslimischen Schülerinnen und Schüler dabei. Das bietet tolle Möglichkeiten für die interkulturelle Verständigung. Auch das Thema Toleranzverständigung ist dabei sehr wichtig.

Warum haben Sie sich für eine Teilnahme an der Fortbildung entschieden?
Der Umgang mit extremen religiösen Themen ist bei uns immer relevanter geworden. Zum Beispiel haben mich Schulleiter darauf angesprochen, wie es mit ultrakonservativen Muslimen aussieht. Viele Religionslehrer fragen konkret nach Grundbildung zum Thema Islam. Sie möchten wissen: Wie sieht muslimisches Leben heute aus? Welche Grundströmungen gibt es im Islam? In der klassischen Grundausbildung der evangelischen und katholischen Theologie sind das Themen, die nicht wirklich vorkommen.

Auch wenn man Schülerinnen und Schüler fragt, welche Fragen ihnen wichtig sind, wird die Begegnung der Religionen häufig sehr schnell genannt – insbesondere die Begegnung mit dem Islam. Das fing mit 9/11 an. Seitdem wird der Islam häufig in einem kritischen Licht gesehen und viele Probleme werden mit dem Islam verbunden.

Ich hoffe, mein durch die Fortbildung erlangtes Wissen weiterzugeben und für das Thema sensibilisieren zu können. Ich beschäftige mich übrigens mit verschiedenen Formen der religiösen Radikalisierung. Man darf nicht vergessen, dass es auch ultrakonservative Christen wie die Kreationisten gibt. Genauso gibt es radikale Konfessionslosigkeit.

Was hat Ihnen die Fortbildung gebracht?
Insbesondere die ersten beiden Module haben meine Erwartungen übererfüllt. Mein persönlicher Lerngewinn ist: Man kann das Gespräch zum Islam nicht suchen, ohne sich mit der Geschichte der Interaktion des Islams mit der westlichen Welt zu beschäftigen. Alle aktuellen Umstände haben ihre Gründe in der Geschichte – Stichwort Diskriminierungserfahrungen von Muslimen. Mich hat auch der Bericht über das Projekt „Ibrahim trifft Abraham“ beeindruckt. Das war so schulnah, so etwas müssten wir auch machen.

Was sind Ihre Ansätze für die Integration des Themas religiöse Radikalisierung in den Unterricht?
Wir sollten die Möglichkeiten für religiöse und politische Bildung nutzen, die wir haben. Jede Woche gibt es eine Stunde Religionsunterricht. Das sind 36 Stunden im Jahr und zwar drei Ausbildungsjahre lang. Es ist mir wichtig, dass wir die Nähe zwischen religiöser und politischer Bildung suchen. Man könnte beispielsweise Lehrerfortbildungen zu solchen Themen für Religions- und Politiklehrer gemeinsam anbieten und Kooperationen in Schulprojekten anstoßen. Häufig werden politische Konflikte religiös eingekleidet oder mit der Sprache der Religion ausgefochten. Wenn Jugendliche andere als ungläubig bezeichnen, drücken sie damit vor allem ihre Verdrossenheit und ihr gesellschaftliches Nichtangekommensein aus.

Auch unter den Relikollegen wird die Frage gestellt, ob sich der Islam radikalisiert oder ob die Radikalisierung islamisiert wird. Ich kann es aus praktischer Sicht nicht bestätigen, dass Jugendliche durch ihre Religion eine radikale Seite in sich entdecken. In der Regel wissen sie eher wenig über ihre Religion und bräuchten eine Grundbildung. Sie haben Mühe ein realistisches Gesamtbild des Islams zu zeichnen. Beim christlichen Religionsunterricht war es in der Vergangenheit im Übrigen oft auch so, dass die Schüler von zuhause eher fundamentalistische Gedanken mitgebracht haben, die in der Schule relativiert wurden. In Baden-Württemberg gibt es bereits bekenntnisorientierten Islamunterricht, aber nur in homöopathischen Dosen. Daher hat die interreligiöse Projektarbeit in Schulen so eine hohe Relevanz.

Susanne Simon-Schramm, Sozialarbeiterin und Jugendbildungsreferentin beim Jugendamt, Main-Kinzig-Kreis, Hessen

Warum haben Sie sich für eine Teilnahme an der Fortbildung entschieden?
Ich mache Bildungsprojekte mit Jugendlichen, beispielsweise zum Thema Gewaltprävention und zum Übergang zwischen Schule und Beruf. In diesem Job bin ich mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt, die mit Gewalt und Aggression konfrontiert sind und Äußerungen tätigen, die darauf schließen lassen, dass sie mit Extremismus zu tun haben – sei es Rechtsextremismus oder radikalisierter Islam. Darauf muss ich dann eingehen.

Ich habe einen ziemlich guten Einblick in die rechtsextreme Szene, die ist bei uns sehr verfestigt und breit gefächert. Ich beobachte sie seit langer Zeit und versuche präventiv tätig zu werden. Durch diese Auseinandersetzung bin ich über die ersten Hinweise gestolpert, dass sich auch eine radikale Szene des Islam angekündigt hat. In Hanau gibt es in dem Bereich zwei Gruppen, die vom Verfassungsschutz überprüft werden. Ich wollte lernen, an welchen Zeichen ich erkennen kann, ob es Radikalisierung, Extremismus und Gefährdungssituationen gibt oder ob es nur um orthodoxe Glaubensausübung geht. In der Fortbildung habe ich viel über konkrete Details der verschiedenen Glaubensrichtungen lernen können.

Welche Rolle spielt das Thema religiöse Radikalisierung in Schulen?
In Projekten mit unterschiedlichen Themen, wie dem Übergang zwischen Schule und Beruf ist es vorgekommen, dass es plötzlich Diskussionen in einer Klasse zwischen zwei muslimischen Mädchen gibt. Die eine, die strenggläubig-muslimisch ist, wirft der anderen, die in Deutschland sozialisiert wurde und sich westlich anzieht, vor: „Du kleidest dich unmuslimisch, du bist eine Schlampe.“ Daraus resultiert dann eine Diskussion in der Klasse, es bilden sich Teams und ein Konflikt entsteht. Ein anderes Beispiel ist, dass Mädchen plötzlich anfangen sich zu verhüllen, obwohl sie vor den Ferien noch Hotpants getragen und sich die Fingernägel lackiert haben. Dann kommen Aussagen wie: „Ich möchte so leben wie Mohammed es beschrieben hat.“ Vor einigen Jahren war es noch so, dass die Verhüllung mit Eintreten der Menstruation ein Thema wurde, inzwischen kommt das auch schon im Grundschulbereich vor.

Was hat Ihnen die Fortbildung gebracht?
Als Außenstehende waren viele Themen für mich vorher nicht differenzierbar. Mir waren auch die Bezüge Richtung Extremismus, wie die Entwicklungen der Taliban und des sogenannten IS, vorher nicht klar. Was sich bestätigt hat, ist meine Annahme, dass es bei der Akquirierung in der radikal islamistischen Szene ähnliche Strukturen gibt wie beim Rechtsextremismus: Musik, Medien und plakative Aussagen „für Dummies“. Es ist eine ähnliche Zielgruppe, die dafür empfänglich ist: Kinder und Jugendliche, die sich als am Rand der Gesellschaft empfinden, die sich selbst als Loser sehen, und die Ausgrenzung, Abwertung und Hilflosigkeit erlebt haben. Die sind empfänglich für Ideologien. Die Ursache dafür sind soziale Verwerfungen. Die Entscheidung, in welche Richtung sich jemand radikalisiert, hängt meiner Meinung nach vor allem damit zusammen, ob er zuerst einem Neonazi oder einem Salafisten begegnet.

Oliver Karl, Kurve e. V., Mobile Berufsschulsozialarbeit, Gewalt- und Suchtprävention an beruflichen Schulen in Freiburg

Warum haben Sie sich für eine Teilnahme an der Fortbildung entschieden?
Ich habe mich für die Fortbildung entschieden, weil das Thema Salafismus von Schulleiterseite und in den Lehrerkollegien Unsicherheit hervorgerufen hat. Es gab einige kleinere Fälle bei uns. Zum Beispiel hat ein Schüler in der Klassenarbeit auf die Frage „Was möchtest du werden?“ geschrieben: „Ich will in den Dschihad.“ Oder es gibt Konflikte, dass ein männlicher Schüler sich von einer Lehrerin nichts sagen lassen möchte und das dann religiös begründet. Vor allem herrscht Unsicherheit: Was ist eigentlich radikal und was nicht? Daher habe ich nach einer Fortbildung gesucht, durch die ich Fachwissen erlangen kann, um mein Aufgabenspektrum zu erweitern und auch den Kollegen und Kolleginnen gegenüber Legitimation zu erlangen.

Was hat Ihnen die Fortbildung gebracht?
Es war für mich sehr hilfreich, dass wir uns intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Auch wenn viele Inhalte für mich an sich nicht neu waren – zum Beispiel die Diskriminierung von Muslimen – war es gut, sich immer wieder konkret bewusst zu machen, was das mit Neosalafismus zu tun hat. Das finde ich super, weil es genau meinen Kern trifft. Eigentlich geht es darum zu überlegen: Was heißt professionelle pädagogische Haltung im Bereich Neosalafismus?

Wie geht es bei Ihnen nun weiter?
Ich möchte versuchen für die Schule ein Präventionskonzept auszuarbeiten. Dafür möchte ich auf Schulleitungsebene ein konkretes Konzept für den Umgang mit Radikalität entwickeln. Damit für alle klar ist, welche Angebote bestehen – etwa Workshops. Und was genau passiert in dem Fall, dass eine Lehrkraft den Verdacht hat, dass jemand gefährdet sein könnte. Außerdem soll es in dem Konzept beispielsweise darum gehen, ein Mehraugenprinzip zu etablieren und innerhalb eines Beratungsteams Fälle zu besprechen. Ich sehe es als meine Aufgabe an sicherzustellen, dass dieser Prozess strukturiert abläuft. Dafür habe ich bei der Fortbildung viele Anregungen erhalten.

Ramazan Yildirim, stellvertretender Geschäftsführer LeO e. V., Wegweiser in Duisburg

Wie ist LeO e. V. in Kontakt mit dem Thema Salafismus gekommen?
Aufgrund von Anfragen unserer Netzwerkpartner haben wir als LeO e. V. 2013 angefangen ehrenamtlich das Thema Salafismus zu bearbeiten. Kontaktbeamte für muslimische Institutionen hatten damals Anfragen von Schulen bekommen und sich an uns gewendet (Anmerkung der Redaktion: Kontaktbeamte für muslimische Institutionen (KMI) werden bei der Polizei in Nordrhein-Westfalen als Ansprechpartner für interkulturelle Angelegenheiten eingesetzt. Sie halten Kontakt zu muslimischen Institutionen und leisten Netzwerkarbeit.). Vor allem in Duisburg, aber auch in anliegenden Kommunen bestand hier Bedarf. Seit Anfang 2016 sind wir der Träger für das Landesprogramm des Innenministeriums in NRW „Wegweiser in Duisburg“.

Was hat Ihnen die Fortbildung gebracht?
Unsere Mitarbeiter, die Basisarbeit verrichten, besuchen regelmäßig Fortbildungen, um Handlungsalternativen und Strategien für unsere präventive Arbeit zu bekommen. Für uns war es interessant, mehr über die Institutionen, die zum radikalen Spektrum gehören, und ihre Verknüpfungen untereinander, zu erfahren. Die Historie von Al-Qaida oder der Hamas sind für unsere Arbeit relevant und sie sind als Vorreiter von Salafismus und Wahabismus wichtig. Auch die Indikatoren für die Radikalisierung junger Menschen wurden in der Fortbildung verbildlicht und das, was wir in der Beratung über die Biografien der Jugendlichen hören, wurde untermauert.

Dahlia Al Nakeeb, Amt für Wohnungswesen, Köln – Sozialer Dienst (bis 04/2017), Wegweiser Düsseldorf

Warum haben Sie sich für eine Teilnahme an der Fortbildung entschieden?
Ich war in Köln im Bereich Flüchtlingsunterbringungen tätig. Salafismus war da immer wieder mal ein Thema. Zum einen gab es Geflüchtete, die in Verdacht standen mit der Szene in Kontakt zu sein, und zum anderen fragwürdige Gruppierungen, die in den Einrichtungen Leute angesprochen haben. Ich kann nicht abschätzen, wie häufig sich die Verdachtsfälle bestätigt haben – in meiner Zuständigkeit ist es jedoch nie vorgekommen. Um das richtig beurteilen zu können, wollte ich lernen, was Salafismus überhaupt ist und welche Differenzierungen es gibt. Ich wollte wissen, wie ich mit dem Thema umgehen kann und an welche Netzwerke und Einrichtungen man sich wenden kann.

Was hat Ihnen die Fortbildung gebracht?
Nicht nur der Seminarinhalt an sich, sondern auch die informellen Gespräche waren sehr bereichernd. Der große Vorteil ist, dass es nicht nur ein oder zwei Vortragende gab, sondern mehrere Vortragende mit verschiedenen Hintergründen. Die mehrmonatige Dauer der Fortbildung hat dabei geholfen, in die Tiefe zu gehen. Gut fände ich den Austausch über die Fortbildung hinaus. Zum Beispiel bei einem weiteren Treffen in einem halben Jahr, bei dem man gemeinsam Fälle besprechen kann.

Illustration: Herausforderung Salafismus (Copyright bpb)

Der Artikel „Interviews: Die Rolle von Prävention in der Praxis“ ist erschienen auf der Website des Infodienstes Radikalisierungsprävention. Wir danken der Autorin und der bpb für ihr Einverständnis, diesen Artikel hier zu veröffentlichen.

Skip to content